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Drug Targeting mit "intelligenten" Polymeren

Dr. Brigitte Skalsky im Interview

14.05.2012 -

Seit Anfang der 1950er Jahre wird bei Evonik an Filmüberzügen für Arzneimittel geforscht, welche die zielgerichtete Freisetzung von Wirkstoffen ermöglichen. 1954 kamen erstmals Polymere unter dem Markennamen Eudragit auf den Markt (s. auch neben stehenden Beitrag). Inzwischen gibt es 20 Varianten dieser Polymere, die in den unterschiedlichen Anwendungen zum Einsatz kommen.

Dr. Birgit Megges befragte Dr. Brigitte Skalsky, Director Global Marketing Services bei Evonik Pharma Polymers, zu den chemisch-technischen Unterschieden und der Weiterentwicklung der Eudragit-Polymere.

CHEManager: Frau Dr. Skalsky, wie unterscheiden sich die einzelnen Eudragit-Typen und in welchen Anwendungsgebieten kommen sie zum Einsatz?

Brigitte Skalsky: Eudragit-Polymere sind Copolymere aus Derivaten der Acryl- und Methacrylsäure, deren Anwendungsgebiete im Wesentlichen durch funktionelle Gruppen bestimmt werden. Sie sind als wässrige Dispersion, organische Lösung, Granulat und Pulver erhältlich.

Man unterscheidet grundsätzlich zwei Typen: Auf der einen Seite gibt es die Poly(meth)acrylate, die pH-abhängig durch Salzbildung in den Verdauungssäften löslich sind. Sie ermöglichen aufgrund ihrer sauren oder basischen funktionellen Gruppen eine pH-abhängige Freisetzung des Wirkstoffes. Ihre Anwendungen reichen von einfacher Geschmacksmaskierung über Magensaftresistenz bis hin zu kontrolliert verzögerter Arzneistofffreigabe in allen Darmabschnitten.

Auf der anderen Seite gibt es Poly(meth)acrylate, die in den Verdauungssäften unlöslich sind. Diese Polymere ermöglichen durch pH-unabhängige Quellung eine zeitgesteuerte Freisetzung des Wirkstoffs. Hauptanwendungsgebiet sind Retard-Formulierungen. Durch Kombination verschiedener Eudragit-Polymere und Nutzung der verschiedenen Polymerfunktionalitäten können darüber hinaus Freisetzungssysteme mit individuell gesteuerter Wirkstofffreigabe designt werden, die optimierte Plasmaspiegel im Körper ermöglichen und damit wesentlich zu einem höheren Therapieerfolg beitragen.

Wie werden die Poly(meth)acrylate hergestellt?

Brigitte Skalsky: Anders als Zellstoffderivate aus natürlichen Rohstoffen, die sich je nach Rohstoffquelle hinsichtlich ihrer physikalisch-chemischen Eigenschaften unterscheiden, werden Poly(meth)acrylate durch radikalische Polymerisation hergestellt.

Dabei werden durch Kettenwachstumsreaktionen aus verschiedenen niedermolekularen Einheiten lange Polymerketten gebildet. Der Einbau der Monomere in die Kette erfolgt dabei statistisch. Solche Polymerisationen können als Lösungs-, Substanz-, Suspensions- oder Emulsionspolymerisation durchgeführt werden.

Die funktionellen und physikalischen Eigenschaften der Copolymere hängen im Wesentlichen von den gewählten Monomeren und deren Anteilen im Polymer ab.

Während die funktionellen Eigenschaften, wie das Löslichkeitsprofil, vorrangig durch die funktionellen Monomere bestimmt werden, tragen die - meist in größeren Mengen eingesetzten - nicht-funktionellen Monomere hauptsächlich zu den physikalischen Polymereigenschaften bei.

Wie werden die Eigenschaften der Polymere verändert? Können Sie das kurz anhand von Beispielen erläutern?

Brigitte Skalsky: Für magensaftresistente Anwendungen sind verschiedene anionische Eudragit-Polymere erhältlich, deren Carboxylgruppen als funktionelle Einheiten fungieren. Wenn der entsprechende pH-Wert im Gastrointestinaltrakt erreicht ist, lösen sich die Polymere durch Salzbildung auf, so dass der Wirkstoff dann freigesetzt wird. Zur individuellen Einstellung des Auflöse-pH-Werts eines Filmüberzugs können verschiedene Eudragit-Typen miteinander kombiniert werden.

Vielleicht noch ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Retard-Arzneimittel: Bei der Entwicklung dieser Formulierungen müssen die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Wirkstoffs noch stärker berücksichtigt werden als bei sofortiger Wirkstofffreigabe. Eine kontrollierte Freisetzung des Wirkstoffs kann bei peroralen Darreichungsformen auf unterschiedliche Weise mit Poly(meth)acrylaten erreicht werden:

Ein wichtiges Grundprinzip zur kontrollierten Freisetzung ist der Einsatz von diffusionskontrollierenden Membranen. Eudragit RL und Eudragit RS haben z. B. quartäre Ammoniumgruppen mit Chlorid-Gegenionen als funktionellen Einheiten. Diese hydrophilen Gruppen steuern Wasseraufnahme, Quellungsgrad und damit die Permeabilität der Überzüge. Beim Kontakt der Darreichungsform mit den Verdauungssäften wird der Wirkstoff durch das Wasser, das in den Kern eindringt, gelöst und diffundiert dann durch die intakte Polymermembran mit eingestellter Permeabilität.

