Strategie & Management

Quereinsteiger entdecken die Medizinforschung

Branchenfremde Technologieunternehmen machen Pharma- und Biotechfirmen Konkurrenz

05.02.2018 -

Die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln sowie neuen Therapien ist längst nicht mehr nur das Revier eingesessener Pharma- und Biotechfirmen. Tech- und Internetunternehmen wie Google und Facebook, aber auch riesige Konglomerate wie Samsung sind auf diesem Feld mit neuen Ansätzen und teilweise großem Erfolg aktiv. Etablierte Unternehmen aus diesen Branchen müssen hingegen aufpassen, von der Entwicklung nicht überrollt zu werden.

Die Konzernzentrale von Samsung in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul besteht nicht nur aus einem Gebäude, sondern bildet einen eigenen Stadtteil mit dem Namen „Samsung Town“. Die Stadt in der Stadt ist das Zentrum eines gigantischen Firmenkonglomerats, das weltweit fast 500.000 Menschen beschäftigt und jährlich 174 Mrd. USD umsetzt. Den meisten ist Samsung durch seine Elektronikartikel bekannt – Smartphones, Flachbildschirme oder Computer-Festplatten. Doch der Mischkonzern verkauft auch Lebensversicherungen, betreibt eine der größten koreanischen Werften, stellt Lithium-Polymer-Akkus her, hat den Wolkenkratzer Burj Khalifa in Dubai gebaut und besitzt eine Hotelkette. Und: Samsung ist mit dem 2011 gegründeten Ableger Samsung Biologics auch in der Arzneimittelentwicklung- und -produktion sehr aktiv – und für einen Neueinsteiger überaus erfolgreich.

Wie energisch der südkoreanische Konzern vorgeht, beweist das Unternehmen mit seinen Entwicklungs- und Fertigungsstätten für biopharmazeutische Produkte. Das Design eines erst kürzlich fertiggestellten Standorts im koreanischen Incheon macht es möglich, dass in einer einzigen Anlage zehn Bioreaktoren installiert werden können. Nach Konzernangaben ist der Standort zudem mit einer weltweit einzigartigen Produktionskapazität von 152.000 L fünfmal größer und zehnmal komplizierter als die erste Fabrik des Unternehmens, die eine industrietypische Kapazität von 30.000 L habe. Fast schon eine Randnotiz ist dabei, dass der neue Standort gegen Ende 2017 innerhalb von nur zwei Monaten das Okay sowohl von der US-Zulassungsbehörde FDA als auch von der europäischen EMA bekommen hat. „Samsung Biologics wird der Game Changer der biopharmazeutischen Industrie sein“, schrieb die koreanische Zeitung „Dong-a ilbo“ vor einigen Monaten.

Das könnte auch für die Aktivitäten des Unternehmens im Bereich der Biosimilars gelten, Nachfolgeprodukten von biopharmazeutischen Arzneimitteln. Samsung Bioepis, ein erst 2012 gegründetes Joint Venture mit Biogen, hat es geschafft, innerhalb dieser Zeit die Zulassung für fünf Biosimilars zu erhalten, darunter für Nachfolgearzneien zu milliardenschweren Originalprodukten wie Humira, Herceptin und Enbrel.

Paradigmenwechsel in Gesundheitsbranche

Doch nicht nur die Koreaner sorgen in der Branche für Wirbel. Generell findet in der Gesundheits- und Pharmaindustrie ein handfester Paradigmenwechsel statt. Während die Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln und Diagnostika bislang die Domäne von etablierten Pharma-, -Biotech und Diagnostikunternehmen war, drängen zunehmend neue Marktteilnehmer aus artfernen Branchen in diesen Markt. Darunter sind einerseits kleine, wendige und ideenreiche Start Ups und Biotechunternehmen, die beispielsweise an der Züchtung menschlichen Gewebes forschen, wirkstoffbeladene Mini- und Nanoroboter durch die Blutbahnen zum Krankheitsherd schicken oder 3D-Animationen des Gehirns möglich machen.

