Strategie & Management

Europa – Wege zur Stabilität

Schuldenfinanziertes Wachstum versus Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch Reformen

04.06.2015 -

Kaum ein Tag vergeht ohne kritische Berichterstattung zur Stabilität der Europäischen Union (EU) und ihrer Gemeinschaftswährung. Eine Insolvenz Griechenlands scheint unvermeidbar. Europakritische Parteien bekommen Zulauf und in vielen Ländern wird die europäische Wirtschaftspolitik offen in Frage gestellt. Nicht Wenige sehen in der Sparpolitik die Ursache für die anhaltende Wachstumsschwäche Europas. Auch von Seiten der USA und des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird daher immer wieder gefordert, Europa solle durch keynesianische Fiskalpolitik, also durch staatliche Schuldenaufnahme, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankurbeln. Zusätzlich solle durch hohe Lohnabschlüsse – gerade in Deutschland – die Konsumnachfrage belebt werden. Im Kern der Debatte geht es um die wirtschaftspolitische Grundausrichtung Europas: „schuldenfinanziertes Wachstum“ oder „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch Reformen“. Dr. Andrea Gruß befragte dazu Dr. Henrik Meincke, Chefvolkswirt beim Verband der Chemischen Industrie (VCI), zur wirtschaftlichen und politische Lage der Europa.

CHEManager: Herr Dr. Meincke, wie bewerten Sie rückblickend die Finanzpolitik der Europäischen Union nach der Wirtschaftskrise?

Dr. H. Meincke: Betrachtet man den Euroraum als Ganzes, so war die europäische Wirtschaftspolitik in der Bewältigung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise erfolgreich. Zunächst wurden die Banken durch den Steuerzahler gerettet. Diese Maßnahme war zwar unpopulär, sie verhinderte aber ein Zusammenbrechen der Finanzmärkte und damit eine Vernichtung der Altersvorsorge und des Sparvermögens der Bürger. Zudem verhinderte die Bankenrettung eine Kreditklemme. Ergänzend zur Bankenrettung wurden die Staatsausgaben hochgefahren, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren, während gleichzeitig die Steuereinnahmen wegbrachen. Dies war ein Konjunkturprogramm ganz im Sinne Keynes und zu diesem Zeitpunkt genau die richtige Medizin zur Behandlung der Krisensymptome. Die Maßnahmen zeigten rasch Wirkung. In nahezu allen europäischen Ländern stieg die Wirtschaftsleistung ab Mitte des Jahres 2009 wieder an.

Wirksame Medizin hat oft auch Nebenwirkungen. Welche negativen Auswirkungen hatten diese Maßnahmen?

Dr. H. Meincke: Die Nebenwirkungen der Bankenrettung und der Konjunkturprogramme zeigten sich ebenfalls rasch: In vielen Ländern – auch in Deutschland – stiegen die Staatschulden auf Werte weit oberhalb der im Maastricht-Vertrag vorgesehenen Marke von 60% des BIP. Die Tragfähigkeit dieser Schuldenlast wurde von den Finanzmärkten zunehmend angezweifelt, denn seit der Weltwirtschaftskrise gelten Staatsanleihen der EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr per se als sicher. In Abhängigkeit von der Bonität des Schuldners verlangen die Finanzmärkte nun Risikoaufschläge. Im Prinzip ist das durchaus zu begrüßen, denn der Schuldner wird gezwungen, auf seine Bonität und damit auf seine Haushaltsdisziplin zu achten. Die Zinsen für Staatsanleihen einiger Länder, wie beispielsweise Irland, Griechenland, Spanien und Italien, stiegen aber so stark an, dass dort aufgrund der hohen Schuldenstände in Verbindung mit den Zinsaufschlägen eine Staatsinsolvenz drohte. Den Euro-Ländern war es nämlich nicht möglich, sich bei der Zentralbank frisches Kapital zu besseren Konditionen zu beschaffen oder sich über die Abwertung der Währung zu entschulden. Fälschlicherweise wurde das Problem als „Eurokrise“ bezeichnet. Im Kern war es aber eine Staatsschuldenkrise.

