Strategie & Management

Bewertung von chemischen Stoffen

Was können Computer basierte Methoden beitragen?

09.02.2010 -

„Rätselhafter Schadstoff belastet deutsche Flüsse. Die Chemikalie TMDD (Abb. 1) führt die Rangliste der Fremdstoffe in deutschen Flüssen an. Doch niemand weiß, woher das Tensid kommt und wie gefährlich es ist. Wissenschaftler warnen vor weiteren, bislang unbekannten Gefahrstoffen in Flüssen. ..." (Spiegel on-line 1. Oktober 2008). Dies ist eine typische Schlagzeile, wenn bisher wenig oder nicht beachtete Stoffe in der Umwelt nachgewiesen werden (Guedez et al. 2009). In Anbetracht der Tatsache, dass in der EU mehr als 100.000 verschiedene Chemikalien (z. B. Farben, Lacke, Kosmetika, Arzneimittel, Textilhilfsstoffe, Pflanzenschutzmittel) vermarktet werden überrascht dies auch nicht weiters. Hinzu kommt noch eine Vielzahl bisher kaum bekannter Ab- und Umbauprodukte.

Insbesondere beim Nachweis von Stoffen in Wasser, das zur Trinkwassergewinnung genutzt wird, in landwirtschaftlich genutzten Böden oder in der Luft sowie in Lebensmitteln, stellt sich sofort die Frage nach ihrer gesundheitlichen Relevanz. Auch die Anwendung von chemischen Stoffen setzt verlässliche Daten zu ihren Eigenschaften voraus wie z. B. Wasserlöslichkeit, Flüchtigkeit (Henry- Koeffizient), Polarität, Verteilung (den Oktanol-Wasser-Verteilungskoeffizent und seine Abhängigkeit vom pH-Wert), Stabilität (Hydrolyse, Bio- und Photostabilität u. a.. Weiter sind Daten zu ihrer Toxizität (z. B. Karzinogenität, Gentoxizität, Immun- und Neurotoxizität, endokrine Wirkung und Ökotoxizität (z. B. Fisch-, Daphnien-, Algen- und Bakterientoxizität), über ihren Stoffwechsel und ihre Abbauprodukte sowie ihrem Verhalten in der Umwelt unabdingbar, jedoch häufig nicht oder nicht schnell genug verfügbar. Für eine Bewertung bedarf es aber gerade solcher Daten. Auch für die Beurteilung der Anwendbarkeit von Techniken zur Entfernung von chemischen Stoffen z. B. aus dem Rohwasser oder dem Abwasser können solche Daten unschätzbare Dienste erweisen. Das Problem ist jedoch in der Praxis häufig, dass solche Daten nur für einen geringen Bruchteil von chemischen Stoffen verfügbar sind (Abb. 3). Und dies, obwohl gerade für solche Fälle schnell Informationen zu Chemikalien und Arzneimitteln und ihrer Bewertung von Nöten wären. Experimentelle Untersuchungen sind oft langwierig und teuer. Eine erste, orientierende Bewertung würde zunächst oft schon ausreichen. So ist. z. B. der Handlungsbedarf ein ganz anderer, wenn eine Chemikalie im Verdacht steht gentoxisch zu sein, als wenn dies mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Dank der großen Fortschritte in der Chemieinformatik können moderne, Computer basierte Methoden „in silico" solche Informationen zur Verfügung stellen (Boethling und Mackay 2000).

Damit lassen sich physikalisch-chemische Eigenschaften aber auch (öko)toxikologische Daten für

  • die Beurteilung von Schadstoffen in Trinkwasser, Grundwasser und Altlasten
  • die Registrierung und Zulassung von chemischen Stoffen unter REACH
  • die gezielte Optimierung von Leitstrukturen bereits bekannter chemischer Stoffe und Arzneimittel
  • die Prioritätensetzung für experimentelle Untersuchungen
  • die Auswahl der geeigneten Chemikalien bei Einkaufsentscheidungen schnell und in guter Qualität zur Verfügung stellen, wenn gewisse Voraussetzung gegeben sind.

