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Gute Industriepolitik ist Klimaschutz

Die Grünen und der VCI im Dialog über Wege in eine CO2-neutrale Wirtschaft

09.04.2019 -

Was kann nationale Industriepolitik zum Klimaschutz beitragen? Wo ist die Innovationskraft deutscher Chemieunternehmen gefragt? Und welche Rolle spielen dabei die Bundeskanzlerin und eine steuerliche Forschungsförderung? Zu diesen Fragen diskutierten Kerstin Andreae, Mitglied des Bundestags und Sprecherin für Wirtschaftspolitik der grünen Bundestagsfraktion, und Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Mitte März in Berlin. Das Gespräch moderierte Andrea Gruß.

CHEManager: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier veröffentlichte im Februar eine „Nationale Industriestrategie“, strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik. Verfolgt er mit seinen Ansätzen den richtigen Weg? Was macht eine gute Industriepolitik aus?

Kerstin Andreae: Zunächst einmal ist es positiv, dass wir überhaupt über Industriepolitik reden. Der Begriff war lange Zeit verpönt. „Der Markt wird es schon richten“ war das Leitbild unserer Wirtschaftspolitik und eine Strategie dahinter nie wirklich erkennbar.  Gute Industriepolitik heißt für uns, einen Rahmen mit ökologischen und sozialen Leitplanken zu setzen, innerhalb dessen die Akteure Marktkräfte nutzen können und in dem Wettbewerb stattfindet. Die Dia­gnose Peter Altmaiers, dass die Europäische Union aufgrund der protektionistischen Handelsstra­tegien Chinas und der USA ein starker Akteur am Weltmarkt sein muss, ist richtig. Doch die Industriestrategie, die er vorgelegt hat, findet nicht die richtigen Antworten. 27 nationale Industriestrategien mit ein „bisschen“ Europa nützen uns nicht. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Industriestrategie.

Utz Tillmann: Auch wir begrüßen es, dass durch den Beitrag von Herrn Altmaier eine Diskussion zur Industriepolitik entstanden ist – ein Thema, das lange Zeit nicht auf der Top-Agenda der Bundesregierung stand. Ziel darf jedoch keine nationale Strategie sein. Eine Industriestrategie muss breit aufgestellt sein und Europa mitdenken.  Gute Industriepolitik muss aus unserer Sicht Standortbedingungen beschreiben, die wettbewerbsfähige Industrieaktivitäten erlauben. Dazu zählen Infrastruktur, Energiepolitik und Bildung. Es geht aber auch darum, wie man das Thema zirkuläre Wirtschaft richtig angeht und vernünftige Lösungen für den Klimaschutz findet. Die deutsche Chemieindustrie wünscht sich dabei Unterstützung – keine Vergünstigungen, sondern Rahmenbedingungen, die ihr helfen, ihre Produkte vor Ort zu produzieren und international wettbewerbsfähig zu sein.

K. Andreae: Wie alle Branchen muss aber auch die Industrie den Anforderungen von Klima- und Umweltfragen in einer globalisierten Welt gerecht werden. Eine gute Indus­triepolitik holt daher die Ökologie ins Zentrum der Ökonomie. Sie findet Lösungen, damit unsere Industrie wettbewerbs- und zukunftsfähig bleibt und dabei gleichzeitig dem Kampf gegen die Klimakrise und umweltpolitischen Herausforderungen gerecht wird.  Es trifft aus meiner Sicht nicht zu, dass die Chemieindustrie, wie Sie, Herr Tillmann, sagen, keine Unterstützung erhält. Die Branche erhält hohe Vergünstigungen beim Zertifikate-Handel und zudem wurden energieintensive Unternehmen bereits unter Rot-Grün von der EEG-Umlage befreit.    U. Tillmann: Es ist richtig, dass wir beim Emission Trade System und beim Erneuerbare-Energien-Gesetz bestimmte Entlastungen bekommen. Das ist die Grundlage dafür, dass wir heute noch wettbewerbsfähig sind. Und dennoch sind Subventionen nicht das primäre Ziel der Chemie­industrie. Rahmenbedingungen sollten vielmehr so gestaltet sein, dass man auf Entlastungen oder Ausnahmeregelungen verzichten kann.

Mit dem Klimaschutz und der Energiewende sprechen Sie zwei zen­trale industriepolitische Themen an, die eng miteinander verknüpft sind. Was kann die Chemiebranche dazu beitragen, das wir die nationalen Klimaschutzziele erreichen?

