Chemie & Life Sciences

Studie: Versteckte Märkte in der Chemieindustrie

Verkannte Chance oder reine Illusion

09.10.2013 -

Die Chemische Industrie investiert Jahr für Jahr 9 Mrd. € in Innovation.

Sowohl der Verband der Chemischen Industrie als auch Vertreter namhafter Chemieunternehmen werden nicht müde, die Forschung nach neuen Produkten und die Weiterentwicklung bestehender Technologien als Wachstumsgaranten zu bezeichnen. Doch müssen es immer neue, verbesserte Produkte sein? Oder liegt die Zukunft der Chemieindustrie ausschließlich außerhalb Europas in den Wachstums‐ und Schwellenregionen?

Verkennt also die Industrie, welches Potential in ihren etablierten Produkten schlummert, wenn man sich nur ernsthaft mit der Frage beschäftigt, in welchen Anwendungen die Produkte noch ihren Platz finden könnten?

Diese vergessenen Potentiale werden gerne als „Versteckte Märkte" bezeichnet. In einer von Dr. Wieselhuber & Partner in Kooperation mit dem Chemie‐Cluster Bayern durchgeführten Studie wurde dieses Thema erstmalig aufgegriffen - im Fokus: die Existenz Versteckter Märkte, das darin schlummernde Potential und die erforderlichen Voraussetzungen zur Erschließung.

Studienergebnisse

Die Studie zeichnet ein eindeutiges Bild: Die Mehrzahl der Befragten ist von der Existenz überzeugt. Das Umsatzpotential wird branchen‐ und unternehmensabhängig unterschiedlich eingestuft. Als Branchendurchschnitt leiten wir ein mittelfristiges Potential von 10 % bezogen auf den aktuellen Jahresumsatz ab ‐ mit bestehenden Produkten, also ohne großen Innovationsaufwand und ohne Unsicherheit, ob das Innovationsprojekt erfolgreich zum Abschluss kommt.

Die Frage ist, warum nicht mehr Unternehmen auf die Erschließung bisher brachliegender, unerkannter Märkte setzen. Ein paar Erklärungsversuche sollen im Folgenden aufgezeigt werden:

Die selbsterfüllende Prophezeiung

Die Aussage: „Weil wir noch nie andere Anwendungen neben den bekannten entdecken konnten, suchen wir gar nicht mehr."
Dabei befinden sich gerade die Anwendermärkte für chemische Produkte im massiven Wandel. Stand lange Zeit die Funktion im Mittelpunkt der Zielprodukte, ist inzwischen der

Anforderungskatalog vielfältiger geworden: Aus welchen Rohstoffen ist er hergestellt, wie gut ist er rezyklier‐ oder biologisch abbaubar, wie hoch ist der CO2‐Ausstoß während der Fertigung oder gar im kompletten Lebenszyklus? Hinzu kommen Chancen aus dem technologischen Fortschritt, der es ermöglicht, mehr und mehr Funktionen in ein Bauteil zu integrieren, aber auch exogene Veränderungen wie thermische Isolierung und Belüftung in der Gebäudetechnik oder Leichtbau in Fahrzeugen.

Gewusst wie!

Die Aussage: „Wir haben es schon von anderen gehört, wissen aber nicht, wie wir es anpacken sollen."

Unternehmenskultur und die handelnden Personen entscheiden wie so oft über Erfolg und Misserfolg. Freiräume gewähren, Mitarbeiter inspirieren, und seitens der Führung das „Wollen" vorleben. Allerdings reicht das „Wollen" nicht, wenn das „Können" fehlt. Die Vertriebsabteilungen vieler chemischer Unternehmen sind mit „Produktverkäufern" ausstaffiert, die die Spezifikationen der eigenen Produkte perfekt beherrschen, aber nur über begrenztes Verständnis für die Sicht des Abnehmers und seiner Problemstellung verfügen. Das Erkennen neuer Märkte setzt aber zwingend das Verständnis der Anwenderbranchen voraus. Nur so ist der Verkäufer in der Lage, die Einsetzbarkeit und den Nutzen der eigenen Verkaufsprodukte in neuen Einsatzgebieten zu identifizieren.

Das große „Aber"

Die Aussage: „Wir haben einen New Business Manager eingestellt, aber er findet nichts."

