Logistik & Supply Chain

Chemieverbund: Mensch versus Algorithmus

Möglichkeiten der Steuerung von Wertschöpfungsketten durch digitale Analyse

13.08.2019 -

Der Nutzen von Verbundstrukturen oder Produktionsclustern in der chemischen Industrie ist unbestritten. Die Frage, die sich Chemieunternehmen häufig stellen, ist vielmehr, ob ein bestehender Verbund unter dem Dach eines Unternehmens erfolgreicher ist als in einem Netzwerk rechtlich unabhängiger, aber durch Stoffströme und Lieferbeziehungen verbundener Unternehmen.

Man kann diese Frage auch umdrehen: Damit ein Verbund unter der Kontrolle nur eines Unternehmens wertvoller ist, müsste es ihn effektiver steuern können als die Eigentümer einzelner Wertschöpfungsstufen. Denn der Alleineigentümer verfügt über die Informationen der Produktmärkte aller Auslässe, der Rohstoffmärkte sowie aller Produktionsstufen, so dass er die Gesamtmarge durch Allokations- und Pricing-Entscheidungen optimieren könnte.

Digitale Verbundvorteile
Die Verfügbarkeit und automatisierte Auswertung dieser Informationen zur Margenoptimierung stellt einen echten „digitalen Verbundvorteil“ dar. Wie groß ist dieser Hebel? Simulationen des Beratungsspezialisten Camelot Management Consultants auf Basis realer Daten aus typischen Wertschöpfungsketten (z. B. Cracker – mehrere Stufen von Intermediates – technische Kunststoffe) zeigen auch bei vorsichtigen Annahmen eine Verbesserung von ca. 0,5 Prozentpunkten EBITDA-Marge – ein beachtliches Potenzial, wenn man bedenkt, dass es allein durch bessere Entscheidungsunterstützung gehoben werden kann.
Werden diese Potenziale in Chemieunternehmen heute schon konsequent genutzt? Nach unseren Erfahrungen ist das in sehr unterschiedlichem Maße der Fall. Teils sind die Daten vorhanden, werden aber ad hoc aus einer Vielzahl von Anwendungen oder Business Warehouses herausgezogen und in einer Vielzahl kleiner Tools (oft auf Excel-Basis) ausgewertet. In anderen Fällen gibt es bereits ausgefeilte IT-Lösungen, die aber nur in Teilbereichen des Unternehmens angewendet werden oder die Domäne einzelner Experten sind.
Dabei ist die Steuerung von Wertschöpfungsketten durch digitale Modelle (Value Chain Analytics) eine Chance, allen beteiligten Stakeholdern – vom Product Management über den Vertrieb, das Supply Chain Management bis hin zum Controlling – auf Basis einer einfach zu bedienenden, objektiven und neutralen Plattform zu einer transparenten Diskussion und konstruktiven Zusammenarbeit zu verhelfen.

„Menschliche Intelligenz und Erfahrung wird nicht überflüssig.“


Value Chain Analytics in der Praxis
Unter Verbundstrukturen verstehen wir mehrstufige Wertschöpfungsketten mit Koppelproduktionen und mehreren Auslässen zum Markt (merchant market). Im Idealzustand ermöglicht ein statistisches Modell der Wertschöpfungskette
vollkommene Margentransparenz auf Basis verknüpfter Ist-Daten, und zwar nicht nur für Produkte auf einer Wertschöpfungsstufe, sondern auch in einer konsolidierten End-to-End-Betrachtung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, ohne Rücksicht auf Geschäftsgrenzen und Transferpreise
die Simulation entscheidungsrelevanter Szenarien, z. B. von Rohstoffpreisschwankungen, Marktpreisänderungen oder Änderungen in Transferpreisen und Kundenverträgen die Berechnung optimaler Allokationen, Preismodelle usw., bei denen die Gesamtmarge maximiert wird und dies in Sekundenschnelle, auf Basis akzeptierter Daten, einfacher Bedienung und mit anschaulicher Darstellung (Dashboard). Programmiersprachen mit umfangreichen Funktionsbibliotheken wie R oder Python ermöglichen die Entwicklung solcher Modelle oft in nur wenigen Wochen und zu Kosten, die weit unter denen früherer IT-Lösungen liegen.
Dabei handelt es sich nicht einfach um ein neues „Tool“. Die Wertschöpfungskette mit ihren Freiheitsgraden und taktischen wie strategischen Optionen muss analysiert und die zu modellierenden Parameter abgeleitet werden. Das setzt das Einbeziehen unterschiedlicher Stakeholder voraus, ebenso wie die Entscheidung darüber, ob es ein umfassendes Modell für alle Fragestellungen oder mehrere Modelle für unterschiedliche Stakeholder (z. B. taktische und operative Entscheidungen im SCM vs. strategische Entscheidungen im Produktmanagement oder Vertrieb) geben sollte. Auch müssen die zu unterstützenden Entscheidungsprozesse genau verstanden werden, damit das Modell in der Praxis von den Anwendern auch akzeptiert wird.

