Personal & Karriere

Chemieunterricht – rettet das Experiment

Selbständiges Experimentieren und begeisternde Lehrkräfte fördern das Interesse an der Chemie

15.01.2019 -

Der Grundstock für naturwissenschaftliche Bildung wird in der Schule gelegt. Spannender Chemieunterricht kann Schüler für das Fach begeistern und so auch in Zukunft den dringend benötigten Chemienachwuchs in Deutschland sichern. Doch was macht einen guten Chemie­unterricht aus? Andrea Gruß befragte dazu Chemielehrer und Buchautor Roland Full. Der promovierte Chemiker und Studiendirektor i.R. wurde mit dem Literaturpreis 2018 des Fonds der Chemischen Industrie (FCI) ausgezeichnet.

CHEManager: Herr Full, Chemie und Physik zählen zu den unbeliebtesten Schulfächern in Deutschland. Die Äußerung „von Chemie habe ich keine Ahnung“ gilt geradezu als schick, auch unter gut ausgebildeten Akademikern. Worauf führen Sie diese Haltung zurück?
Roland Full: Das ist in der Tat eine Erfahrung, die alle ärgert und wundert, die sich von der Faszination des Faches Chemie haben anstecken lassen. Auch wenn manche mit ihrem Unwissen kokettieren, im Grunde stellt das dem Chemie­unterricht ein Armutszeugnis aus. Die mangelnde Akzeptanz des Chemie­unterrichtes ist keine neue Erfahrung, aber die Dauerkrise hat leider keine wirkliche „Reforma­tion“ mit einer radikalen Erneuerung angestoßen. Für mich hat die Unbeliebtheit des Faches Chemie keine intrinsischen Ursachen. Anders gesagt: Chemie gilt als schwer, nicht weil sie von Haus aus schwer zu verstehen ist, sondern weil sie falsch gelehrt wird. Schon der große Chemiedidaktiker Hans Rudolf Christen empfahl 1997, mit organischer Chemie zu beginnen, weil sie als klarer und verständlicher empfunden wird. Ich habe die Entstehung des Universums und des Lebens als didaktischen Leitfaden vorgeschlagen, was letztendlich auf die Christen’schen Empfehlungen hinausläuft.

Was kann guter Chemieunterricht dazu beitragen, dass wir auch in Zukunft ausreichend und gut ausgebildeten Chemienachwuchs in Deutschland haben werden?
R. Full: Die Weichen für ein naturwissenschaftliches Studienfach werden in der Schule gestellt. Weichensteller sind Lehrer, die begeistern können. Hier gilt der Grundsatz: Begeisterung in den Herzen der Kinder von heute ist der Keim für die Ideen von morgen.

Was macht einen guten Chemielehrer aus?
R. Full: Christen brachte das schon in den 1990er Jahren auf den Punkt, als er seinen Didaktik-Kandidaten sagte: ‚Es ist weniger wichtig was Sie unterrichten als wie Sie unterrichten!‘ Der Chemielehrer muss die eigene Freude und Begeisterung an seinem Fach spürbar werden lassen und er muss mit klarer Sprache zur didaktischen Reduktion, zur Veranschaulichung und zur Herstellung von Transparenz fähig sein. Wenn solides Fachwissen und experimentelles Geschick zusammenkommen, dann sind beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit im Fach Chemie gegeben.

Was können Experimente im Chemieunterricht bewirken?
R. Full: Experimente sind das Salz in der „Theorie-Suppe“ und erst beide zusammen führen zu einem „schmackhaften Unterricht“. Wenn mir Kinder aus meinem Bekanntenkreis erzählen, dass sie während ihres Chemieunterrichtes am Gymnasium nicht ein einziges Experiment zu sehen bekamen, dann ärgert mich solcher Minimalismus, weil den Schülern eine der attraktivsten Seiten der Naturwissenschaften vorenthalten wird. Experimente sind in der Lehre unverzichtbar, weil sie den fundamentalen Weg aufzeigen, auf dem Naturwissenschaften Erkenntnisse über diese Welt gewinnen. Das bahnbrechende Experiment zum Nachweis von Gravitationswellen ist dafür ein aktuelles Beispiel. Es kann nicht genügen, Schülern im Unterricht nur die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung mitzuteilen. Sie müssen den Weg der Erkenntnisgewinnung auch selbst erleben und gehen. Außerdem ist Experimentieren ein Rezept gegen den dramatischen Verlust fundamentaler manuell-handwerklicher Fähigkeiten bei unseren Kindern.

