Anlagenbau & Prozesstechnik

Prozessautomatisierung auf dem Weg zu Industrie 4.0

Modularität und durchgängige Datenmodelle sollen Wertschöpfung steigern

13.03.2017 -

Die Automatisierungstechnik ist neben der Apparate- und Maschinentechnik die bedeutendste Technologie der Prozessindustrie. Auch als „Elektro-, Mess- und Regelungstechnik“ (EMR) bekannt, ermöglicht sie eine sichere und effiziente Prozessführung und leistet über das Condition Monitoring außerdem einen Beitrag zur Anlagenverfügbarkeit im Asset Management. Heute ist sie der wesentliche Hebel zur Verbesserung der Operational Excellence in unseren Anlagen. Die NAMUR als internationaler Verband der Anwender von Automatisierungstechnik begleitet diesen Weg schon seit über 60 Jahren – weit vor der ersten CHEManager-Ausgabe.

Dieser Artikel soll einen kurzen Einblick in die Entwicklung der Automatisierungstechnik in der Prozessindustrie geben, den aktuellen Stand aufzeigen und die vielfältigen Entwicklungen in klare Zukunftstrends einordnen. Dabei stehen der Fortschritt in der Funktionalität im Vordergrund und weniger die vielfältigen technischen Detaillösungen.

Den Beitrag der Automatisierungstechnik lässt sich anschaulich anhand der Funktionalitäten bzw. der „Bedürfnisse der chemischen und pharmazeutischen Prozesse“ darstellen. Im Laufe der Zeit haben sich mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten die Anforderungen immer weiter erhöht.  Vereinfacht gesagt ist es die Aufgabe der Automatisierungstechnik, die Prozessparameter einer Anlage in einem Bereich zu halten, in dem ein spezifikationsgerechtes Produkt bei hoher Anlagenverfügbarkeit unter wechselnden Randbedingungen sicher und wirtschaftlich produziert werden kann.

Vom Bimetall zu Advanced Process Control

Früher wurden chemische Prozesse vom Menschen gesteuert, in dem der Mensch die Mengen an Einsatzstoffen zugab und die Energiezufuhr regelte. Eine Prozessführung, die wir noch heute beim Kochen praktizieren. Sicherheit und Qualität war nur durch Erfahrung mit den Prozessen zu erreichen. Wer hat nicht schon mal einen Topf überkochen lassen? Der erste Fortschritt lag in der Messung von Prozessparametern. Die erste Temperaturmessung stammt von Galilei aus dem Jahre 1593, die erste Druckmessung 1644 von Evangelista Torricelli. Der Mensch hatte nun die Möglichkeit, Prozesse bewusst zu steuern, in dem er zum Beispiel die Energiezufuhr so regelt, dass sich die gewünschte Soll-Temperatur einstellt. Der nächste Schritt der Automatisierung war der Einsatz eines Reglers. Der erste Regler war der Fliehkraftregler (Zentrifugalregulator) zur Drehzahlregelung von Dampfmaschinen im Jahr 1738. Der erste Bimetallthermostat stammt aus England aus dem Jahr 1830. Die Regelungstheorie dazu wurde in den Jahren 1940 bis 1970 erarbeitet. Die ersten pneumatischen Regelungen in der Chemie wurden in den 50er-Jahren eingesetzt, elektronische Einzelregler in den 60er-Jahren und Prozessleitsysteme ab den 70er-Jahren. Auch in der Anlagensicherheit wurde seit den 70er-Jahren zunehmend Automatisierungstechnik zur Vermeidung unzulässiger Zustände (funktionale Sicherheit) eingesetzt.

Mit dem Einzug von Prozessleitsystemen und der Verbesserung der Messtechnik, insbesondere der Messung von Massenströmen, eröffnete sich die Möglichkeit, komplette Prozesse effizienter und nahe am wirtschaftlichen Optimum (hohe Ausbeute, niedriger Energieverbrauch) betreiben zu können. Dazu werden heute im Rahmen von Advanced Process Control höhere Regelalgorithmen und dynamische Modelle der Prozesse eingesetzt. Zunehmend werden auch die Konzentrationen der relevanten Komponenten online mit Hilfe der Prozessanalysentechnik, z.B. NIR (Near Infra Red – Spektroskopie) gemessen. Übergeordnete MES- (Manufacturing Execution Systems) oder PIMS-Systeme (Process Information & Management Systems) übernehmen die Datenauswertung und Steuerung der gesamten Prozesse oder der Verbundproduktion.

An dieser Stelle stehen wir heute. Wir betreiben sichere, stabile Prozesse nahe am wirtschaftlichen Optimum. Was also erwarten wir von der Automatisierungstechnik der Zukunft?