Diese wurde dann mit dem europäischen Rettungsschirm bekämpft…

Dr. H. Meincke: Genau. Europa reagierte mit einem umfangreichen Rettungsschirm für die betroffenen Länder. Die Euroländer mit besserer Bonität nahmen zu niedrigen Zinsen Schulden auf, um damit den betroffenen Ländern zinsgünstige Kredite zur Verfügung zu stellen. Um zu verhindern, dass die anderen Länder in den Schuldensumpf hineingezogen werden, gab es die Hilfskredite nur gegen Auflagen. Diese sahen in den betroffenen Ländern wirtschaftspolitische Reformen und eine strenge Haushaltsdisziplin vor. So sollte sichergestellt werden, dass die Kredite in der Zukunft auch zurückgezahlt werden können.

Lassen sich die Schulden allein durch Sparmaßnahmen abbauen?

Dr. H. Meincke: Nach der Weltwirtschaftskrise waren alle Länder der EU hoch verschuldet. Um die Staatschulden langfristig wieder auf ein tragfähiges Maß zurückführen, reichten die Regelungen des Maastricht-Vertrages nicht mehr aus. Stabilität und Wachstum sollten durch neue Instrumente sichergestellt werden. Die Idee einer Fiskalunion wurde aufgegriffen und nach zähen Verhandlungen einigten sich die Mitgliedsstaaten der EU mit Ausnahme von Großbritannien und Tschechien auf einen „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“. Dieser sah unter anderem Strafzahlungen bei Überschreiten von Schuldengrenzen vor. Die Unterzeichnung des als „EU Fiskalpakt“ in die Geschichte eingegangenen Vertrages war notwendige Bedingung um Finanzhilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, kurz ESM, zu erhalten. Insgesamt gab es sechs europäische Gesetzgebungsmaßnahmen, die die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und das neue gesamtwirtschaftliche Überwachungsverfahren auf den Weg bringen sollten. Sie wurden in den Verhandlungen zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament in sechs europäische Gesetzgebungsmaßnahmen gebündelt, dem sogenannten „Sixpack“. Ziel der Gesetze war es auch, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten stärker zu koordinieren. Seitdem bewertet der Rat auf Empfehlung der EU-Kommission nationale Wirtschaftspolitiken und spricht verbindliche Empfehlungen aus, deren Nichtbeachtung sanktioniert werden kann.

War dies der richtige Weg, um die Krise zu bewältigen?

Dr. H. Meincke: Rettungsschirm und Sixpack haben zu einer europaweiten Sparpolitik geführt. Man kann im Nachhinein immer diskutieren, ob man nicht besser noch etwas gewartet hätte, bevor man das Ruder rumreißt, um von schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen auf Haushaltskonsolidierung und wirtschaftspolitische Reformen umzuschalten. Für einige Länder kam der Kurswechsel sicherlich zu früh. Dort wurde eine erneute Rezession ausgelöst, die drohte, sich zu einer Abwärtsspirale auszuweiten. Fakt ist aber auch, dass viele Länder schmerzhafte Reformen auf den Weg brachten, die mittlerweile Wirkung zeigen. In fast allen EU-Ländern stieg das Bruttoinlandsprodukt im Jahresverlauf 2014 an – auch in Krisenländern wie Irland, Spanien oder Griechenland.

Vergleicht man die ökonomische Entwicklung der Eurozone mit der anderer Industrieländer, so stellt man fest, dass die Pro-Kopf-Einkommen der Europäer und der Japaner mittlerweile wieder auf dem Niveau von 2007 angekommen sind. Die Einkommen der US-Amerikaner sind im gleichen Zeitraum leicht gestiegen. Dies ist aber vor allem der durch den Schiefergas-Boom ausgelösten Sonderkonjunktur und dem zögerlichen Einstieg in die Haushaltskonsolidierung zu verdanken. Die europäische Wirtschafts- und Fiskalpolitik war also unter dem Strich erfolgreich. Dies gilt insbesondere für Deutschland. Hierzulande liegt die Wirtschaftsleistung derzeit rund 6% über dem Niveau von 2007. Die Industrieproduktion konnte im gleichen Zeitraum um 3% ausgeweitet werden.

Würden Sie auch der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ein gutes Zeugnis ausstellen?

