Anlagenbau & Prozesstechnik

Scada-Systeme: Migration mit Methode - Konvertieren komplexer Prozessvisualisierung

17.11.2010 -

Scada-Systeme: Altbekannte und bewährte Visualisierungssysteme komplexer Industrieanlagen auf eine zukunftsfähige Plattform zu übertragen – das zählt zu Spezialdisziplinen eines Leverkusener Systemintegrators. Der hat sich dazu eigens ein „lernfähiges“ Softwaretool geschaffen, das Bedienbilder samt Variablenzuordnung weitgehend automatisiert für die Nutzung in Europas führendem Scada-System (Supervisory Control and Data Acquisition) aufbereitet. Und dies entschieden schneller, komfortabler und damit kostengünstiger als jemals von Hand zu bewerkstelligen, hier aufgezeigt am Beispiel einer Produktionsanlage für optische Aufheller (Weißtöner).

Die AGU Planungsgesellschaft für Automatisierungs-, Gebäude- und Umwelttechnik mbH konzentriert ihre Aktivitäten auf die im Firmennamen genannten Bereiche und hat sich in diesem Metier längst an führender Position im Markt etabliert. Zu den zahlreichen Spezialitäten der Leverkusener gehört die Umsetzung (Migration) selbst komplexester Bedienoberflächen älterer Visualisierungssysteme unterschiedlicher Herkunft auf die derzeit aktuelle Plattform Simatic WinCC bzw. Simatic PCS7 von Siemens.

Als Solution Partner Automation, WinCC-Specialist, PCS7-Specialist und Pharma-Partner von Siemens ist AGU bestens vertraut mit der umfassenden Produktpalette des Herstellers und deren Funktionalitäten. Dies gilt ebenso für die chemietechnische Großanlage der Kemira Germany im Chempark Leverkusen. AGU hatte die Kemira-Anlage zur Herstellung so genannter Weißtöner der Marke Blankophor vor vielen Jahren erstautomatisiert, über die Jahre hinweg betreut und nun den Auftrag erhalten, sie für die gewachsenen und für künftige Aufgaben zu ertüchtigen.

An Grenzen gestoßen

Die Modernisierung war nötig geworden, weil das zunehmend erweiterte Bussystem und auch die Visualisierung an Leistungsgrenzen gestoßen sind. Der chemische Prozess, im Prinzip eine mehrstufige Synthese, stützt sich auf rund 1.800 Messstellen (Sensoren/Aktoren) für die Verarbeitung von Drücken, Durchflussmengen, Temperaturen, Gewichten etc. Mehrere ursprünglich direkt am Prozessbus betriebene Visualisierungsstationen verarbeiteten die Daten von 16 Einzelsteuerungen, zuletzt rund 160.000 Variablen und nahezu 6.500 Meldungen. Ein weiterer Ausbau auf dieser Basis erschien weder wirtschaftlich noch technisch sinnvoll. Mit Ausnahme der robusten Steuerungen waren die über viele Jahre hinweg bewährten Technologien einfach nicht mehr „state of the art“ und teilweise vom Hersteller schon abgekündigt. Die Ersatzteilversorgung sei zwar bei der SPS-Baureihe Simatic S5 noch gesichert, aber die PCs auf denen das Bediensystem Coros lief, waren immer schwieriger und zudem nur teuer zu bekommen; außerdem haben die Funktionalität und das Preis-/Leistungsverhältnis aktueller Gerätegenerationen die Entscheidung erleichtert, so Ulrich Kuhn, PCS-Manager bei Kemira. Damit stellte sich die Frage: Wie lassen sich Vernetzung und Visualisierung möglichst reibungslos wieder fit für die Zukunft machen?

Mehr Effizienz, Transparenz und dazu Redundanz…

… schafft ein neu strukturiertes Visualisierungskonzept auf Basis des Scada-Systems Simatic WinCC. Anders als bislang haben darin nicht mehr alle B&B-Stationen, sondern nur noch zwei redundante, per Standleitung miteinander verbundene Simatic-WinCC-Server direkten Zugriff auf die Prozessdaten der beibehaltenen Simatic-Steuerungen. Das hat die Buslast reduziert und in der Folge wieder zu schnellen Reaktions- und Bildaufbauzeiten geführt. Die Steuerungen kommunizieren mit den Servern über Optical Switch Module (OSM) aus dem Simatic-Net- Spektrum an einem redundanten Ethernet-Lichtwellenleiterring.