Mehr Flexibilität für die Produktion

Die gesamte Automatisierungstechnik von den Sensoren und Aktoren auf der Feldebene bis zu MES-Systemen macht heute einen großen Teil der Investitionskosten der Anlagen, aber auch einen Großteil der Betreuungs- und Instandhaltungskosten im Betrieb aus. Wenn wir die „Bedürfnispyramide der Prozessleittechnik“ also weiter hinaufsteigen wollen, muss die Prozessleittechnik kostengünstiger und einfacher werden. Darüber hinaus führt die Individualisierung von Produkten und die schnelleren Produktzyklen unserer Kunden zu höherer Produktvielfalt und schnelleren Produktwechseln, d.h. wir brauchen mehr Flexibilität in der Produktion bei niedrigeren Kosten.

Diese Anforderungen sind auch in anderen Industriebranchen vorhanden. Betrachten wir die Automobilindustrie, die uns in dieser Entwicklung voraus ist. Stellte man vor 20 Jahren noch weitestgehend individuelle Automobilserien her, so führte der Wettbewerbsdruck dazu, dass heute Automobilbauer eine Plattformtechnologie verfolgen. Es gibt standardisierte Plattformen für verschiedene Serien und Module, die für die Plattformen genutzt werden können. Die Standardisierung führt zu größeren Stückzahlen und damit zu Kostensenkungen. Die Variabilität wird durch die vielfältigen Möglichkeiten der Kombination der Module erreicht.

Auch die Prozessindustrie und damit deren Automatisierungstechnik werden diesen Weg gehen. Heute bauen wir noch individuelle Produktionsanlagen aus einem Stück. Allerdings findet bei „Standardfunktionen“, im Wesentlichen in der Infrastruktur, wie z.B. bei der Stickstofferzeugung oder der Kältetechnik, ein erster Schritt der Standardisierung in Form von Modulen als „package-units“ statt. Der nächste Schritt der Standardisierung wird in zwei Ebenen erfolgen. In großen Produktionsanlagen werden die Kernkomponenten standardisiert und es gibt Ansätze, Anlagen komplett modular zu bauen. Dabei werden die einzelnen Prozessschritte (Units) und deren Schnittstellen standardisiert. Die individuellen Anlagen werden dann über die Konfiguration von Standard-Modulen erstellt. Dazu ist die Modularisierung der Automatisierungstechnik notwendig, die intensiv auf der NAMUR-Hauptsitzung 2014 thematisiert wurde. An diesem Konzept wird seit 2014 unter dem Begriff „Dezentrale Intelligenz für modulare Anlagen (DIMA)“ oder „Modul Type Package“ in gemeinsamen Arbeitskreisen der NAMUR und des ZVEI gearbeitet.

Der zweite wesentliche Hebel zur Kostensenkung, aber auch zur weiteren Verbesserung der Prozessführung, liegt in der Inline-Online-Analytik. Heute verlangt die Messung der Konzentration der Prozesskomponenten häufig noch eine aufwändige Probennahme und Probenaufarbeitung. Durch die Weiterentwicklung der Mikrotechnik werden in Zukunft Messtechniken zu Verfügung stehen, welche NIR-Messungen und den Einsatz von Massenspektrometern „inline“ (direkte Messung im Prozess) ermöglichen – dies war das Leitthema der NAMUR Hauptsitzung 2015.

Optimierung der Wertschöpfungsketten

Seit Jahren wird diskutiert, wie weit die „klassische Automatisierungspyramide“ (Feldgeräte/ Prozessleitsystem / MES / ERP) noch die geeignete Struktur für die Automatisierung in der Prozessindustrie ist. Die Anforderungen von Industrie 4.0 nach einem durchgängigem Datenmodell entlang der Kernprozesse Supply Chain und Asset Life Cycle (Produkt- Verfahrensentwicklung / Engineering /Bau /Betrieb) sowie die Forderung, große Datenmengen, zum Beispiel Asset-Informationen, von der Feldebene direkt in Cloud-Anwendungen zur Verfügung zu stellen, verlangt leistungsfähige und flexible Strukturen. Ein Ansatz ist die auf der NAMUR-Hauptsitzung 2016 vorgestellte „NAMUR-Open-Architecture“, die einen direkten Zugriff auf Felddaten ermöglicht, ohne die etablierten, funktionierenden Steuerungs- und Reglungsstrukturen zu gefährden. Ein anderer Ansatz ist die „Open Systems Architecture“, die von Exxon in den USA getrieben wird.

Der Erfolg der Vernetzung in den Dimensionen und damit auch die Frage, ob wir aus der Entwicklung einen wirtschaftlichen Mehrwert generieren, hängt am Ende sehr stark  von der Schaffung standardisierter aber flexibler Schnittstellen ab. Dies ist schon jetzt ein Ergebnis von Industrie 4.0. Nie war die Bereitschaft bei allen Beteiligten dazu höher als heute.  Darüber hinaus wird die Optimierung der Wertschöpfungsketten im Rahmen von Industrie 4.0 nur gelingen, wenn die unterschiedlichen Kompetenzen aus den Bereichen Verfahrens- und Automatisierungs-technik und IT eng vernetzt werden.

Alle Entwicklungen der Automatisierungstechnik müssen sich am Ende daran messen lassen, dass sie die Risiken in der Anlagensicherheit und IT/Automations-Security reduzieren und einen Beitrag zu den Optimierungszielen der Anlagenbetreiber leisten.

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