Anwendungsbereiche

Trinkwasser

Verunreinigungen von Trinkwasser werden von der breiten Öffentlichkeit und den Medien aufmerksam verfolgt. Allerdings kann es in solchen Situationen zu einer überzogenen öffentlichen Diskussion über die Qualität des Trinkwassers kommen. Dies kann vermieden werden, wenn möglichst schnell Informationen über die nachgewiesenen Stoffe verfügbar sind, die zumindest eine erste Einschätzung der möglichen Gefährdung der Verbraucher und gezielte Maßnahmen zum Risikomanagement ermöglichen. Oft fehlen aber gerade diese Informationen. Mit Computer basierten Methoden wie z.B. Struktureigenschaftsbeziehungen1 ist sehr schnell (Abb. 2) eine orientierende Gefährdungseinschätzung möglich, die dann auch entsprechend schnell kommuniziert werden kann. Zur Bewertung von Stoffen mit unzureichender Datenlage im Trinkwasser wird der gesundheitliche Orientierungswert (GOW) herangezogen. Fehlen experimentelle Daten, so wird „ersatzweise ... die Einstufung der Kontaminante im Gesamtbereich >0,1 µg/l bis 3 µg/l dann empfohlen,wenn wissenschaftlich entsprechend belastbare Erwartungsaussagen zur Beziehung zwischen Struktur und biochemisch-toxikologischem Potential der Kontaminante vorliegen (Struktur-/Aktivitätsbeziehung)" (Hervorhebung im Original, Umweltbundesamt und Trinkwasserkommission 2003).
Damit ist auch für eine tiefer gehende Stoffbewertung Orientierung und Zeit gewonnen. Darüber hinaus kann mit diesen Methoden auch schnell abgeschätzt werden, ob der jeweilige Schadstoff z.B. durch Sorption an Aktivkohle entfernbar ist oder nicht. In der Trinkwasseraufbereitung spielen u. a. auch oxidative Verfahren zur Entfernung von Schadstoffen ein Rolle wie z.B. die Ozonung oder die Behandlung mit UV-Licht. Bei diesen Verfahren können jedoch Folgeprodukte entstehen, deren toxikologische Eigenschaften meist unbekannt sind. Die Bewertung solcher Stoffe ist zusätzlich erschwert, dass sie nur in seltenen Fällen in der für eine experimentelle Untersuchung notwendigen Menge zur Verfügung stehen. Auch hier bieten sich Struktureigenschaftsbeziehungen zur Bewertung an.

Altlastenbewertung
Neben den Inhaltsstoffen von Altlasten selbst werden oft auch Abbau- und Umbauprodukte dieser Stoffe nachgewiesen. Für diese Folgeprodukte sind oft aus den gleichen Gründen wie für die Folgeprodukte der oxidativen Trinkwasseraufbereitung keine experimentellen Daten zur Beurteilung der Gefährlichkeit verfügbar. Zum Teil ergeben sich daraus erhebliche Gefahren für die Schutzgüter Wasser, Boden und Luft. Die effektive und wirtschaftliche Bewertung und ggf. Sanierung einer Altlast setzt u. a. genaue Kenntnisse über Art und Eigenschaften dieser Schadstoffe voraus. Hierfür ist die Kenntnis physikalisch-chemischer Eigenschaften unabdingbar - zum Teil sind diese Daten auch für eine hydrologische Modellierung von Bedeutung. Zur schnellen und kostengünstigen Erhebung der dafür benötigten Stoffdaten eigenen sich Struktureigenschafts-beziehungen hervorragend.

REACH
Infolge der Chemikaliengesetzgebung in der EU (REACH, www.reach-info.de, http://echa.europa.eu/reach_ en.asp) besteht insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, die mit Chemikalien umgehen (Produktion, Weiterverarbeitung, Handel etc.), ein großer Bedarf, geeignete Informationen über die von ihnen verwendeten Stoffe zur Verfügung zu haben. Häufig sind solche Daten nicht im notwendigen Umfang verfügbar (Abb. 3). Eine experimentelle Erarbeitung der benötigten Daten ist (zu) teuer und zeitraubend. Insbesondere bei hohen Tonnagen sind die Datenanforderungen unter REACH umfangreich. REACH ermöglicht jedoch auch, den Testaufwand beträchtlich zu verringern durch:

