Strategie & Management

Zirkuläre Wirtschaft - Hype oder disruptive Kraft?

Die Kreislaufwirtschaft wird die Rohstoffbasis und die Lieferketten der chemischen Industrie verändern

19.03.2020 - Innerhalb der letzten Jahre hat sich das Thema „zirkuläre Wirtschaft“ zu einem globalen Megatrend entwickelt, der auch die obersten Führungsebenen der Chemieunternehmen beschäftigt. Digitale Technologien können Unternehmen helfen, nachhaltiger zu wirtschaften, Prozesse neu zu gestalten und neue zirkulär basierte Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Stefan Guertzgen sprach mit David Dunn, Senior Director, Global Industry Marketing Chemicals, SAP USA, und Monica Gassmann, Solution Manager Chemicals, SAP Walldorf, um aktuelle und zukünftige Entwicklungen zu diskutieren.

CHEManager: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Triebkräfte für die zirkuläre oder Kreislaufwirtschaft?

David Dunn: Da die chemische Indus­trie danach strebt, Abfall zu reduzieren, effektivere Prozesse und eine nachhaltigere Umwelt zu schaffen, sucht sie nach Konzepten, um die Prozesse der Kreislaufwirtschaft voranzutreiben und die Rentabilität durch eine bessere Nutzung der Nebenströme und die Rücknahme von Abfällen zu steigern. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die diesen Schwerpunkt antreiben. Da wären zu nennen: die Knappheit und schwankende Preise für Rohstoffe, der Druck von Endverbrauchern und nachgelagerten Kunden und neue regulatorische Anforderungen. Zudem ändern sich die Erwartungen der Aktionäre, wenn die Nachhaltigkeit in der breiten Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird.

Gehen wir diese Faktoren doch einmal der Reihe nach durch und beginnen mit de Rohstoffsituation.

D. Dunn: Das Ende der „Öl-Wirtschaft“ ist absehbar. Darüber hinaus sind kritische Rohstoffe nicht nur in ihrer Verfügbarkeit begrenzt, sondern haben auch schwer vorhersehbare Kostenstrukturen, die einen Rentabilitätsdruck erzeugen.  Die Unternehmen suchen nach neuen Wegen, um das Abfallmanagement zu unterstützen und Abfall als Ressource für andere Produktionsbereiche wiederzuverwenden. Dies kann dazu beitragen, die Nachfrage nach Rohstoffen auf Erdölbasis zu verringern. Ein ähnlicher Fall ist das nachhaltige Wassermanagement, das eine verbesserte Filtration und Wiederverwertung nutzt.

Welche Rolle spielt die Erwartungshaltung der Kunden und Endverbraucher?

D. Dunn: Die Verbraucher werden immer umweltbewusster und anspruchsvoller und kaufen ökologisch entwickelte und produzierte Lebensmittel und Waren. Große Global Player haben Zertifizierungsprogramme für ihre Lieferanten gestartet, um die Umweltverträglichkeit ihrer Rohstoffe sicherzustellen. Hier ergeben sich interessante Möglichkeiten für die Blockchain-Technologie in der chemischen Industrie, um die Lieferkettenpfade zu validieren.

Der Druck von Endverbrauchern und Umweltschutzgruppen hat zu neuen Vorschriften geführt, die zum Beispiel Kunststoffe weltweit verbieten oder einschränken. Wir können ein verstärktes Verbot von Einwegkunststoffen und Plastiktüten in den Geschäften feststellen, und die Verbraucher meiden zunehmend Plastikhalme und Einwegkaffeebecher. Um die Einhaltung der Vorschriften durchzusetzen, wurden Bußgelder verhängt. Dies muss nicht unbedingt ein Todesurteil für Kunststoffhersteller bedeuten: Die Wiederverwendung von Kunststoffen könnte für Chemieunternehmen zu einem entscheidenden Gewinntreiber werden, wenn sie sich schnell an neue Vorschriften und neue Prozesse anpassen.

