Strategie & Management

BASF 4.0 – Daten als Rohstoff

Die BASF setzt auf Datenanalysen und iterative Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle

19.06.2017 -

Die Nutzung digitaler Technologien und Daten in der Chemieindustrie schafft Mehrwert für deren Kunden und steigert die Effizienz und Effektivität ihrer Prozesse. Und doch steht die Chemie im Vergleich zu anderen Branchen erst am Beginn ihrer digitalen Transformation. Dr. Andrea Gruß sprach mit Dr. Frithjof Netzer, Senior Vice President BASF 4.0 und Chief Digital Officer, über die digitale Strategie der BASF und deren ersten Erfolge.

CHEManager: Herr Dr. Netzer, was sind die wesentlichen Treiber des digitalen Wandels? Warum spüren wir derzeit eine so starke Beschleunigung?

Dr. F. Netzer: Eine treibende Kraft ist der von Nutzern ausgehende ‚Pull‘. Wir erwarten in unserer privaten Umgebung einen gewisses Komfort-Level, eine Einfachheit und eine sofortige Leistungserbringung und haben wenig Geduld. Dies überträgt sich auch auf den professionellen Kontext.

Dieser Treiber wird verstärkt durch einen starken ‚Push‘ auf der Technologieseite. Es entstehen Infrastrukturen für immer schnellere Datenübertragungsraten. Speicherkapazitäten sind günstiger geworden. Und mit der Cloud-Technologie können Daten heute ortsunabhängig gespeichert und bearbeitet werden. Hinzu kommen technologische Weiterentwicklungen bei mobilen Geräten.

All das zusammen erzeugt eine hohe Dynamik, deren Einfluss wir bei der BASF sowohl von Seite der Mitarbeiter als auch von Lieferanten- und Kundenseite spüren.

Margret Suckale, ehemaliges Vorstandsmitglied der BASF und BAVC-Präsidentin, bezeichnete die Chemieindustrie als „Fast Follower“ der Digitalisierung. Warum beschäftigt sich die Branche später als andere mit dem Thema?

Dr. F. Netzer: Die Digitalisierung ist, wie eben beschrieben, sehr stark vom Konsumenten getrieben. Daher hat sie zunächst die B2C-Branchen erfasst. Amazon, Alphabet, Apple oder Samsung – Unternehmen, die überwiegend im Endkonsumentenbereich unterwegs sind – haben sehr viel früher konkrete Lösungen und Produkte für die Digitalisierung bereitgestellt. Deren Zulieferer, zum Beispiel die Elektronikhersteller Foxconn und Flex, sind der Entwicklung gefolgt und haben ihre Produkte und Prozesse umgestellt. So hat sich die Digitalisierung langsam von der einen in die nächste Branche bewegt.

Mittelbar hat die Chemie als Innovationstreiber schon früh einen Beitrag zur Digitalisierung geleistet, denn viele ihrer Produkte, wie Kunststoffe, Elektronik- oder Batteriechemikalien sind in Displays, Chips oder mobilen Endgeräten enthalten beziehungsweise werden für deren Produktion benötigt.

Zwar ist der Grad der Automatisierung in der chemischen Produktion bereits sehr hoch, doch bei jeder weitergehenden Digitalisierung und Vernetzung chemischer Prozesse müssen stets hohe Sicherheitsanforderungen und -standards berücksichtigt werden.

Aus diesen Gründen ist die Chemiebranche eher ein ‚Late Follower‘ der Digitalisierung. Doch die Branche ist stark in der Entwicklung von B2B-Prozessen, deshalb kann sie sehr schnell folgen.

Welche Rolle nimmt die BASF als weltweit größtes Chemieunternehmen bei der Digitalisierung ein?

Dr. F. Netzer: Die BASF hat den Anspruch, die digitale Transformation in der Chemie anzuführen. Hierzu haben wir eine dreiteilige digitale Vision entwickelt: Zum einen wollen wir unseren Kunden digitale Lösungen für eine höhere Wertschöpfung anbieten. Zweitens wollen wir durch Nutzung digitaler Technologien und verbesserter Datenanalysen die vertikale und horizontale Konnektivität zwischen der BASF, ihren Kunden und ihren Lieferanten weiterentwickeln – für mehr Effizienz und Effektivität. Und drittens haben wir den Anspruch, dass unsere Mitarbeiter den Wert, der hinter der Digitalisierung steht, erkennen und umzusetzen vermögen.

Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um den ersten Teil der Vision, die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle, zu verwirklichen?

