Strategie & Management

Technischer Fortschritt bedeutet Freiheit

Plädoyer von Prof. Gerd Ganteför für eine wissensbasierte und ideologiefreie Diskussion gesellschaftlicher Zukunftsthemen

22.02.2017 -

Professor Gerd Ganteför lehrt am Fachbereich Physik der Universität Konstanz und forscht auf dem Gebiet der Clusterphysik. Der Experte für Nanotechnologie befasst sich auch mit Energie- und Klimafragen, die er mit wissenschaftlichen Fakten zu beantworten sucht. Als Buchautor erhielt er 2014 den Literaturpreis des Fonds der Chemischen Industrie. Zudem ist Ganteför seit vergangenem Jahr „Der Professor“ in der RTL-Wissens-Show „Crash Test Promis“. Im CHEManager-Interview mit Dr. Michael Reubold diskutiert er die Bedeutung der Naturwissenschaften in unserer Gesellschaft und ihre Rolle in den politischen Diskussionen zur Lösung der globalen Herausforderungen.

CHEManager: Herr Prof. Ganteför, noch vor wenigen Dekaden bestaunten die Menschen fasziniert neue technologische Entwicklungen. Es scheint, dass damals eher die Möglichkeiten als die Risiken gesehen wurden. Gibt es eine zunehmende Technologieskepsis in unserer Gesellschaft?

Prof. G. Ganteför: Ja, der Zeitgeist hat sich gewandelt. Und es ist nicht nur der Zeitgeist - die Veränderung in der Einstellung der Menschen geht tiefer. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde die Natur als Bedrohung empfunden. Die Menschen waren Naturgewalten wie den häufigen Sturmfluten an der Nordseeküste hilflos ausgeliefert. Schließlich begann man, die Natur mithilfe der Technik zu zähmen. Heute gibt es in Deutschland keine großen Naturkatastrophen mehr und die Einstellung der Bürger hat sich um 180 Grad gedreht. Gibt es einen Sturm oder eine Überflutung, glaubt man nun, dies wäre durch den Menschen verursacht, ohne den Menschen befände sich die Natur in einem Gleichgewicht. Aber es gibt kein natürliches Gleichgewicht, sondern nur Veränderungen. Ein drastisches Beispiel sind die immer wiederkehrenden Eiszeiten.

„Das Klimaproblem ist ohne Zweifel menschengemacht, aber es ist nicht das dringlichste Problem.“

Der Glaube an eine gutmütige Natur treibt seltsame Blüten. Immer mehr Bürger wenden sich von der modernen Medizin ab und lassen sich nicht einmal mehr impfen. Jedes Produkt, das im Namen das Kürzel „Natur“ oder „Bio“ trägt, wird als „gut“ wahrgenommen. Es ist eine Rückbesinnung auf uralte Werte, denn schon in vorchristlicher Zeit haben die Menschen die Natur verehrt. Dass das Leben damals hart, kurz und voller Leiden war, haben die Bürger vergessen.

Die daraus resultierende Technologieskepsis ist inzwischen tief in der deutschen Gesellschaft verankert, aber sie ist irrational, auch wenn immer wieder mit anscheinend logischen Begründungen argumentiert wird. Beispielsweise ist der von einigen Klimaforschern geforderte Übergang in eine dekarbonisierte Ökogesellschaft keine realistische Lösung für das Klimaproblem, denn die Menschheit wächst noch immer alle 12 Jahre um eine Milliarde. Solange die Menschheit derartig stark zunimmt, wird es nicht gelingen, die Treibhausgasemissionen zu drosseln. In Wahrheit stünde eine Ökogesellschaft den großen Problemen der Menschheit, allen voran Armut und Bevölkerungswachstum, hilflos gegenüber.

Bevölkerungswachstum und Armut, aber auch Ressourcenverbrauch und Klimawandel sind globale Herausforderungen. Welche Lösungsbeiträge könnte die Wissenschaft in der Zukunft zur Bewältigung dieser Probleme anbieten?

Prof. G. Ganteför: Verschiedene Wissenschaftler haben unterschiedliche Lösungsansätze für diese vier großen Probleme. Wichtig ist die richtige Prioritätensetzung! Solange die Weltbevölkerung stark wächst, wird es nicht gelingen, den Ressourcenverbrauch zu drosseln oder die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Das wichtigste Ziel ist also die Stabilisierung der Weltbevölkerung.