Der New Business Manager kann nur durch Integration mit marktnahen Bereichen wie Vertrieb, Anwendungstechnik und Produktmanagement Wert stiften, indem er kundennahe Informationen abstrahiert und mit den mittel‐ und langfristigen Branchentrends in Deckung bringt. Oft wird kundennah zu sehr in bekannten Anwendungen gedacht, weshalb die Ableitung neuer Märkte und Einsatzgebiete über Megatrends schwer fällt. Der New Business Manager ist also allen voran Integrator, um das Wissen und Branchenverständnis aller Bereiche zusammenzunehmen und daraus mit Systematik Ansatzpunkte für neue Anwendungsgebiete abzuleiten.

Analysiert man die Branchenherkunft der zuliefernden Chemie‐ sowie derer Abnehmerbranchen, ist das größte, derzeit ungenutzte Potential in Branchen zu finden, die bereits einen gewissen Reifegrad aufweisen, jedoch das Innovationspotential noch nicht vollends ausgeschöpft wurde. Unternehmer sehr reifer Branchen scheuen jedoch den Aufwand, generell (angestammte) Produkte auf Verwendbarkeit zu testen. Somit scheitert auch hier der Versuch des chemischen Lieferanten, seine bekannten Produkte dort zu platzieren.

Der Hidden Markets Manager

Sich nur von seinem angestammten Geschäft heraus auf die Suche nach neuen Anwendungsfeldern zu begeben, bleibt ohne Erfolg. Oft sind die großen Trends so abstrakt und damit ohne offensichtlichen Bezug zum derzeitigen Produktspektrum, dass die Ableitung von Umsatzpotentialen misslingt. So empfehlen wir konzertiert von innen und außen sich neuen Geschäftsfeldern zu nähern - analog des W&P‐Kern‐Schale‐Modells (s. Abb. 1). Diese Aufgabe kann ein Hidden Markets Manager wahrnehmen, der die exogenen Einflüsse sammelt, bewertet und die Themenfelder nach Relevanz sortiert. Die Frage, ob diese Themenfelder über neue, innovative oder bereits bestehende Produkte bedient werden sollen, muss dann im Team mit Vertrieb, Produktmanagement und Forschung und Entwicklung gemeinschaftlich erarbeitet und beantwortet werden.

Gerade bei kleineren Unternehmen mit limitierten personellen Ressourcen fällt diese Aufgabe Führungskräften aus Vertrieb oder F&E zu, was dazu führt, dass sie im Alltagsgeschäft untergeht. Hier können externe Dritte wie Institute oder Cluster helfen, Potentiale zu erschließen oder als Vermittler zwischen Abnehmer‐ und Zulieferbranchen zu agieren. Allerdings hilft der Befragung zufolge ein „Dritter" nur, wenn ein umfassendes Anwendungsverständnis, gepaart mit definierten Prozessen und einer motivierenden und fordernden Führung im Unternehmen, vorhanden sind.

Gegenseitiges Öffnen ist gefragt

Liegt es nur an den Chemieunternehmen als Lieferanten, neue Märkte zu entdecken? 80 % der Gesprächspartner, die bereits versteckte Märkte erschlossen haben, gaben an, diese selbständig entdeckt zu haben. Aus unserer Sicht schrecken die Verarbeiter vor allzu konkreten Hinweisen auf neue Bedarfe und Einsatzmöglichkeiten zurück, da sie einen unkontrollierten Know-how‐Abfluss über den Lieferanten zu Wettbewerbern befürchten. Dieses Risiko ist gegeben, aber im Vergleich zu den dadurch nicht erschlossenen Chancen als gering und damit tragbar einzustufen - gerade in Branchen, in denen versteckte Märkte am wahrscheinlichsten zu finden sind. Grundvoraussetzung ist somit das Öffnen beider Seiten: Je mehr der Verarbeiter seine Produktidee in Anforderungen an die Rohstofflieferanten herunterbricht und je mehr Anwendungsverständnis der Verkäufer aufbringt, desto größer sind die Erfolgsaussichten - und diese nutzen letztlich beiden Seiten.

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Dr. Wieselhuber & Partner Unternehmensberatung GmbH

München