Die Anforderungen an Nachhaltigkeit werden nicht nur von Unternehmen aller Branchen zunehmend unterstützt, sondern spiegeln sich auch mehr und mehr in der Erwartungshaltung der Aktionäre wider. Dies wird zusätzlichen Druck auf die Unternehmen ausüben, um eine schlechte Presse oder das Nichterreichen von nachhaltigkeitsorientierten Zielgrößen innerhalb der Branche zu vermeiden.

„Die Plattform der Zukunft basiert auf dem digitalen und intelligenten Unternehmen.“

Welche wichtigen Initiativen sehen Sie zur Unterstützung der Kreislaufwirtschaft?

Monica Gassmann: Es gibt globale Initiativen, die beginnen, sich für Nachhaltigkeit und die Kreislaufwirtschaft einzusetzen. Diese Organisationen konzentrieren sich darauf, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, um Technologien zu entwickeln, die den Abfall reduzieren, die Nutzung von Ressourcen maximieren und eine nachhaltigere Umwelt schaffen.

Nennen Sie doch einige Beispiele.

M. Gassmann: Die UN-Initiative konzentriert sich auf nachhaltigen Konsum und nachhaltige Produktion, um mit weniger mehr und besseres zu erreichen, wobei die Netto-Gemeinwohlgewinne aus wirtschaftlichen Aktivitäten durch die Verringerung des Ressourcenverbrauchs, des Abbaus und der Verschmutzung während des gesamten Lebenszyklus bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebensqualität gesteigert werden sollen“. Die Europäische Kommission hat kürzlich ein ehrgeiziges Paket zur Kreislaufwirtschaft sowie einen Aktionsplan zur Umwandlung der europäischen Wirtschaft in eine nachhaltigere Wirtschaft auf den Weg gebracht.

Die Ellen-MacArthur-Stiftung arbeitet mit Unternehmen, Regierungen und Hochschulen zusammen, um einen Rahmen für eine Wirtschaft zu schaffen, die von Grund auf restaurativ und regenerativ ist. Ihre Aufgabe ist es, den Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft zu beschleunigen.

Die Alliance to End Plastic Waste, kurz: AEPW, wurde mit über 30 Unternehmen gegründet, darunter vier der fünf größten globalen Chemie­unternehmen. Sie haben sich verpflichtet, Lösungen zu entwickeln, mit denen Kunststoffe rückgewonnen und wiederverwertet werden können und die sie aus dem Meer fernhalten. SAP unterstützt diese Initiativen, arbeitet eng mit der Ellen-Mac­Arthur Stiftung zusammen und ist kürzlich dem EM100 sowie der CEO Carbon Neutral Challenge beigetreten.

„Technologie kann Kunden helfen, Prozesse neu zu gestalten, und neue zirkulär basierte Geschäftsmodelle zu entwickeln.“

Wie können Wirtschaft und Gesellschaft von zirkulären Initiativen profitieren?

D. Dunn: Es gibt eine ständig wachsende Zahl von Anwendungsfällen, da sich Unternehmen auf dieses Thema konzentrieren, aber hier sind einige Beispiele:

  • Marktplätze für Sekundärmaterialien, um den Handel mit recycelten Kunststoffen und Kunststoffalternativen effektiver zu gestalten und zu erweitern.
  • Erweiterte Herstellerverantwortung, die sich auf Produzenten von Kunststoffen und Verpackungsmaterialien konzentriert, um mit Kunden und Verbrauchern zusammenzuarbeiten und nachhaltigere Verpackungen zu entwerfen.
  • Einblicke in die Abfallwirtschaft, die Investoren, Abfallmanager, Verbraucherindustrien und Start-ups zusammenbringen, um in die physische Infrastruktur zu investieren und diese dort aufzubauen, wo sie am meisten benötigt wird.
  • Bürgerliches Engagement zur Aufklärung und Einbindung der Verbraucher, um Materialien an den richtigen Ort zu bringen, damit sie wieder in den Wertstoffstrom statt in den Leckagestrom gelangen.