Dr. F. Netzer: Die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle ist sicherlich der anspruchsvollste Teil der digitalen Transformation der BASF. Als Chemieunternehmen mit 152-jähriger Historie sind wir traditionell sehr erfahren darin, Assets zu managen, das heißt, Anlagen zu konzipieren, zu bauen, zu warten und deren Nutzung zu optimieren. Bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle verlassen wir diesen tradierten Bereich. Wir müssen Geschäftsmodelle entwickeln, die komplett neue Umsätze generieren, welche idealerweise unabhängig sind von der Menge der produzierten chemischen Substanz. Das können zum Beispiel Dienstleistungen, Plattformlösungen oder Lizenzen sein, die der Kunde vergütet.

Können Sie uns ein Beispiel hierfür nennen?

Dr. F. Netzer: Für unser Gaswäschegeschäft mit Spezialaminen haben wir die Online-Plattform Oase connect entwickelt, die Kunden unterstützt, ihre Anlagen optimal zu betreiben. Hierzu geben wir Kunden Zugriff auf ein digitales Modell ihrer Anlage, um basierend auf unserer Erfahrung und Berechnungsmodellen verschiedene Betriebszustände zu simulieren. Werden die Ergebnisse auf die Anlagen der Kunden übertragen, lässt sich damit der Betrieb optimieren und der Ertrag steigern. Die Ergebnisse führen aber nicht nur zu einem tieferen Verständnis bei unseren Kunden, sondern verbessern auch unser Modell. Ein digitales Geschäftsmodell, das auf einer erhöhten Konnektivität basiert.

Wie entwickeln Sie solche Geschäftsmodelle?

Dr. F. Netzer: Für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle hat die BASF ein eigenes Verfahren entwickelt, den sogenannten Innorate-Prozess. Er beginnt mit einem Workshop, bei dem die Teilnehmer zunächst Ideen für die Nutzung sieben digitaler Schlüsseltechnologien – Augmented Reality, Big-Data-Analysen, mobile Endgeräte, Cloud-Technologie, künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und 3D-Druck – in bestimmten Unternehmens- oder Geschäftsfeldern entwickeln. Doch auf die Ideenfindung entfällt nur ein kleiner Teil des Workshops. Mehr Zeit verbringen die Teilnehmer dann damit, zu erarbeiten, wie aus ihren Ideen marktfähige Produkte und Lösungen werden können.

Nach dem Workshop testen wir unsere Ideen für neue Geschäftsmodelle schnell mit unseren Kunden. Dafür entwickeln wir Prototypen, um ein konkretes Feedback zu bekommen.

Im Gegensatz zu bisherigen Entwicklungsprozessen ist die Entwicklung eines digitalen Geschäftsmodells ein hoch iterativer Prozess. Wir planen nicht zwölf bis 18 Monate voraus, um die perfekte Lösung zu entwickeln, sondern testen ein bis drei Monate, machen dann eine Bestandsaufnahme und starten den Sprint in die nächste Schleife. Daraus leitet sich auch der Name des Verfahrens ab: Innorate ist ein Kunstwort, das sich aus Innovation und Iteration zusammensetzt.

Wachstum durch neue Geschäftsfelder ist eine Chance der Digitalisierung, mehr Effizienz und Effektivität durch moderne Datenanalysen eine andere. Welche Erfolge kann die BASF hier aufweisen?

Dr. F. Netzer: Unter Smart Manufacturing fassen wir den Einsatz digitaler Technologien und die Nutzung von Daten bei unseren Produktionsprozessen zusammen. Ein Leuchtturmprojekt ist hier die vorausschauende Wartung unseres Steamcrackers. Er ist das Herz der Produktion am Verbundstandort Ludwigshafen. Hier wurden schon in der Vergangenheit über Sensoren vielfältige Messwerte, wie Drücke, Durchflüsse, Temperaturen oder Vibrationen, in vielen Anlagenteilen erhoben, auf einer Plattform erfasst und analysiert. Heute gelingt es uns, diese Daten noch sehr viel eleganter zu analysieren und zusammenzuführen. Unsere Programmierer und Prozessingenieure, die die Anlage sehr gut kennen, haben auf Basis vorhandener Daten mathematische Modelle generiert, die die Laufzeit des Crackers mit den genannten Messdaten in Bezug setzt: Werden bestimmte Messwerte in einem Anlagenteil erreicht, stand die Anlage in der Vergangenheit mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit drei Wochen später still. Mit diesen Analysen können wir heute die Anlage vorausschauend warten und so Stillstände vermeiden und Kosten sparen.

In welchen anderen Bereichen setzen Sie auf Big-Data-Analysen?

Dr. F. Netzer: Ein weiteres Leuchtturmprojekt unserer digitalen Transformation stammt aus der Katalyseforschung. Wir entwickeln für unsere Kunden Katalysatorformulierungen, die aus einem Trägermaterial und aktiv wirkenden Metallbeschichtungen, zum Beispiel aus Metalloxiden oder Edelmetallen, bestehen und spezifisch auf eine bestimmte Reaktion wirken. Hier haben wir über die Jahre eine unglaubliche Menge an Daten und Know-how über die Zusammensetzung und Wirkung von Katalysatoren generiert. Beides war nicht immer einheitlich in Datenbanken hinterlegt und wurde an unterschiedlichen Orten gespeichert. Diesem Thema haben wir uns in einem unserer Pilotprojekte der Digitalisierung gewidmet.