„Value Chain Analytics ist nur in einem „agilen“ Projektansatz erfolgversprechend.“

Erfolgsfaktor Stakeholder-Management
Schon zu Beginn eines Value-Chain-Analytics-Projekts ist das Stakeholder-Management also erfolgskritisch. Das bleibt das ganze Projekt über so, denn die Sinnhaftigkeit eines solchen Modells begegnet auch Zweifeln: Soll die Steuerung der Wertschöpfungskette künftig nur noch automatisiert erfolgen? Werden die heutigen Experten mit ihrem Wissen um Restriktionen und Zusammenhänge überflüssig? Ist es überhaupt möglich, alle entscheidungsrelevanten Parameter abzubilden, ohne dass ein solches Modell überkomplex und nicht mehr handhabbar wird?
Auf diese Fragen gibt es zwei Antworten, eine inhaltliche und eine prozessuale. Die inhaltliche Antwort ist differenziert: Einerseits werden

  • komplexe Zusammenhänge vom Modell erkannt und abgebildet.
  • Lücken in den Daten durch statistische Extrapolationen aufgefangen.

Andererseits

  • bildet ein Wertschöpfungskettenmodell die Realität selten vollständig ab (das Schlagwort „Digital Twin“ ist zwar anschaulich, aber nicht immer voll zutreffend). Wo immer sinnvoll, können Vereinfachungen vorgenommen werden, ohne dass die Genauigkeit der Ergebnisse signifikant abnimmt (z. B. Blick auf Kundensegmente anstelle einzelner Kunden)
  • wird es immer Entscheidungskonstellationen geben, die das Modell nicht berücksichtigt – entweder weil sie nicht bekannt oder in der Gegenwart nicht relevant sind.

Die menschliche Intelligenz und Erfahrung wird also nicht überflüssig; die Entscheider können ihre Aufmerksamkeit aber auf Ausnahmesituationen konzentrieren, weil Datenanalysen und Entscheidungen in Standardsituationen weniger Zeit verschlingen. Zudem wird das Modell in regelmäßigen Abständen an veränderte Marktgegebenheiten, Stakeholder-Interessen oder die Nutzererfahrungen angepasst – hier kommen Schnelligkeit und Flexibilität der technischen Grundlage zum Tragen.
Dies führt zur prozessualen Antwort: Eine klassische Entwicklung mit den Phasen Aufnahme der Nutzeranforderungen – Erstellung eines Pflichtenheftes – Programmierung würde Gefahr laufen, dass die Entwicklung immer wieder ins Stocken gerät oder schon bald als obsolet gilt. Zum einen, weil Forderungen unterschiedlicher Stakeholder zu unterschiedlichen Zeitpunkten artikuliert werden. Zum anderen, weil das Verständnis für solche Modelle in dem Maße wächst, in dem die Nutzer es in der Realität sehen und anwenden, was zu neuen und besseren Anforderungen führt.

Agile Entwicklung
Daher ist Value Chain Analytics nur in einem „agilen“ Projektansatz erfolgversprechend. In wenigen Wochen wird ein Prototyp des Modells (oft auch nur eines Teils davon) entwickelt, an dem die Nutzer üben und ihre Anforderungen schärfen können. In mehreren Sprints wird das Modell anschließend vervollkommnet. Vor jedem Sprint erfolgt eine gemeinsame Definition der zu programmierenden Fähigkeiten. Auch Änderungen an bereits erstellten Funktionen sind möglich.
So entsteht eine maßgeschneiderte Lösung, die immer wieder an realen Daten getestet wird und so die Akzeptanz der Anwender erlangt. Der Mensch wird beim Margenmanagement in Verbundstrukturen nicht überflüssig, aber die Balance zwischen Analyseaufwand und Entscheidungen in kritischen Ausnahmesituationen wird neu bestimmt.

Contact

Camelot Management Consultants AG

Radlkoferstr. 2
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