In der Meisterstube, der Messwarte und im Bereich der beiden Abfüllungen sind insgesamt acht WinCC-Clients installiert. Diese greifen wiederum über OSM auf die Server zu, um die Prozessdaten lokal zu visualisieren. Für Anpassungen und Wartungsarbeiten am Visualisierungssystem wurde im Schaltraum außerdem eine zentrale WinCC Engineering Station eingerichtet. Ohne Produktionsausfall umgestellt Wie so oft bei Anlagen dieser Kategorie durfte auch hier die laufende Produktion durch die Modernisierungsarbeiten nicht gestört oder gar unterbrochen werden, da dies mit hohen finanziellen Einbußen verbunden gewesen wäre. „Unsere Aufgabe war, die gesamte Bedienoberfläche und somit sämtliche Abläufe möglichst 1:1 zu übernehmen, um aufwändige Neuschulungen der Anlagenführer zu vermeiden und zu keiner Zeit die Bediensicherheit zu beeinträchtigen“, erläutert Jörg Düpjohann, bei AGU verantwortlich für das Projekt. Um die Verfügbarkeit und die Kontinuität zu gewährleisten, wurde das neue Visualisierungssystem parallel zum vorhandenen aufgebaut und sukzessive nutzbar gemacht. So konnten sich die Bediener im fließenden Übergang mit der neuen „alten“ Oberfläche vertraut machen.
Maßgeblichen Anteil am schnellen und reibungslosen Projektverlauf hatte das von AGU speziell für derartige Zwecke entwickelte Migrationstool Sm@rtLine_LSB_WinCC. Damit lassen sich vornehmlich Bedienoberflächen des Visualisierungssystems Coros LS-B (und auch Teleperm OS525) von Siemens weitgehend automatisiert und fehlerfrei auf Simatic WinCC bzw. Simatic PCS7 umsetzen. Das Tool ist Teil einer Reihe maßgeschneiderter Produkte für die Unternehmens- bzw. Betriebsführung. Die Migrationsschritte: Übernahme aller Variablen aus Coros LS-B Anlegen der Variablenstrukturen Übernahme der Meldungen und Bilder Wandeln der Bildelemente ins WinCC-/PCS7-Format Verbinden vorhandener Aktionen und neuer Zustandsanzeigen mit dem Variablenhaushalt Skalieren der Bilder auf eine neue Auflösung Austausch von Polygon- durch WinCC-Linien Ausrichten am Raster Integration neuer Zustandsanzeigen Anzeige noch offener Bearbeitungspunkte Das spezifische Know-how und die Kompetenz für derartige Aufgaben resultiert aus dem langjährigen Umgang mit den genannten Systemen in unterschiedlichsten Anwendungen. Ein weiterer „Beleg“ dafür ist das vom Systemintegrator entwickelte und in Eigenregie vermarktete Premium Add‑on Sm@rt- Lib, eine standardisierte Bausteinbibliothek für die Leittechnik unter WinCC bzw. WinCC flexible.
Bei der Migration der Blankophor- Anlage profitierte man davon, dass man schon bei der Erstautomatisierung konsequent auf eine durchgängige Architektur mit möglichst wenigen unterschiedlichen, aber standardisierten Bausteinen geachtet hatte. So sind praktisch alle Regler-, Ventil- und auch Visualisierungsbausteine („Faceplates“) über die gesamte Anlage hinweg einheitlich aufgebaut und zu bedienen. Das hat den „Lernaufwand“ des Migrationstools signifikant reduziert und schon nach relativ kurzer Zeit eine weitgehend automatisch ablaufende Konvertierung ermöglicht.
Einmal erfasste und umgewandelte Bildelemente/-bausteine werden ohne weiteres Zutun in WinCC übernommen. Ebenso können neue Bildelemente eingebunden und in der Bilddatenbank des Systems abgelegt werden. Auf diese Weise wurden insgesamt über 1.200 Fließ-, Kurven- und Kreisbilder der einstigen Coros-Oberfläche auf nahezu identische Bedienmasken von WinCC übertragen. Durch die sukzessive Umstellung bei laufender Produktion konnten sich die Bediener frühzeitig an die geringfügigen Unterschiede gewöhnen und die Gesamtanlage weiterhin so routiniert und sicher bedienen wie zuvor. Mit Hilfe bereits vorhandener WinCC-Kanal-DLLs konnte auch die unterschiedliche Verarbeitung von Zeitstempeln der Simatic-Steuerungen und des neuen Visualisierungssystems exakt nach den Vorstellungen des Betreibers realisiert werden, ohne in die Programmierung eingreifen zu müssen. Nach Abschluss der Umstellung mit den genannten Werkzeugen war (und ist generell) keine erneute Inbetriebnahme erforderlich.

Bediener und Betreiber profitieren

Beide Seiten sind mit der neuen Visualisierungslösung rundum zufrieden. Während die Zukunftsfähigkeit der bewährten Anlage gesichert wurde, läuft der Betrieb jetzt wirtschaftlicher. Kernpunkte sind:

  • Sicherstellen der Erweiterbarkeit der Produktionsanlage
  • Reduziertes Engineering bei Änderungen der Anlage
  • Erhöhte Flexibilität der automatisierten Produktionsabläufe
  • Bessere Analyse- und Auswertemöglichkeiten der Betriebsdaten in Richtung einer effizienteren „Plant Intelligence“
  • Verbesserte Service- und Instandhaltungstools
  • Sicherstellen der Ersatzteilversorgung über Jahre

Vorteile, die zwischenzeitlich auch andere Unternehmen im Chemiepark Leverkusen aufhorchen und an eine Migration älterer Visualisierungssysteme auf den neuesten Stand von Siemens denken lassen.

Dipl.-Ing. (FH) Martin Ahrens, Marketing Manager WinCC Siemens AG, Division Industry Automation, Nürnberg

Kontakt: Karin Kaljumäe
Kennwort IA/DT GC 139/08
Siemens AG / Siemens IT Solutions and Services, Fürth