U. Tillmann: Im Grunde genommen gibt es drei Stellschrauben, an denen wir drehen können. Das eine ist die Emissionsminderung bei den Prozessen, das heißt, eine Reduktion des CO2-Ausstoßes der Produktionsanlagen. Der zweite Punkt ist der Ersatz fossiler Rohstoffe wie Öl oder Gas durch alternative Rohstoffe. Und der dritte Ansatzpunkt sind unsere Produkte selbst, die dazu eingesetzt werden können, CO2-Emissionen einzusparen.  Wenn wir allerdings alle unsere Produkte aus CO2 und regenerativem Wasserstoff herstellen würden, was theoretisch möglich wäre, hätte die deutsche Chemieindustrie einen Bedarf an erneuerbarem Strom von ungefähr 750 TWh. Das entspricht in etwa dem Strombedarf der gesamten Bundesrepublik. Genau hier liegt die Herausforderung. Deshalb ist die Umstellung volkswirtschaftlich so teuer und deshalb benötigen wir mehr Zeit.    K. Andreae: Ich finde es positiv, dass die Industrie das Thema aufgreift. Bei meinem Besuch der BASF im Februar haben wir darüber diskutiert, dass jetzige Produktionsverfahren prozessbedingt zu CO2-Emissionen führen und man sie nicht mehr effi­zienter gestalten kann. Um CO2-neu­tral zu werden, braucht die Chemie­industrie also neue Produktionstechniken und mehr regenerative Energien. Dieser Umbau beginnt auch in anderen Branchen, so gehen einige Unternehmen in der Stahlindustrie hier voran. Wenn der Energiebedarf steigt, weil CO2-frei produziert wird, bedeutet das, dass wir die erneuerbaren Energien in Deutschland massiv ausbauen und darüber hinaus weitere Lösungen finden müssen.

Wie lässt sich dieser Umbau finanzieren?

K. Andreae: Unsere Wunschvorstellung wäre ein internationaler CO2-Preis, über den die alte Stromwelt die neue Stromwelt finanziert. Wir bräuchten einen sicher kalkulierbaren Preis für CO2, der sukzessive steigt, so dass wir vom Abgabensystem des EEGs wegkommen. Die generierten Mittel müssten dazu verwandt werden, Umstellungsprozesse im Produktionsablauf zu unterstützen. Das wären Anschubfinanzierungen, aus denen Leuchtturmprojekte hervorgehen können.  Wir wissen, dass ein internationaler CO2-Mindestpreis mit den aktuellen Akteuren utopisch ist. Dennoch dürfen wir nicht stehen bleiben und sollten darüber nachdenken, wie wir dies in Europa auf den Weg bringen. Es gibt viele Länder in Europa, darunter etwa Frankreich, die einen CO2-Mindestpreis forcieren oder ihn schon haben. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass wir mit der nächsten EU-Kommission über einen europäischen CO2-Mindestpreis im ETS sprechen. Die große Herausforderung, vor der wir noch stehen, ist der Grenzausgleich bei Exporten sowie bei Importen aus dem außereuropäischen Ausland – dahinter steht etwa die Frage, wie wir mit dem billigen Stahl aus China umgehen. Mein Appell an dieser Stelle ist, nicht zu resignieren. Wir dürfen nicht sagen, dass wir es gar nicht machen, wenn es nicht international geht.   U. Tillmann: Wichtig ist uns, dass Emissionshandel und CO2-Preis nicht vermischt werden. Industrien, die unter das ETS fallen, dürfen nicht zusätzlich mit einem CO2-Preis belastet werden. Der Emissionshandel ist ein klares und funktionierendes System, das bis 2030 als Gesetz fortgeschrieben ist. Wenn wir ihn weiterlaufen lassen bis 2050, dann erreichen wir damit die Reduktionsziele von Paris für alle energie­intensiven Industrien, die dem Emissionshandel unterliegen.

Das deckt ungefähr die Hälfte der Emissionen in der EU ab. Die Frage ist: Wie geht man mit dem Non-ETS-Bereich um?   K. Andreae: Für die Bereiche Verkehr, Landwirtschaft, Gebäude und auch darüber hinaus werden wir über eine CO2-Bepreisung nachdenken müssen. Diese sollte nicht in den Staatssäckel fließen, sondern EEG-Umlage und Stromsteuer senken und damit Unternehmen bei den Stromkosten entlasten und außerdem zur sozialen Abfederung dienen. Ich bin jedoch äußerst skeptisch, dass wir die Ziele für das Jahr 2050 erreichen werden, wenn wir den Emissionshandel einfach weiterlaufen lassen wie bisher. Bei der Einsparung von CO2-Emissionen half Deutschland im Jahr 2018 ein vergleichsweise milder Winter – nachhaltige Einsparungen dank einer engagierten Klimapolitik haben wir kaum verbucht. Der Emissionshandel muss daher eine deutlichere Lenkungswirkung entfalten, dabei geht der CO2-Mindestpreis nicht on Top sondern bildet eine kalkulierbare Untergrenze, die Anreize und Sicherheit für nachhaltige Investi­tionen setzt. Das derzeitige Reduktionstempo reicht nicht aus.

U. Tillmann: Diese Einschätzung kann ich nicht nachvollziehen: Der EU-Emissionshandel funktioniert besser als jedes andere klimapolitische Instrument. Das System hat bisher seine gesetzten Reduktionsziele sogar übererfüllt.
Eine CO2-Besteuerung alleine wird den Klimawandel nicht stoppen. Hierzu bedarf es, wie eingangs erwähnt, vor allem technologischer Innovationen. Welchen Beitrag kann der Staat leisten, diese zu fördern?