In einem ersten Schritt haben wir vorhandene Daten systematisiert, eine Migrationsebene geschaffen und die Daten über eine Benutzeroberfläche zugänglich gemacht. Im zweiten Schritt wurde dann ein mathematisches Modell kreiert, mit dem wir die Selektivität von Katalysatorformulierungen für bestimmte Reaktionen am Rechner simulieren können. Auf diese Weise ist es uns gelungen, die Zykluszeit von der Aufnahme der Anforderungen des Kunden bis hin zur Entwicklung der ersten vielversprechenden Kandidaten drastisch zu verkürzen. Früher hatten wir bis zu 2.400 Stunden dazu benötigt, heute sind es nur noch etwas mehr als 800 Stunden.

Wo sehen Sie weitere Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien?

Dr. F. Netzer: Neue Geschäftsmodelle, Smart Manufacturing oder effizientere Katalyseforschung sind nur drei Beispiele, bei denen der Nutzen von Digitalisierung bei der BASF sichtbar wird. Grundsätzlich betrifft die Entwicklung alle Funktionen. Auch im Einkauf ist es möglich, Modelle zu entwickeln und zu nutzen, mit denen Preis- oder Marktvorhersagen noch treffsicherer möglich sind. Oder im Bereich Finanzen könnte man durch Analyse externer Informationsquellen Kreditrisiken noch sehr viel besser abschätzen. Die Digitalisierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sehr tiefgreifend und breit ist. Vieles ist möglich. Sie brauchen jedoch Menschen, die diese Prozesse antreiben, begleiten und moderieren.

Das bringt uns zurück zum dritten Teil Ihrer digitalen Vision. Was tut die BASF dafür, ihre Mitarbeiter auf die Digitalisierung vorzubereiten?

Dr. F. Netzer: Zum einen bieten wir Programme für alle Mitarbeiter, um das Verständnis digitaler Technologien zu fördern und Bewusstsein dafür zu schaffen, was möglich ist, wenn wir Daten systematisch nutzen. Hier arbeiten wir viel mit Webinaren oder kurzen Videosequenzen.

Darüber hinaus gilt es, zum Beispiel in der Produktion, Mitarbeiter zum Umgang mit digitalen Technologien zu befähigen. Hier setzen wir auf informelle und intergenerative Lernprozesse. So haben wir beispielsweise Mitarbeiter in der Produktion mit Tablets ausgestattet. Viele der jüngeren Mitarbeiterkonnten diese intuitiv bedienen und haben dabei viel über die Prozesse der Anlage von ihren erfahreneren älteren Kollegen gelernt.

Sie begleiten die digitale Transformation der BASF weltweit. Welche regionalen Unterschiede beobachten Sie beim Umgang mit der Digitalisierung?

Dr. F. Netzer: Deutsche gehen das Thema oft sehr technikorientiert an. Alles, was mit Sensorik, Steuerung, mit Konnektivität oder Infrastruktur zu tun hat, fällt uns leicht. Schwerer tun wir uns hingegen mit digitalen Geschäftsmodellen und disruptiven Entwicklungen.

In den USA begegnet man der Digitalisierung dagegen mit mehr Experimentierfreude und aus Sicht des Kunden. Kundengetriebene Verbesserungen mit mehr Convenience und Einfachheit in der Leistungserbringung können dazu führen, dass Unternehmen sich neu orientieren oder plötzlich völlig neue Spieler im Markt agieren.

Asiaten sind stark an Effizienz interessiert und Fans von transaktionalen Plattformen. Insbesondere in China beobachten wir – getrieben durch die Lohnentwicklung – eine starke Orientierung in Richtung Robotisierung. Zum einen setzt man auf ‚Hard Robotics‘, die miteinander kommunizieren und dezentral gesteuert werden, zum anderen auf ‚Soft Robotics‘, also Dienstprogramme, wie zum Beispiel Software zur Spracherkennung.

Was können wir in Deutschland tun, um die Digitalisierung voranzutreiben?

Dr. F. Netzer: Wir müssen Digitalisierung als Chance sehen – als Chance, die Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland nicht nur zu sichern, sondern weiter auszubauen. Um diese Chance zu nutzen, bedarf es jedoch einer größeren Portion Mut und einer positiven Diskussion des Themas in Politik und Wirtschaft.

Wir sind auf einem guten Weg, müssen diesen aber auch noch marschieren. Dabei werden sich sicherlich links und rechts noch interessante Abzweigungen ergeben.