So wird eine zeitlich kontrollierte Wirkstofffreisetzung erreicht. Insbesondere für innovative Arzneimittel oder modernes Life Cycle Management besteht immer mehr Bedarf an spezifischen Freisetzungsprofilen. Aufgrund unserer jahrzehntelangen Erfahrung in der Entwicklung entsprechender Formulierungen wird unser Entwicklungsservice in der Pharmaindustrie hoch geschätzt und weltweit nachgefragt.

Wie wird Eudragit auf die jeweilige Darreichungsform aufgebracht?

Brigitte Skalsky: Die am weitesten verbreitete Anwendung ist das Befilmen von Arzneiformen. Dies wird sowohl für multipartikuläre (z. B. Pellets, Granulate) als auch für monolithische Arzneiformen (z. B. Tabletten, Kapseln) angewandt. Das Partikelcoating wird in Wirbelschichtgeräten, vorzugsweise im Bottom Spray-Verfahren durchgeführt; das Tablettencoating in perforierten Trommelcoatern.

Dazu wird das Polymer mit den anderen Rezepturbestandteilen, wie beispielsweise Weichmachern oder Antiklebemitteln zu Sprühsuspensionen formuliert. Meist arbeitet man heute mit wässrigen Systemen. In einigen Ländern - oder bei speziellen Anwendungen - werden jedoch weiterhin organische Lösungen eingesetzt. Die Schichtdicken der Filme liegen je nach Anwendung in der Regel zwischen 10 und 70 µm.

Für die Herstellung von Matrixtabletten können die Polymere entweder als Pulver, wässrige Dispersion oder Lösung verarbeitet werden. Eudragit wirkt hier als Gerüstbildner und gleichzeitig als Bindemittel. Die Verarbeitung erfolgt durch Direktverpressung oder mittels Granulation mit anschließender Verpressung.

Evonik arbeitet zudem seit über zehn Jahren auf dem innovativen Gebiet der pharmazeutischen Schmelzextrusion. Hauptanwendungen dieser Technologie sind die Bioverfügbarkeitsverbesserung von schwerlöslichen Arzneistoffen sowie Retardierung und Geschmacksmaskierung. Die Eudragit-Polymere sind aufgrund ihrer thermostabilen und thermoplastischen Eigenschaften sowie wegen ihrer stabilisierenden Wirkung sehr gut für diese Technologie geeignet. In Schmelzextrudern werden die Polymere sowie der Wirkstoff und gegebenenfalls weitere Hilfsstoffe nach für die jeweilige Rezeptur eingestelltem Temperaturprofil geschmolzen und zu Einbettungen (solid solutions/solid dispersions) verarbeitet.

Welche Entwicklungen sind im Bereich der Eudragit-Produktgruppe zu erwarten?

Brigitte Skalsky: Wir arbeiten kontinuierlich an innovativen Lösungen. Dazu gehören neben neuen Polymeren auch innovative Anwendungen und Technologien sowie die Bereitstellung entsprechender F&E-Services. Für den Erfolg moderner Therapien ist die gezielte Steuerung der Wirkstofffreisetzung ein wesentliches Kriterium. In den letzten Jahren haben wir unsere Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet systematisch ausgebaut und unter anderem Formulierungsplattformen zu drängenden pharmazeutischen Problemstellungen entwickelt.

Als Beispiele möchte ich hier die Bioverfügbarkeitsverbesserung schwer löslicher Arzneistoffe oder alkoholresistente Arzneimittel nennen. Das jüngste Beispiel ist unsere Modular Drug Delivery Technologie, welche auf Eudragit-Basis die Formulierung von Wirkstoffen mit geringer Bioverfügbarkeit zu oralen Darreichungsformen ermöglicht, das schließt innovative synthetische Wirkstoffe (New Chemical Entities - NCEs) genauso ein wie Biopharmazeutika.

Da die Anforderungen an neue Arzneimittel heute oftmals wesentlich spezifischer sind als in der Vergangenheit, bieten wir unseren Kunden auch die Entwicklung von maßgeschneiderten Polymeren an.

Daneben haben wir 2011 unsere Produktpalette um PLG-Polymere, die Co-Polymere der Milch- und Glykolsäure umfassen, unter den Markennamen Resomer und Lakeshore Biomaterials erweitert und entsprechende Anwendungsexpertise akquiriert. Damit haben wir unser Lösungsangebot für innovative zukunftsweisende Formulierungen im Bereich Controlled Release von oralen Anwendungen auf parenterale Formulierungen erweitert. Wie bei Eudragit bieten wir auch hier unseren Kunden unsere Formulierungsexpertise global als Service an. Wir sind nun noch breiter aufgestellt, und unsere Innovationspipeline ist gut gefüllt.

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