K. Andreae: Wichtiger als jede Re­striktion ist ein aktivierender Staat, der Wettbewerb entfacht, Anreize für Innovation schafft und auch tatsächlich ins Risiko geht, also Finanzierungsmöglichkeiten bietet und an Stellen investiert, wo das Risiko für Unternehmen zu hoch ist.

U. Tillmann: Wir kämpfen seit langer Zeit für eine steuerliche Forschungsförderung. Sie ist ein wichtiges Instrument für mehr Innovationen, deren Einführung in Deutschland überfällig ist. Die chemische Industrie investiert bereits über 10 Mrd. EUR pro Jahr in Forschung und Entwicklung. Um das von der Bundesregierung gesteckte Ziel von 3,5 % F&E-Anteil am Bruttoinlandsprodukt zu erreichen, müssten die Unternehmen noch weitere 4 Mrd. EUR draufpacken. Das werden sie ohne eine steuerliche Forschungsförderung in Deutschland aus eigener Motivation nicht tun. Erste Unternehmen investieren bereits in Österreich, weil es dort die besseren steuerlichen Rahmenbedingungen gibt.

Der von Bundesfinanzminister Olaf Scholz vorgelegte Gesetzesentwurf zur steuerlichen Forschungsförderung sieht eine Förderung von 5 Mrd. EUR über die nächsten vier Jahre vor. Wie bewerten Sie den Entwurf?

U. Tillmann: Es ist ein Einstieg, der dazu beitragen kann mit dem Instrument umzugehen. Das Volumen halte ich für zu niedrig. Wirklich gute Effekte wird man erst erzielen, wenn noch mehr in die steuerliche Forschungsförderung investiert wird und diese nicht zeitlich begrenzt ist.   K. Andreae: Der Gesetzesentwurf von Olaf Scholz ist ein Vier-Jahres-Programm für Personalkosten im Forschungsbereich für alle Unternehmensgrößen. Unternehmen können bis zu 2 Mio. EUR pro Jahr steuerlich absetzen, und zwar zu 25 %. Das ist nicht das, was wir unter einer gezielten Forschungsförderung verstehen. Experten und Studien bestätigen: Es sind vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland, die zu wenig forschen und für die Anreize geschaffen werden müssen. Der Gesetzesentwurf enthält keine Orientierung auf KMU, das halte ich für falsch, ebenso wie die zeitliche Begrenzung. So ein neues Instrument braucht Zeit.    U. Tillmann: Ich halte es für gerechtfertigt, dass Unternehmen aller Größen gefördert werden. Einen hohen Anteil der grundsätzlichen Technologieforschung übernehmen große Firmen. Die Entwicklung eines neuen Crackers findet nicht bei einem Mittelständler statt, sondern wird durch große Chemiekonzerne gemeinsam mit Anlagenbauern geleistet.    K. Andreae: Große Unternehmen können einen Cracker mit bestehendem Personalstamm entwickeln und würden nach dem Entwurf für diese Aktivitäten bis zu 2 Mio. EUR über vier Jahre erhalten. Ein Mittelständler müsste dieses Personal erst aufbauen. Das kann er mit dem vorliegenden Modell nicht leisten. Deshalb geht der Entwurf an der Grundidee einer Forschungsförderung vorbei, die Anreiz für mehr Forschungsaktivitäten geben will. Uns ist es zudem wichtig, die begrenzten finanziellen Mittel langfristig wirksam und zielgenau einzusetzen. Das Konzept von Olaf Scholz ist weder langfristig noch zielgenau. Als Unternehmer möchten Sie doch auch jeden Euro so effizient wie möglich einsetzen.

U. Tillmann: Und gerade deshalb halten wir eine steuerliche Forschungsförderung auch für große Unternehmen für wichtig. Sie schafft ein Level Playing Field auf internationaler Ebene in der Forschung, mit Standortbedingungen, unter denen auch große Unternehmen in Deutschland weiter forschen werden.

Warum kommen wir trotz einer innovationsstarken Industrie bei der Energiewende oder dem Klimaschutz in Deutschland nicht schneller voran? Wo sehen Sie hier wesentliche Hürden?

U. Tillmann: Für Fragestellungen von hoher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Relevanz, wie der Energiewende oder den Klimaschutz, fehlt es in Deutschland an der richtigen politischen Governance. Hier sind einzelne Ministerien für sich tätig. Es fehlt eine Governance-Struktur über diesen Ministerien. Das beobachten wir zum Beispiel gerade wieder bei der aktuellen Diskussion des Klimaschutzgesetzes. Hier gibt keine Koordination für die Gesamtfragestellung.

K. Andreae: Theoretisch ist diese Koordination bereits heute möglich. Wir haben eine Kanzlerin, die im Rahmen ihrer Richtlinienkompetenz klare Vorgaben bezüglich des Klimaschutzes machen könnte. Stattdessen werden die Vorschläge von Umweltministerin Svenja Schulze durch andere Ministerien abgeschwächt. Nur mit einem neuen Klimakabinett dürfte es nicht getan sein. Aus Sicht der Grünen müsste das Thema nicht nur ganz oben angesiedelt sein, sondern auch entsprechend durchgesetzt werden. Klimaschutz ist nicht „nice to have“, sondern zwingend nötig.