Anlagenbau & Prozesstechnik

Die Geschichte der ISO/TC 209

Standardisierung in der Reinraumtechnik

02.10.2015 -

Der Weg zum international akzeptierten Standard: Die Geburtsstunde der ISO 14644-Reihe.

Obwohl schon relativ lange bekannt ist, dass Reinheit von großer Bedeutung zum Schutz von Mensch und Produkt sein kann, wurde der Einsatz und die Entwicklung der modernen Reinraumtechnik v. a. seit Beginn der 1960er Jahre vorangetrieben. Das erste moderne Reinraumkonzept mit turbulenzarmer Luftströmung, das der amerikanische Physiker Willis Whitfield im Jahre 1960 für seine Arbeit mit radioaktivem Material für Nuklearwaffen entwickelte, stellte hier einen wichtigen Meilenstein dar und fand schnell weitere Interessenten.
So wurde dieses Reinraumprinzip fester Bestandteil bei der Produktion von Halbleiterkomponenten, die damals unverzichtbarer Bestandteil beim „Wettlauf zum Mond“ für die U.S.-Raumfahrtbehörde NASA waren.  Mit dem Einsatz der häufig auch laminar bezeichneten Strömungsführung konnten höhere Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit solcher Mikroelektronikkomponenten erreicht werden [1].
Mit dem neuen Strömungskonzept und dem damit erreichbaren Luftreinheitsklassenspektrum, trat die Notwendigkeit zutage, die partikulären Luftreinheitsniveaus in einem Standard zu definieren. Dies geschah auf Initiative der Sandia Corporation, für die auch der Physiker Willis Whitfield arbeitete, sowie amerikanischer Regierungsbehörden, v.  a. dem Militär, die zunächst ein wichtiger Nutzer dieser Technologie waren. Im Jahre 1963 wurde schließlich der United States (U.S.) Federal Standard 209 (FS 209) veröffentlicht. Der ursprüngliche Titel lautete „Cleanroom and Workstation Requirements, Controlled Environments“, der bis 1992 fünfmal bis zur Versionsnummer 209E überarbeitet wurde [2].
In Ermangelung einer international gültigen Alternative, wurde dieser ursprünglich U.S.-amerikanische Standard, der nur für Unternehmen verpflichtend war, die für amerikanische Regierungsbehörden arbeiteten, auch weltweit in der Industrie akzeptiert und unverbindlich angewendet.
Im Jahr 1993 entschloss man sich dann dazu, da der Einsatz von Reinraumtechnik durch tech­no­logische Anforderungen global immer mehr Industriebereiche erreichte, die nächste Anpassung und Überarbeitung des Standards international, in einem technischen Komitee (englisch „Technical Committee“, kurz TC) der Internationalen Organisation für Normung (ISO) anzugehen. Passenderweise bekam das Technische Komitee dann auch die Nummer 209, mit dem Namen ”Cleanrooms and associated controlled environments“, in der sich fortan 21 Nationen, darunter neben den USA Länder wie Japan, die Schweiz und Deutschland, mit dem Thema Standardi­sierung im Bereich Reinraumtechnik beschäftigten.
Zunächst wurden die Inhalte des FS 209E in die zwei Regelwerke ISO 14644-1 (Classification of air cleanliness) und 14644-2 (Specifications for testing and monitoring to prove continued compliance with ISO 14644-1) überführt und dem technologischen Entwicklungsstand angepasst. Bspw. wurden bei dieser Anpassung die Luftreinheitsgrenzwerte auf das metrische Maß Kubikmenter umgerechnet und der Partikelgrößenkanal > 1,0 µm ergänzt. Des Weiteren wurden zwei neue Luftreinheitsklassen (ISO Klasse 1 und 2) definiert, die 10- bzw. 100-mal weniger luftgetragene Partikel pro Volumeneinheit als die Class 1 nach FS 209E zulassen – rein rechnerisch also den US FED Klassen 0,1 und 0,01 entsprechen würden. Auch neue Möglichkeiten der Partikelmesstechnik wurden berücksichtigt: Da die nun verfügbaren optischen Partikelzähler auch zuverlässiger bis zur Größe von 0,1 µm messen konnten, wurde diesen Größenkanälen im ISO-Standard eine größere Bedeutung beigemessen.
Im November 2001 hat dann schließlich das „Institute of Environmental Sciences and Technology“ (IEST), der Herausgeber des FS 209, auch offiziell den FS 209 zurückgezogen. Damit gab es zum ersten Mal einen weltweit gültigen, anerkannten und praktizierten Standard, der Reinräume, deren Luftreinheit sowie Qualifizierung regelte.