„Der einzig gangbare Weg in die Zukunft ist die Weiterentwicklung der Industriegesellschaft in eine Hochtechnologiezivilisation.“

Es gibt eine starke Korrelation zwischen den Geburtenraten und dem Wohlstand. Oberhalb einer Armutsschwelle, die etwa bei einem Zehntel unseres Lebensstandards liegt, sinken die Geburtenraten fast von selbst auf ein akzeptables Niveau. Es genügt also, allen Menschen einen minimalen Lebensstandard zu ermöglichen. Dieses Ziel kann nur dadurch erreicht werden, dass die Weltwirtschaft und insbesondere die Wirtschaft in den armen Ländern weiter wächst, und der Motor für das globale Wachstum sind die Industrieländer, die sich ihrer Verantwortung bewusst sein müssen.

Die gute Nachricht ist, dass die Geburtenraten überall auf der Welt sinken. Die schlechte ist, dass mit wachsendem Wohlstand immer mehr Energie verbraucht wird. Die Menschen in den armen Ländern können sich nur bezahlbare Energiequellen leisten und das sind nach wie vor Kohle, Erdöl und Erdgas. Das bedeutet, die Treibhausgasemissionen werden erst einmal weiter zunehmen. Erst wenn die bitterste Armut verschwunden ist und die Weltbevölkerung nicht mehr stark wächst, kann dem Klima- und Ressourcenschutz eine höhere Priorität eingeräumt werden.

Die momentan diskutierten und praktizierten Lösungsvorschläge, um Ressourcen zu schonen, Energie zu sparen und Emissionen zu reduzieren, gehen aber eher in die entgegengesetzte Richtung. Hilft der Weg zurück in die Vergangenheit?

Prof. G. Ganteför: Einen Weg zurück gibt es nicht. Im Mittelalter standen den Menschen lediglich drei Energieformen zur Verfügung: Biomasse, Wasser und Wind. Der Lebensstandard in Deutschland lag bei etwa einem Zehntel des heutigen Werts. Selbst wenn die Bevölkerung heute eine deutliche Reduktion des Lebensstandards in Kauf nehmen würde, wäre es trotzdem nicht möglich, vollständig zu diesen Urformen der Energie zurückzukehren.

Die Menge an Energie, die sich aus Wasser, Wind, Biomasse und Sonne gewinnen lässt, hängt von der Größe eines Landes ab. Deutschland könnte zwar problemlos 10 Millionen Menschen aus rein erneuerbarer Energie versorgen, aber in Deutschland leben über 80 Millionen Menschen. Diese Einwohnerzahl kann nach heutigem Wissen nur unter massivem Einsatz leistungsstarker Energien wie Kohle, Erdgas, Erdöl und Uran ausreichend versorgt werden. Es ist vielleicht möglich, auf ein oder zwei dieser Energien zu verzichten, aber nicht auf alle vier.

Der einzig gangbare Weg in die Zukunft ist die Weiterentwicklung der Industriegesellschaft in eine Hochtechnologiezivilisation. Dazu muss nach weiteren starken Energiequellen gesucht werden. Parallel müssen die Energieeffizienz weiter erhöht und die Umweltbelastung weiter reduziert werden. Mit einem Systemwechsel in eine Ökogesellschaft würde ein Desaster drohen.

Wir leben in einem „postfaktischen“ Zeitalter, in dem Gefühle und Ängste mehr zählen als Zahlen und Fakten. Selbst bei politischen Entscheidungen werden naturwissenschaftliche Tatsachen immer häufiger ignoriert. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Prof. G. Ganteför: Es ist kein neues Phänomen, dass Parteien oder Religionen die Angst als Druckmittel einsetzen, um die Menschen gefügig zu machen. Die in der Politik engagierten Klimaforscher nutzen die Angst als Mittel skrupellos aus.

Tatsächlich hat die Menschheit ein Klimaproblem und es ist ohne Zweifel menschengemacht, aber es ist nicht das dringlichste Problem und es droht auch nicht schon morgen die Flutung des Kölner Doms. Seriöse Wissenschaftler lassen sich leicht von Untergangspropheten unterscheiden, denn ein Wissenschaftler kämpft gegen die Angst. Leider gehört die Angst heute wieder zum Repertoire vieler Berufspolitiker.