Aber auch Technologiekonzerne wie Samsung, Alphabet – die Mutterholding von Google –, oder Amazon finden offenbar zunehmend Interesse an der Gesundheitsindustrie. „Google revolutioniert die Medizin“, schrieb das Nachrichtenmagazin Der Spiegel bereits Ende 2015. So hat Google beispielsweise das Patent auf eine smarte, „intelligente“ Kontaktlinse, die Glukose in der Tränenflüssigkeit misst und damit Diabetikern helfen könnte, ihren Blutzuckerspiegel zu überwachen.

Calico, ein Tochterunternehmen von Alphabet, hat sich den altersbedingten Krankheiten verschrieben und strebt an, Mittel und Wege für ein längeres Leben zu finden. Dabei setzt das Unternehmen auf branchenübergreifende Zusammenarbeit – bei Calico arbeiten Wissenschaftler aus der Medizin, der Arzneimittelentwicklung, Molekularbiologen, Gentechniker und Computerbiologen unter einem Dach.

Calicos Schwesterfirma Verily Life Sciences, ein erst Ende 2015 gegründetes Unternehmen aus der Alphabet-Familie, verfolgt seinerseits sowohl Arzneimittel- als auch Diagnostik- und Medizintechnik-Entwicklungsprogramme. Den Aufbau eines „menschlichen Zellatlas´“ hat hingegen Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zum Ziel. Dabei soll ein mit 600 Mio. USD ausgestattetes Forschungszentrum alle menschlichen Zellen kartografieren und somit den Weg zu neuen Arzneimitteln ermöglichen.

„Reif für eine Revolution“

„Es ist so aufregend, so spannend, was in der Medizin passiert, was für eine Entwicklung, meine Güte“, zitierte vor einiger Zeit Der Spiegel Peter Lee, Forschungschef von Microsoft und Professor für Cybersicherheit. „Die Medizin ist reif für eine Revolution“, so seine Einschätzung.

Die Entwicklung neuer medizinischer Anwendungen durch technologieorientierte Unternehmen ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sich die britische Großbank HSBC in einer Studie mit dem Titel „Techs and Drugs“ eigens diesem Thema widmete. Die Analysten kamen darin zu dem Ergebnis, dass Techfirmen den Einstieg in die für sie neuen Geschäftsbereiche wesentlich schneller umsetzen können als es die etablierten Pharma- und Medizintechnikunternehmen bislang getan haben. Die Autoren gehen zudem davon aus, dass die Infiltration der neuen Mitspieler in die Gesundheitsindustrie weitergehen dürfte.

Im Mittelpunkt stehen dabei meist stets ganz zentrale Fragen: Wie können schwere Krankheiten besiegt werden? Wie können Patienten ihre Lebensqualität zurückgewinnen? Wie kann das Leben verlängert werden? Die Antworten auf derartige Herausforderungen liefert mittlerweile vielfach die Datenverarbeitung. So erforscht Google, wie Algorithmen Hautkrebs auf Fotografien erkennen können, wie Software Depressionen besiegen kann oder wie Herzinfarkte dank künstlicher Nanopartikel in den Blutgefäßen vorhergesagt werden können. Angesichts der ungeheuren Datenmengen, die dabei entstehen, ist deren Management eine der zentralen Herausforderungen der Medizin geworden. „Allein die moderne molekulare Medizin hat im Jahr 2015 mehr Daten erzeugt als im gesamten Zeitraum von 1990 bis 2005“, stellte Burkhard Rost, Professor für Bioinformatik an der Technischen Universität München, fest. In diesem Tempo werde es auch weitergehen.

Kooperationen zwischen Tech und Pharma

Die Antworten auf viele Fragen können dabei oft nur in Kooperation gefunden werden. Deshalb knüpfen die Neu- und Quereinsteiger teilweise enge Bande zu anderen Unternehmen – sowohl aus der Pharmabranche als auch zu technologieorientierten Firmen. So hat Verily Life Sciences mit dem französischen Pharmakonzern Sanofi im Bereich von Diabetes das Joint Venture Onduo gegründet. Sanofi bringt sein Wissen über Diabetes ein, Verily sein Know-how über Technik. Das Schwesterunternehmen Calico hat gleich mehrere Kooperationen mit anderen Techfirmen geschlossen. Und Samsung Biologics arbeitet eng mit der indischen Sun Pharma zusammen.