Status-Quo des ISO/TC 209
In zahlreichen Branchen ist seit Entwicklung der ersten Reinraumkonzepte der Einsatz von Reinraumtechnik nicht mehr wegzudenken, um die Anforderungen an Qualität, Langlebigkeit und Zuverlässigkeit aber auch deren prinzipielle Machbarkeit überhaupt zu gewährleisten. Die Reinraumtechnik hat sich deshalb zu einer Schlüsseltechnologie im Bereich Produktion entwickelt. Das Spektrum reicht von den klassischen Bereichen wie der Halbleiterproduktion, über Life-Science-Branchen bis hin zur Automobilindustrie (Abb. 1).
Um die technischen Herausforderungen der einzelnen Branchen mit Ihren reinheitskritischen Produkten erfüllen zu können, liefert die Reinraumtechnik, die erst einmal nur die partikulären, luftgetragenen Kontaminationen kontrolliert, die Grundvoraussetzung. Je nach Prozess können aber zusätzliche Aspekte im Reinraum zu kritischen Querkontaminationen für das Produkt führen (Abb. 2).
So ist bspw. für den Halbleiterbereich mittlerweile der größte Anteil des Kontaminationseinflusses auf die Produktqualität aufgrund von Automatisierungslösungen bei Fertigungsanlagen, und damit den in ihnen verbauten Werkstoffen, zurückzuführen (Abb. 3).
Auch sind nicht mehr nur Partikel für die Produktion von Halbleiterkomponenten als kritisch anzusehen: Durch Strukturbreiten von aktuell 14 nm werden molekulare Kontaminationen immer kritischer (Abb. 4).
Dieser Tatsache trägt auch das ISO/TC 209 Rechnung und arbeitet in mehreren Gruppen (sog. „Working Group“, kurz WG) an den aktuellen Fragestellungen, die Unternehmen mit kontaminationskritischen Produkten beschäftigen (Tabelle 1).

Neue Richtlinienblätter seit 1999
Wie aus Tabelle 2 zu entnehmen ist, handelt es sich bei den Teilen 1 und 2 der ISO 14644 noch hauptsächlich um die Übertragung des FS 209. Mit den neuen Standards in der 14644-Richtlinienfamilie sind mit Prüfverfahren (Teil 3), Planung, Ausführung und Erst-Inbetriebnahme (Teil 4), Betrieb (Teil 5),
Isolatoren und Minienvironments (Teil 7), Partikel auf Oberflächen (Teil 9) und chemischen Kontaminationen (Teil 8, Teil 10, Teil 15) neue reinheitstechnische Aspekte hinzugekommen. Speziell bei den chemischen Verunreinigungen wird weiter differenziert zwischen luftgetragenen (Teil 8), Oberflächen sedimentierten (Teil 10) und von Betriebsmitteln abgegebenen (Teil 15) Kontaminanten.
Aber auch sehr aktuelle Fragestellungen, wie die Beherrschung und Klassifizierung luftgetragener nanoskaliger Partikel (Teil 12) oder die Energieeffizienz von Reinräumen (Teil 16), werden aufgegriffen und finden mit deren Verabschiedung in den nächsten Jahren ihren Platz in dieser Richtlinienreihe (Tabelle 2).

Auf zwei Teile, die gerade kurz vor der finalen Veröffentlichungen stehen, sei noch einmal besonders hingewiesen:

  • Im Teil 13 der ISO 14644 wird auf Reinigung, quantitative und vergleichbare Bewertung von Reinigungsverfahren sowie die geeignete Auswahl und Definition von Reinigungsprozessen eingegangen. Ein Punkt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt, da häufig Kontaminationsquellen entweder nicht identifiziert oder vermieden werden können. In diesem Fall ist eine Zwischen- bzw. Endreinigung unausweichlich, um die geforderten Reinheitsspezifikationen erfüllen zu können. Bisher gibt es hierfür noch keine einheitliche Vorgehensweise zur Bewertung und damit zum gezielten Vergleich und zur Auswahl von Reinigungs­verfahren. Diese Lücke wird die ISO 14644-13 schließen.
  • Durch Automatisierungslösungen steigt die Bedeutung der Bewertung von Betriebsmitteln, die im Reinraum eingesetzt werden, um deren Kontamina­tionspotenzial und damit die Gefahren für eine Reinraumproduktion minimieren zu können. Auch hierzu gibt es bisher nur nationale Vorgehens­weisen, bspw. die VDI 2083 Blatt 9.1. Eine international einheitliche Vorgehensweise, die reproduzierbare und realitätsnahe Ergebnisse liefert, ist daher sinnvoll, um Equipment für den Reinraum gezielt auswählen zu können.