Wo sehen Sie die größten Hürden für den Experimentalunterricht im Schulfach Chemie?
R. Full: Ich sehe die große Gefahr, dass das Realexperiment auf breiter Front vom virtuellen Experiment verdrängt wird. Schuld daran sind kontraproduktive bürokratische Überregulierungen, aber auch das zunehmende Defizit der Lehrenden an handwerklich-experimentellen Fähigkeiten. Permanent wachsende Negativlisten mit verbotenen Stoffen und Tätigkeiten schaffen ein Klima der Verunsicherung, das massiv um sich greift. Hier muss die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Schaden und Nutzen in der Lehre durch Restriktionen eindringlich gestellt werden. Wollen wir wirklich den Chemieunterricht zu einer Veranstaltung mit Haushaltschemikalien verkümmern lassen und unseren Kindern ein einfältiges Bild von unserer vielfältigen und komplexen stofflichen Welt vermitteln?

Der vom BMBF initiierte Digitalpakt Schule will die digitale Ausstattung von Schulen fördern. Sehen Sie hierin eher eine Chance oder ein Risiko für guten Chemie­unterricht?
R. Full: Chemiker lieben das Experiment, auch das mit Methoden. Die Digitalisierung birgt Chancen, wenn sie die Attraktivität des Lernens fördert. Sie kann das Lernen aber nicht ersetzen und sie darf nicht zum Ersatz für die reale Welt werden, in der wir leben.

Sie haben in den vergangenen 40 Jahren über 130 Jugend-forscht-Projekte betreut. Wie gelingt der Übergang vom angeleiteten Versuch im Schulunterricht über das freie Experimentieren zum selbstständigen Forschen?
R. Full: Experimentieren ist der spielerische Einstieg in zielgerichtetes Forschen. Der Lehrer kann den Forscherdrang von Schülern weck­en und sie in ferne Wissenswelten entführen, aber nur wer selbst brennt, kann auch andere entzünden. Es stellt sich auch die Frage, wie man Lehrer gewinnt, die neben ihrem Unterricht in Forscher-AGs tätig werden wollen. Man muss dafür Anreize schaffen und das geht nicht zum Nulltarif. Es ist ein spannender pädagogischer Prozess, wenn der Schüler sich aus seiner passiven Rolle als Wissenskonsument befreit und zum Produzenten von Wissen wird. Das fördert Schülerqualitäten an den Tag, die dem Lehrer im Klassenunterricht verborgen bleiben.

Chemieforschung arbeitet heute zunehmend interdisziplinär sowohl mit anderen Natur- und Ingenieurwissenschaften als auch mit Sozial- und Geisteswissenschaften. Inwieweit sollte dies bereits in der schulischen Ausbildung berücksichtigt werden?
R. Full: Fachwissenschaft wird immer dann spannend, wenn sie über den eigenen Tellerrand hinausblickt. Fächerübergreifende Aspekte und ein kulturgeschichtlicher Kontext müssen Bestandteil jedes Unterrichtsfaches sein. Chemie und Kunst und Chemie und Musik können sich treffen und in völlig neue Welten entführen, nicht im Routineunterricht, aber in reizvollen Projekten. Schulen brauchen mehr Freiheiten für außerunterrichtliche Aktivitäten, das heißt im Klartext: Sie brauchen mehr Lehrer!

Lernprozesse und -motivationen sind hoch individuell, dennoch setzt das deutsche Bildungssystem auf standardisierte Lehrpläne an Schulen. Ist dies sinnvoll?
R. Full: Standardisierte Lehrpläne sind der Preis für die Regelschule, die den Auftrag hat, alle Schüler eines Jahrgangs auf den gleichen Wissensstand zu bringen. Lehrer müssen lernen, sie nicht als Dogma zu begreifen, sondern sich die Freiheit zu nehmen, je nach Situation individuelle Schwerpunkte zu setzen, ohne Verluste beim Basiswissen in Kauf zu nehmen.

Der Schulalltag hat sich verändert. Einige Eltern sehen eine Überforderung ihrer Kinder durch die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe. Einige Ihrer Kollegen erleben die Schüler von heute als nicht belastbar, interesselos, unkonzentriert oder nicht lernwillig. Welche Entwicklung haben Sie über die vergangenen Jahrzehnte während Ihrer Tätigkeit als Lehrer beobachtet? Wo sehen Sie die Ursachen dafür?
R. Full: In den letzten Lehrerjahren vor meiner Pensionierung erlebte ich bei Schülern einen signifikanten Verlust an Konzentrations-, Aufnahmefähigkeit und Lernbereitschaft, den ich anders bewerte als all die spürbaren Auswirkungen des Zeitgeistes in den Jahrzehnten davor. Zur gleichen Zeit stimmten ihre Eltern öffentlich immer lauter das Klagelied von der Überforderung der Kinder an und übersahen in der aufgeheizten Diskussion um G 8 und G 9 das eigentliche Problem: Der Stress hat weniger mit Reformen in der Schule als vielmehr mit Veränderungen in der Gesellschaft und vor allem mit einem tiefgreifenden Wandel in der Lebenswelt dieser Kinder zu tun.