Anlagenbau & Prozesstechnik

Betriebsamer Anlagenstillstand

TÜV Süd Chemie Service begleitet Chemieanlagenstillstand am Ineos-Standort Köln

24.01.2014 -

Von Oktober bis November 2013 hat TÜV Süd Chemie Service den bislang größten Chemieanlagenstillstand am Kölner Ineos-Standort begleitet. Während der zweimonatigen Reinigung, Wartung und Überprüfung der Cracker-Anlage waren täglich rund 1.250 Beschäftigte im Stillstandseinsatz.

Im Betrieb verarbeitet die Anlage das Rohöldestillat Naphtha. Kohlenwasserstoffe fließen unter hohem Druck und großer Hitze durch die Leitungen. Nun steht alles still. Die Anlage ist vollständig entleert, gereinigt und geöffnet. Rund um die Uhr und mitunter sieben Tage in der Woche werden Instandhaltungs-, Wartungs- und Prüfarbeiten durchgeführt, die nicht während des normalen Produktionsbetriebs erledigt werden können. Es geht bei einem Stillstand auch darum, weitere Optimierungspotentiale zu erschließen.

Alle fünf Jahre wieder

„Mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 100 Mio. € inkl. eines Erneuerungsprogramms ist der aktuelle Stillstand der größte, den wir jemals an unserem Kölner Standort hatten", so Dr. Anne-Gret Iturriaga Abarzua, Leiterin der Ineos-Unternehmenskommunikation. Zu den eigenen 2.000 Beschäftigten kommen weitere 4.000 Mitarbeiter von Partnerfirmen. TÜV Süd Chemie Service ist bei dem Mammutprojekt täglich mit bis zu zehn Sachverständigen aus unterschiedlichen Fachgebieten in der rund 15 ha großen Anlage unterwegs. Diese wird in der Regel alle fünf Jahre zu Wartungs- und Prüfzwecken außer Betrieb genommen. Knapp zwei Monate lang überprüfen die Experten sämtliche Apparate, Kolonnen, Behälter und Rohrleitungssysteme sowie elektrische Sicherheitseinrichtungen und Hebezeuge.

Logistische Meisterleistung

75.000 Planungsstunden waren notwendig, um den Cracker außer Betrieb und wieder in Betrieb zu nehmen. Die vorbereitenden Arbeiten begannen bereits Anfang 2012. Der Ablauf des Stillstands ist von der Grobplanung bis ins Detail minutiös durchkomponiert. „Nichts wird dem Zufall überlassen", berichtet Stillstandsmanager Marcel Hohnroth. „Weil Zeit bekanntlich Geld ist, haben wir für jeden Tag eine genaue Route festgelegt, auf der wir die Prüfingenieure zu den vorbereiteten Komponenten führen."

Vom Vier- zum Sechs-Augen-Prinzip

Armaturen und Behälter sind getrennt und gereinigt, Mannlöcher freigelegt und geöffnet, etwaige Reparaturen ausgeführt, Wärmetauscher unter Prüfdruck gesetzt. Im Besprechungsraum von TÜV Süd Chemie Service klären die Prüfingenieure und die Stillstandsplaner, welche Bauteile und Komponenten jeweils an der Reihe sind. „Bei zeitkritischen Prozessabläufen sind aufeinander abgestimmte Wartungs- und Prüfpläne unerlässlich", weiß auch Peter Löffler, Prüfingenieur bei TÜV Süd Chemie Service. „Durch das softwaregestützte Prüffristenmanagement und den elektronischen Zugriff auf Prüfberichte senken wir dabei den Aufwand für die Betreiber."

Insgesamt müssen in gut sechs Wochen fast 1.000 Objekte geprüft werden. Zu den täglichen Prüfungen kommen Nachtschichten und Wochenendeinsätze. „Wir schauen uns jedes einzelne Bauteil an", erklärt Klaus-Dieter Peschel, Abteilungsleiter Plant Safety & Inspection am TÜV Süd Chemie Service-Standort Dormagen. „Parallel zu unserem Kunden führen wir eine zweite Dokumentationsliste, um sicherzugehen, dass nichts vergessen wurde." Diese Liste gehen die Experten auch intern und nach Ende des Prüftages nochmals durch, sodass aus dem Vier-Augen- ein Sechs-Augen-Prinzip wird.