Diese Vorgehensweise zur Bewertung der partikulären Kontaminationseinflüsse wird in der ISO 14644-14 beschrieben. Um das chemische Kontaminationsverhalten von Fertigungsanlagen und Materialien zu bewerten, definiert wiederum die ISO 14644-15 Prüfvorgehensweisen und Bewertungs­algorithmen.

Quo Vadis ISO/TC 209?
Seit dem ersten Standard, der Reinräume klassifizierte, dem FS 209E, bis zur ISO/TC 209 hat sich einiges getan: Neben den luftgetragenen partikulären Kontaminationen (sog. „Airborne Cleanliness by Particle Concentration“ ACP), deren Kontrolle zu Beginn noch im Fokus stand, gibt es für reine Fertigungen mittlerweile weitere Aspekte, die betrachtet werden. Zunächst wurden die luftgetragenen Partikel um die Bewertung der sedimentierten Partikel auf Oberflächen erweitert (sog. „Surface Cleanliness by Particle Concentration“ SCP). Aber auch ganz andere Kontamination wurden die letzten Jahre relevant, bspw. im Halbleiterbereich die chemisch-molekularen Kontaminationen. Deshalb auch als logische Konsequenz die Erweiterung der ISO 14644 um die Teile ISO 14644-8, -10 und -15, die die Bewertung und Klassifizierung luftgetragener chemischer Kontaminationen (sog. „Airborne Cleanliness by Chemical concentration“ ACC), sedimentierter chemischer Kontaminationen (sog. „Surface Cleanliness by Chemical concentration“ SCC) und die Bewertung des Ausgasungsverhalten von Materialien, die im Reinraum bzw. in Fertigungsanlagen verwendet werden, umfassen.
Auch die Ursachen für Kontaminationsquellen ändern sich: Durch zunehmend zum Einsatz kommende Automatisierungslösungen in vielen Bereichen gehen von Fertigungsanlagen immer mehr Querkontaminationspotenziale aus.
Diesen Veränderungen trägt das ISO/TC 209 Rechnung und reagiert mit neuen Arbeitsgruppen, in denen international anerkannte Fachexperten die Themen auf dem aktuellen Stand der Technik diskutieren und mit Weitblick auch auf zukünftige Entwicklungen mit neuen Teilen der ISO 14644 und ISO 14698 reagieren werden.
Im ISO/TC 209 gibt es allerdings auch traditionelle Strömungen, die einen konservativen Ansatz verfolgen und die Richtlinie ISO 14644 wieder auf Ihren ursprünglichen Kern, die Klassifizierung der Luftreinheit von Reinräumen, wie im FS 209 geschehen, reduzieren wollen und produkt- und prozessspezifische Aspekte möglichst ganz aus dem Standardisierungsfokus der ISO 14644 heraushalten wollen. Die Mehrheit der Fachexperten trägt allerdings die aktuelle Entwicklung der Erweiterung der ISO 14644-Richtlinienfamilie in vollem Umfang mit. Nur so waren die von der Industrie eingeforderten technischen Weiterentwicklungen der letzten Jahre möglich.
Welchen Weg die weitere Entwicklung der Richtlinienfamilie 14644 nehmen wird, weist die Zukunft. Gegenwärtig reflektiert die ISO 14644 mit ihren Teilen die stetig steigenden reinheitstechnischen Anforderungen der Branche und muss dies auch in Zukunft gewährleisten, um weiterhin akzeptierter und praktizierter Standard für die Anwender der Reinheitstechnik zu bleiben. Die nächsten Beschlüsse dazu werden bereits während der nächsten Plenarsitzung des ISO/TC 209 im Oktober 2015 in Berlin gefasst.

Literatur
[1] William Whyte: Cleanroom Technology: Fundamentals of Design, Testing and Operation, 2. Auflage, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons, 2010.
[2] L. Gail, U. Gommel, H.-P. Hortig: Reinraumtechnik, 3. Auflage, Springer, Berlin, Heidelberg, 2012.
[3] U. Gommel, Verfahren zur Bestimmung der Reinraumtauglichkeit von Werkstoffpaarungen (engl. A method for determining the cleanroom suitability of material pairings), Jost-Jetter, Heimsheim 2006.

 

 

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