  • Konsequente Nutzung bereits vorhandener Daten (z. B. eine ausführliche Literaturrecherche oder Nutzung von (quantitativen) Struktureigenschaftsbeziehungen, (Q)SAR).
  • Grouping (Category approach): Mehrere strukturell ähnliche Stoffe können zusammengefasst werden, so dass nur ein Dossier eingereicht werden muss. Grundlage hierfür sind u. a. Literatur- und Datenbankrecherchen sowie QSAR.
  • Waiving: Wenn gezeigt wird, dass keinerlei Exposition zu einem Stoff zu erwarten ist, kann auf entsprechende Tests verzichtet werden (Literatur- und Datenbankrecherche, Optimierung von Chemikalien und Arzneimitteln (Benign by Design, s. u.).


Gezielte Optimierung chemischer Stoffe


Mittelfristig wird es zunehmend notwendig sein, das chemische Stoffe die Kriterien der nachhaltigen Chemie (Anastas and Warner 1998) und der nachaltigen Pharmazie (Kümmerer und Hempel 2009) erfüllen. Dies bedeutet, dass diese Stoffe zunehmend ihre Anwendungszwecke möglichst optimal erfüllen müssen, gleichzeitig wenig toxisch und möglichst umweltverträglich (http://www.aktuelle-wochenschau.de/index08.htm; Kümmerer 2007) sein müssen. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten wird eine gezielte Stoffsynthese angesichts steigender Kosten am Rohstoff- und Arbeitsmarkt stark an Bedeutung gewinnen. Ausgehend von der Expertise der Hersteller und Anwender lassen sich mit QSAR für die jeweilige Anwendung nach zuvor festgelegten Kriterien (Anwendung, Umwelt, Toxizität) sehr gut geeignet erscheinende Moleküle kreieren und mittels Computer basierter Methoden bewerten, bevor die ausischtsreichen Kandidaten dann synthetisiert werden. D. h die Auswahl der geeigneten Stoffe erfolgt systematisch schon bevor in die Synthese von nicht geeigneten Kandidaten investiert wurde. Dieses neuartige Konzept („Benign by Design", Kümmerer 2007) hat mehrere Vorteile: Neben Ersparnissen bei den Synthesekosten können neue Marktpotenziale und Vorteile in der Anwendung gegenüber Konkurrenzprodukten realisiert werden. Eine gute Abbaubarkeit oder geringe Toxizität beispielsweise reduziert auch die Kosten für die Registrierung und Zulassung unter REACH („Waiving"). Ein Beispiel dafür ist der der Komplexbildner EDDS. Der Komplexbildner EDTA ist biologisch schwer abbaubar und passiert daher die Abwasserbehandlung. Er remobilisiert toxische Schwermetalle aus Sedimenten. Durch gezielte Veränderung der Struktur erhält man aus EDTA das EDDS (Abb. 4).
EDDS ist ein genau so guter und bei manchen Anwendungen sogar noch besserer Komplexbildner als EDTA. EDDS ist aber leicht abbaubar in der Kläranlage. Dadurch werden Umweltprobleme vermieden und der Testaufwand und damit die Kosten für die Zulassung unter REACH sind sehr viel geringer.

Prioritätensetzung für experimentelle Untersuchungen


Computer basierte Methoden eignen sich auch zur schnellen und systematischen Auswahl von chemischen Stoffen durch schnelles Screening. So können aus einer Stoffliste schnell und sicher alle diejenigen chemischen Stoffe und Arzneimittelwirkstoffe heraus gesucht werden, die ein oder mehrere interessierende Strukturelemente enthalten oder bestimmte Eigenschaften aufweisen. Dies kann genutzt werden, um z. B. bei der Planung experimenteller Untersuchungen die bevorzugt zu untersuchenden Stoffe auszuwählen. So können beispielsweise alle Stoffe, die als mutagen oder karzinogen anzusehen sind aus einer Liste heraus gesucht werden und nur diejenigen, die diese Eigenschaft nicht haben, experimentell weiter untersucht werden (Abb. 5).
Nutzung von Computer basierten Methoden für Einkaufsentscheidungen

Im Rahmen von Einkaufsentscheidungen können mit Computer basierten Methoden Chemikalien oder Bestandteile von Zubereitungen schnell nach bestimmten Eigenschaften oder Kriterien miteinander verglichen, gegeneinander abgewogen und eine Rangliste erstellt werden.