Welche Rolle können innovative Technologien und Unternehmensnetzwerke spielen?

M. Gassmann: Die Technologie kann Kunden dabei helfen, Prozesse neu zu gestalten, und neue zirkulär basierte Geschäftsmodelle zu entwickeln. Durch die Verfolgung und Rückverfolgung von Produkten und deren Verwendung können Unternehmen Abfälle und Nebenprodukte zurückrufen, um sie in der neuen Produktion zu verwenden. Durch den Einsatz von Konzepten wie Internet of Things, Machine Learning, Blockchain and Artificial Intelligence können Unternehmen Prozesse für eine effektivere Produktion und Nutzung von Anlagen, Rohstoffen und Abfallströmen umgestalten und damit letztlich Emissionen reduzieren.

Die Nutzung von Netzwerken oder Marktplätzen für den Kauf und Verkauf von aufgearbeiteten Rezyklaten und Nebenströmen kann den Gesamtabfall reduzieren und Gewinne aus einem potenziell früheren Abfallstrom erzielen. Die Technologie spielt eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung und Optimierung dieser Interaktionen zwischen Organisationen, um diese Ströme zu kaufen, zu verkaufen und zu handeln.

Was ist unter Berücksichtigung der genannten Entwicklungen Ihre Vision einer Plattform der Zukunft?

D. Dunn: Die Plattform der Zukunft basiert auf dem digitalen und intelligenten Unternehmen. Ein digitaler Kern, der die Verwaltung von Rohstoffen, Produkten und Abfallströmen vorantreibt, aber dann auch Lösungen für die Umsetzung nachgelagerter Prozesse bietet. Schlüssel dazu sind die Schaffung von Marktplätzen, um die Wiederverwendung von Produkten und Strömen zu unterstützen; die Förderung bewährter Praktiken bei der verantwortungsvollen und nachhaltigen Produktentwicklung und -produktion; die Nachfrage nach Einblicken in die Start-up-, Investoren- und Abfallsektoren und die Einbeziehung der Verbraucher in nachhaltigere Lösungen.

Die Nutzung von Daten und Analysen wird ebenfalls eine Schlüsselrolle spielen, wenn Unternehmen beginnen, sich auf Kennzahlen zu stützen, die Nachhaltigkeit auf dynamischere Weise messen, wie z.B. Kohlenstoff-Fußabdruck, Emissionen, Einsatz erneuerbarer Energien, sogar bis hinunter auf die Ebene von Anlagen und Produkten. Man kann nicht regeln und optimieren, was man nicht messen kann, so dass ein erhöhter Bedarf an diesen Daten in einem messbaren Format nicht nur innerhalb des Unternehmens, sondern auch in der gesamten Branche und darüber hinaus für Benchmarking-Zwecke und finanzielle Messungen besteht.

Zu den Personen

David Dunn hat seine 35-jährige Karriere in der chemischen Industrie und in deren Umfeld verbracht. Der Chemie­ingenieur war in der Industrie in zahlreichen Positionen tätig und hat einen starken Hintergrund in der Fertigung, im Betrieb und in der Produktentwicklung. Er trat 2007 als Industry Principal for Chemicals zum ersten Mal bei SAP ein und ist seit Anfang 2020, nach einer kurzen Zeit bei SAP-Partnern, Global Industry Marketing Lead for Chemicals bei SAP.

Monica Gassmann verfügt über fast 30 Jahre Erfahrung in der Chemie- und Technologiebranche. Sie ist seit dem Jahr 2000 bei SAP und war in dieser Zeit als Global Product Manager für Supply Chain Management und als Solution Manager in den Bereichen Supply Chain, Fertigung und Beschaffung für die chemische Industrie tätig. Derzeit ist sie Global Lead for Circular Economy für die chemische Industrie. Vor ihrem Eintritt bei SAP erwarb sie einen Bachelor-Abschluss in Business Administration und war als Produktmanagerin und SCM-Expertin für BASF tätig.

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