„Die Vernachlässigung der Natur- und Wirtschaftswissenschaften in den Schulen wird sich langfristig rächen.“

Es wäre an der Zeit, dass der Bürger diesen Missbrauch wahr nimmt und sich dagegen wehrt. Er benötigt dafür ein eigenständiges und kritisches Denken. Wie es scheint, wird ihm das in den deutschen Schulen nicht mehr beigebracht. Das wäre ein gravierender Mangel im Bildungssystem einer Demokratie.

Hat unsere Gesellschaft nur noch Zukunftsängste oder gibt es auch noch Zukunftsvisionen? Auf welchen Gebieten erwarten Sie noch die größte Offenheit gegenüber dem technischen Fortschritt?

Prof. G. Ganteför: Die Diskussion über technische Neuerungen ist stark ideologisch geprägt. Es gibt eine fast hysterische Angst vor Dingen, die der Bürger nicht wahrnehmen kann. Die Bürger ängstigen sich vor Handystrahlung, Nanopartikeln, Gentechnik und Kernkraftwerken. Auf der anderen Seite gibt es einen mystischen Glauben an die Solarenergie, die, wenn nur genug Geld in der Forschung investiert wird, auf wundersame Weise das Problem der Energieversorgung lösen soll. Der technische Fortschritt teilt sich in der Wahrnehmung der Deutschen in gute und schlechte Entwicklungen. Es ist kaum vorhersehbar, welche Technologien wie einsortiert werden. Ein Problem ist, dass Organisationen wie Greenpeace, WWF oder German Watch, die weder demokratisch noch wissenschaftlich legitimiert sind, in der Bevölkerung ein höheres Vertrauen genießen und einen stärkeren politischen Einfluss haben als Wissenschaftler aus seriösen Forschungsinstituten.

Wie sollte die ethische Diskussion um die Konsequenzen des technologischen Fortschritts geführt werden und von wem?

Prof. G. Ganteför: Eine ethisch ausgewogene Diskussion der Grundlagen unserer Industriegesellschaft sollte bereits in der Grundschule beginnen. Doch gerade dort wird heutzutage das Fundament für den in Deutschland dominierenden technologiekritischen Zeitgeist gelegt. Schwärmerische Lehrer bringen den Kindern bei, dass die Industriegesellschaft die Natur zerstöre. Eine realistische Darstellung der Lebensumstände der Menschen in vorindustrieller Zeit wird nicht gegeben. Im Gegenteil, es gibt Idealisten, die betonen, wie wirkungsvoll die Heilpflanzen der Urwaldindianer im Amazonasdschungel und wie umfangreich deren Wissen über Naturheilmethoden sei. Über die Fortschritte der modernen Medizin wird in der Schule hingegen kaum berichtet.

Eine einseitige ideologische Einfärbung des Unterrichts – in welcher Richtung auch immer – ist schädlich. Die Vernachlässigung der Natur- und Wirtschaftswissenschaften in den Schulen wird sich langfristig rächen. Das gleiche gilt für die Medien.

Um die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung zu erhalten, wäre es an der Zeit, zu einer sachlichen Diskussion des technologischen Fortschritts auf Basis wissenschaftlicher Fakten und Zusammenhänge zurück zu finden. Der Nutzen des Fortschritts muss ideologiefrei mit den Risiken abgewogen werden.

„Die Diskussion über technische Neuerungen ist stark ideologisch geprägt.“

Und ein Punkt sollte nicht vergessen werden: Die heutige Industriegesellschaft bietet jedem Einzelnen ein ungeheuer hohes Maß an Freiheit. Diese Freiheit ist vielleicht die kostbarste Errungenschaft der zivilisatorischen Entwicklung der westlichen Welt. Die Basis dieser Freiheit ist der Wohlstand, der ein Resultat der hohen Produktivität der Industrie ist. Eine Ökogesellschaft überzieht den Bürger mit unzähligen Vorschriften und Zwängen. Diese Entwicklung deutet sich heute schon an. Technischer Fortschritt bedeutet auch Freiheit und sie ist ein kostbares Gut.

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