Dass die Grenzen zwischen Pharma und Technologie-Unternehmen immer mehr verschwimmen, zeigt auch eine aktuelle Untersuchung des Wirtschaftsprüfers KPMG. Demnach registrierte die Life Sciences-Branche als Zeichen für die zunehmenden Digitalisierungsaktivitäten einen Anstieg der Software-Deals von 32 im Jahr 2011 auf 85 Transaktionen in 2017.

Vir Lakshman, Leiter des Bereichs Chemie und Pharma bei KPMG Deutschland: „Die Digitalisierung ist dabei, die Life Sciences-Industrie nachhaltig und grundlegend zu verändern. Insbesondere Technologieunternehmen geben hier den Ton an. Und zwar durch künstliche Intelligenz und die Analyse von Massendaten. Das ermöglicht die Personalisierung von Behandlungen, die Überwachung des Fortschritts und sogar das Auffinden neuer Heilungsmethoden. Life Sciences-Unternehmen bleibt somit kaum etwas anderes übrig, als sich mit Technologieunternehmen zusammenzuschließen oder zusammenzuarbeiten, um das hohe Tempo der Digitalisierung mitgehen zu können.“

Mittlerweile haben die Entwicklungen der digitalen Welt längst erheblichen Einfluss auf den medizinischen Alltag. So gibt es zahlreiche Apps für Smartphones, die dem Nutzer und Patienten das Leben erleichtern wollen. Johnson & Johnson beispielweise hat Apps entwickelt, die an einem bestimmten Standort das durch Pollen verursachte aktuelle Allergiepotenzial in der Luft messen. Konsequenterweise hat der Konzern im vierten Quartal 2017 die Akquisition des deutschen Software-Unternehmens Surgical Process Institute Deutschland GmbH angekündigt, einem führenden Anbieter von Standardisierung und Digitalisierung im Bereich medizinischer Arbeitsabläufe.

Wearables und 3D-Modelle

Daneben haben innovative Unternehmen eine Flut von sogenannten Wearables auf den Markt gebracht, kleinen Geräten, die am Körper getragen werden und mehr oder weniger wichtige Funktionen aufzeichnen. Da gibt es tragbare Messgeräte, die Aufschluss über den derzeitigen Krankheitsstand von Patienten mit rheumatoider Arthritis geben. Andere Apparate erfassen Vitaldaten wie Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Hauttemperatur, Perfusion oder Hautleitfähigkeit und berechnen anhand dieser Werte weitere Daten wie Stressparameter, Atemfrequenz oder Herzratenvariabilität. Durch die enge Überwachung der körpereigenen Funktionen, so die Vorstellung der Erfinder, könnten Krankheiten frühzeitig erkannt werden.

Eine noch junge Disziplin in der Medizin sind 3D-Techniken. Hierzu hat die US-Zulassungsbehörde FDA erst kürzlich Richtlinien für Unternehmen herausgegeben, die mit Geweben, medizinischen Geräten und Arzneimitteln arbeiten, die mittels 3D hergestellt werden. Wie der Branchendienst Stat News berichtet, werde mit derartigen Produkten bereits in US-Krankenhäusern und Forschungslaboren gearbeitet, beispielsweise um Ärzten anhand von 3D-Modellen Hilfestellung bei Knochenoperationen zu geben.

Auch Samsung Biologics gibt sich mit dem Erreichten nicht zufrieden. Kürzlich hat der Konzern weitere 740 Mio. USD in eine dritte Fertigungsstätte investiert mit einer Bioreaktor-Kapazität von zusätzlichen 180.000 L. Sobald die Anlage ihren Betrieb aufnimmt, verfügt Samsung Biologics nach eigenen Angaben mit insgesamt 362.000 L über die weltweit größten Produktionskapazitäten einer Contract Manufacturing Organization (CMO) für die Auftragsherstellung. Damit verfolgt der Konzern nichts Geringeres als seine Position im stark wachsenden Markt der Lohnproduktion für biopharmazeutische Arzneimittel weiter auszubauen. Oder wie es Samsung Biologics-Chef Tae Han Kim ausdrückt: „Samsung Biologics hat die ambitionierte Vision, globaler CMO-Champion zu werden.“ Diese Worte dürften die Wettbewerber mit einer gewissen Nervosität aufgenommen haben.

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