Was es zu beachten gilt


Mittels Computer basierten Modellen ist es heutzutage möglich, ausgehend von der chemischen Struktur eines Stoffes, physikalisch-chemische, toxikologische und umweltrelevante Parameter zu berechnen. Die Qualität der Ergebnisse hängt allerdings von der Art der verwendeten Software, der in der Software verwendeten Modelle und den zugrunde liegenden experimentellen Daten ab. Für eine belastbare Bewertung der Ergebnisse von Computer basierten Methoden ist daher Expertise von der experimentellen Seite und der Seite der Chemieinformatik unabdingbar. Idealerweise verwendet man keine „Black-Box-Modelle", d. h Modelle und Software, über deren deren „Inhalt" (Art und Anzahl der für die Modellbildung genutzten Stoffe und Daten, verwendete Algorithmen) und deren Aussagefähigkeit (Modellvalidierung) dem Nutzer zu wenig bekannt ist. Die erhaltenen Aussagen werden um so sicherer, je mehr unterschiedliche Softwareansätze für den gleichen Endpunkt (z. B. Mutagenität im Ames Test) angewandt werden („Testbatterie erster Art"). Auch durch die Berechnung von Ergebnissen mehrerer ähnlicher Endpunkte wie z. B. der biologischen Abbaubarkeit nach OECD im Closed Bottle-Test, im MITI-I-Test, oder im Sturm-Test und im Zahn-Wellens-Test) erhöht die Qualität zusätzlich („Testbatterie zweiter Art"). Je nach Fragestellung kann so die notwendige Aussagesicherheit schnell erreicht werden. So kann in einem ersten Schritt schnell ein Screening durchgeführt werden (prinzipiell bis zu mehrere tausend chemische Stoffe auf einmal innerhalb relativ kurzer Zeit), um dann die geeigneten Kandidaten weiter zu untersuchen (mittels Computermethoden oder experimentell). Bei guten Softwarepaketen und entsprechender Erfahrung können aus den bei einem Hersteller vorhandenen anwendungsspezifischen Daten auch Modelle für bestimmte Anwendungseigenschaften gezielt erstellt werden. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es sich bei diesen Methoden um Expertensysteme handelt - nicht weil sie den Experten ersetzen, sondern weil sie erst in seiner Hand zu mächtigen Werkzeugen werden.

Literatur
[1] Allanou R et al.: Public availability of data on EU high production volume chemicals. Report EUR 18996 EN, European Commission, Joint Research Centre, Ispra, Italy (1999)
[2] Anastas PT. und Warner JC.:Green Chemistry. Theory and Practice. Oxford University Press, Oxford, New York (1998)
[3] Boethling RS. und Mackay D. Handbook of Property Estimation Methods for Chemicals - Environmental and Health Sciences. Lewis Publisher, Boca Raton, (2000)
[4] Guedez AA. et al.: Occurrence and temporal variations of TMDD in the river Rhine, Germany. Environ Sci Pollut Res Int. 2009 Jun 13, im Druck (2009)
[5] Kümmerer K.: Sustainable from the very beginning: rational design of molecules by life cycle engineering as an important approach for green pharmacy and green chemistry. Green Chem 9, 899-907 (2007)
[6] Kümmerer K.: (Hrsg.) Pharmaceuticals in the Environment. Sources. Fate, Effects and Risk. 3rd edition, Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York (2008)
[7] Kümmerer K. und Hempel M.: (Hrsg.) Green and Sustainable Pharmacy. Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York, im Druck (2009)
[8] Scheringer M.: Chemicals with low persistence and spatial range - a contribution to sustainable chemistry. Workshop „Sustainable Chemistry" Berlin May 15, presentation (2007)
[9] Umweltbundesamt und Trinkwasserkommission: Bewertung der Anwesenheit teil- oder nicht bewertbarer Stoffe im Trinkwasser aus gesundheitlicher Sicht Empfehlung des Umweltbundesamtes nach Anhörung der Trinkwasser-kommission beim Umweltbundesamt Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 46, 249-251 (2003)

Fußnoten

1 Im englischen und amerikanischen Sprachgebrauch als (Q)SAR abgekürzt ((qunatitaive) structure activity relationship),

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