Dr. H. Meincke: Nein, der Geldpolitik der EZB kann man nur ein befriedigendes Zeugnis ausstellen. Die massiven Leitzinssenkungen und die Aufkäufe der Staatsanleihen haben war die Zinslast der EU-Mitgliedsländer deutlich gesenkt und damit die Haushaltskonsolidierung unterstützt. Gleichzeitig dämpften sie aber den Reformdruck. Die Zeche zahlen die Sparer –vor allem in Deutschland. Sie erhalten für ihre Rücklagen und Altersvorsorge kaum noch nennenswerte Zinsen. Inflationsbereinigt beginnt das Sparvermögen bereits zu schrumpfen. Bezüglich des Zieles, Investitionen im Euroraum durch Ausweitung der Kreditvergabe anzukurbeln, ist die Geldpolitik jedoch verpufft und es bleibt abzuwarten, ob die Maßnahmen nicht doch eines Tages zu einer überhöhten Inflation führen und so die Geldwertstabilität gefärden. Der effektive Wechselkurs des Euro befindet sich mittlerweile auf Talfahrt. Der Außenwert des Euros sinkt also bereits. Dies stärkt zwar kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Produzenten. Einen Investitionsschub löst dies aber nicht aus, denn die Verunsicherung über die weiteren Entwicklungen in Europa ist weiterhin hoch. Zudem sind die industriepolitischen Rahmenbedingungen in der EU und vielen Mitgliedsstaaten kaum geeignet Investitionen anzuregen.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach diese Verunsicherung auf Europa auswirken?

Dr. H. Meincke: Während Europas Wirtschaft allmählich an Fahrt gewinnt und auch für die kommenden Jahre ein moderates Wachstum prognostiziert wird, nimmt die politische Stabilität ab. Das liegt zum einen daran, dass nationale Politik stets darum bemüht ist, Brüssel die „Schuld“ an unpopulären Entscheidungen zuzuschreiben. Zudem versuchen einige politische Gruppierungen aus der Europakritik Profit zu schlagen, indem sie die Stimmen der Protestwähler mit nicht einhaltbaren Versprechungen ködern. Gelangt eine solche Gruppierung wie in Griechenland an die Regierung ist das Scheitern vorprogrammiert. An dieser Stelle möchte ich nicht über eine Insolvenz Griechenlands oder einen Euro-Austritt spekulieren. Fakt ist, dass Griechenland seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, wenn EU und IWF den Geldhahn zudrehen. Frisches Geld gibt es allerdings nur, wenn Athen ein entsprechendes Reformprogramm vorlegt. Damit tut sich der griechische Präsident Tsipras schwer, denn bei der Wahl hat er etwas anderes versprochen. Dies Problem ließe sich durch eine kreative Sprachregelung wie bei der Umbenennung der Troika und einer wohlwollenden Bewertung der Reformpläne durch die EU sicherlich in den Griff bekommen. Am Grundproblem, dass Griechenland aus eigener Kraft nicht in der Lage sein wird, die Kredite vollständig zurückzuzahlen, ändert sich nichts. An einem Schuldenschnitt führt wohl kein Weg vorbei. Ob Griechenland im Euroraum verbleibt, bleibt hingegen abzuwarten. Der sogenannte „Grexit“ hat jedoch seinen Schrecken eingebüßt und das Festhalten an Griechenland im Euroraum gilt mittlerweile politisch nicht mehr als alternativlos.

Wie bewerten Sie aktuell die Lage in Europa?

Dr. H. Meincke: Die Hauptursache der politischen Destabilisierung Europas sind jedoch die großen Unterschiede und Ungleichgewichte in der EU. Haushaltsdisziplin und lockere Geldpolitik wirken in den Mitgliedstaaten der EU nämlich durchaus unterschiedlich. Während Polen seine Wirtschaftsleistung gegenüber dem Vorkrisenniveau von 2007 bereits wieder um 25% steigern konnte, liegt das griechische Bruttoinlandsprodukt derzeit mehr als 25% niedriger als vor der Weltwirtschaftskrise. Diese wachsenden Unterschiede gefährden mittlerweile die Stabilität der EU. Wenn durch die Gemeinschaftswährung die Nationalstaaten keine eigene Geldpolitik haben und darüber hinaus Haushalts-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik in der EU koordiniert werden, lassen sich vergleichbare Lebensbedingungen zwischen strukturschwachen und wettbewerbsfähigen Ländern nur durch Transferzahlungen und nicht durch Kredite angleichen. Eine Transferunion wird aber bisher von vielen EU Bürgern abgelehnt. Im Prinzip wurde sie aber bereits durch die Hintertür eingeführt. Darin liegt die politische Sprengkraft der Europäischen Einigung.

 

 

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