Alles hat seinen Platz

Nach der Innenprüfung eines Behältermantels geht es zu einem Wärmetauscher, der an Schläuche und Pumpen angeschlossen ist. Er wird kurzfristig unter 13 bar Wasserdruck gesetzt. „Das Bauteil E-1050 hält dem Druck stand, ist dicht und zeigt keine sicherheitstechnisch bedenklichen Verformungen", stellt der TÜV Süd Chemie Service-Experte fest. Der Ingenieur prüft Anschlüsse, Schweißnähte und besonders kritische Stellen: „Der Wärmetauscher ist in Ordnung. Die Komponente muss aber als Ganzes abgenommen werden. Wo sind die dazugehörigen Hauben?", fragt er den Planungsingenieur. Nach einem kurzen Telefonat geht es zu einer Lagerfläche, wo die Hauben der Wärmetauscher aufgereiht sind.

Der Wärmetauscher ist mit knapp 4 m Länge und 70 cm Durchmesser vergleichsweise klein. Trotzdem bringt er gut 1,6 t auf die Waage. Grund sind die Vielzahl der Rohre im Bauteil, das sog. Bündel - bei diesem Modell etwa 80 Stück, bei anderen Wärmetauschern bis zu 10.000. Größere Komponenten können über 100 t schwer sein. Selbst kleinere Bauteile sind ohne Kran nicht zu bewegen. Viele davon stehen in den Gängen und Zufahrtswegen bereit. Bis zu 40 Kräne sind an einem Tag in der Anlage im Einsatz.

Expertise mit Geschichte

Es geht weiter zu einer mannshohen Einstiegsluke zur Sichtprüfung der Innenwandung. Danach kommt wieder ein Wärmetauscher auf den Prüfstand. Dort wird ein erster Befund anhand einer Farbeindringprüfung kontrolliert. Die nächste Station ist eine Trennarmatur. Es sind immer wieder dieselben, aber wichtigen Fragen: Liegt Korrosion oder eine andere Schädigung vor? Wenn ja, wie ist diese zu beurteilen? Reicht die Wandstärke, um das Bauteil die nächsten fünf Jahre sicher zu betreiben? Ist die Isolierung intakt, die Dichtfläche unbeschädigt? Kann unter der Isolierung Kondenswasser entstehen, das Risiken birgt? Wurden etwaige Reparaturen sachgerecht ausgeführt? Bei besonderen Fragestellungen sind weitergehende Prüfungen erforderlich.

Peter Löffler: „Der technische Fortschritt bei sog. zerstörungsfreien Prüfverfahren mittels Ultraschall oder digitalem Röntgen liefert dafür neue Antworten. Hochauflösende Bilder von möglichen Inhomogenitäten in geschweißten Werkstoffen, Anlagenkomponenten oder komplexen Konstruktionen ermöglichen gezieltere Maßnahmen, um optimale Sicherheit und wirtschaftliche Instandhaltung zu kombinieren."

Doch die Prüfer greifen nicht nur auf ihr Fachwissen und die Prüfwerkzeuge zurück, sondern auf jahrelange Erfahrung - und das ganz spezifisch: Da sie bereits die vorangegangenen Großstillstände begleitet haben, kennen sie die einzelnen Bauteile und sehen, ob und wie sie sich verändert haben. Noch weiter als die Erinnerung der einzelnen Prüfer reicht das Archiv von TÜV Süd Chemie Service am Standort Dormagen: Es geht zurück bis ins Jahr 1917, als vor Ort die Grundlagen für die kostengünstige Nylonstrumpfherstellung gelegt wurden.

Langfristiger Werterhalt

Weil die Ingenieure die Anlagen wie ihre Westentasche kennen, können sie den Betreiber auch bei anderen im Stillstand vorgenommenen Arbeiten wie Lebenszyklusprojekte oder Anlagenerweiterungen unterstützen. Klaus-Dieter Peschel: „Als unabhängiger Dienstleister sorgen wir nicht nur für die Sicherheit der Anlagen, sondern tragen auch zu langfristigem Werterhalt bei."

Der Prüftag geht zu Ende. Es wurde kein einziges Bauteil beanstandet. Das ist nicht immer so. Wenn Schäden erkannt und repariert werden müssen, ist schnelles Handeln gefragt. Die Experten klären den Reparaturumfang, führen die notwendigen Berechnungen durch, geben die Prüfpläne frei und begleiten die Reparatur, damit der Wiederanfahrtermin für den Cracker gehalten werden kann.

Im November 2013 ist es soweit. Innerhalb von zehn Tagen werden Drücke wieder aufgebaut, die Anlage wird auf Betriebstemperatur gebracht, flüssige und gasförmige Stoffe strömen in die Systeme. Alles sieht aus wie zuvor, nur die Gerüste sind abgebaut, die größten Kräne weitergezogen. Und die Chemieanlage produziert wieder chemische Grundstoffe für die Welt von morgen.