Strategie & Management

Klimaschutz durch Power-to-X

Chemie- und Stahlkonzerne setzen auf grünen Wasserstoff, um Klimaziele zu erreichen

09.04.2020 - Nutzen Chemieunternehmen sog. grünen Wasserstoff zur Elektrifizierung ihrer Anlagen oder als Ersatz für fossile Rohstoffe in der Produktion, können sie ihren CO2-Ausstoß stark senken.

Schon bald dürfte deutlich mehr bezahlbarer Wasserstoff zur Verfügung stehen, der mit Strom aus erneuerbaren Energien hergestellt wurde und deshalb klimaneutral ist. Nutzen Chemieunternehmen den sog. grünen Wasserstoff zur Elektrifizierung ihrer Anlagen oder als Ersatz für fossile Rohstoffe in der Produktion, können sie ihren CO2-Ausstoß stark senken. Wichtig ist, schon jetzt die Vorteile von Wasserstoff für den eigenen Betrieb zu prüfen sowie die richtigen Partnerschaften mit Energiekonzernen oder Leitungsbetreibern einzugehen. Und, falls möglich, die eigene Materialkompetenz bei der Weiterentwicklung von Brennstoffzellen sowie Anlagen zur Elektrolyse einzubringen.

Bereits 1994 gab es das erste Auto mit Brennstoffzelle. 2002 begann dann die Kleinserienproduktion: 2 kg Wasserstoff an Bord erlaubten eine Reichweite von gut 150 km. Umfassende Markterfolge mit Wasserstoff blieben im Automobilbereich jedoch aus, obgleich er zwischenzeitlich gar als der Treibstoff des 21. Jahrhunderts galt. Doch für die breite Öffentlichkeit war die Elektromobilität der Zukunft schnell mit Strom via Batterien verbunden. Energie aus der Brennstoffzelle spielt bei der Diskussion um individuelle Mobilität kaum mehr eine Rolle, obwohl dabei als Abgas nur Wasserdampf in die Umwelt gelangt.

Stahlkonzerne wollen Wasserstoff statt Einblaskohle in den Hochöfen verwenden
Für die Wirtschaft insgesamt sieht das anders aus. Um Wasserstoff geht es nicht nur in den sog. Kopernikus-Projekten zum Thema Power-to-X. Diese beschäftigen sich mit der Frage, wie man Ökostrom, der bei der Gewinnung nicht direkt benötigt wird, einsetzen kann, um ihn später zu nutzen oder außerhalb der Energieversorgung fossile Rohstoffe zu ersetzen. Momentan läuft auch die Feinabstimmung einer nationalen Wasserstoffstrategie, mit der die Bundesregierung Deutschland eine Vorreiterrolle sichern will. Vor allem geht es um die Versorgung der Industrie mit Wasserstoff, der durch Strom aus regenerativen Energiequellen wie Wind-, Solar- und Wasserkraftanlagen erzeugt wird. Dieser sog grüne Wasserstoff ist essenziell, um die Klimaziele bis 2050 zu erreichen – dann soll Deutschland weitgehend klimaneutral sein. Auf der Suche nach dem besten Weg, um ihre CO2-Emissionen zu reduzieren, entdecken diverse Branchen nun die Vorzüge des Energiespeichers Wasserstoff. In der Stahl­industrie etwa ist klar, dass nur der Verzicht auf den Einsatz von Kohle das Klimaziel erreichbar macht. In den Hochöfen kann künftig Wasserstoff in Teilen Kokskohle ersetzen; in Elektro-Lichtbogenöfen könnte mittels Wasserstoff direkt reduziertes Eisen (DRI) verarbeitet werden. Das würde die traditionelle Hochofenroute obsolet machen.

Chemieunternehmen können mit Wasserstoff den CO2-Ausstoß reduzieren
In ähnliche Richtungen denken inzwischen erste Chemieunternehmen, die vor vergleichbaren Problemen stehen. Sie müssen den Einsatz fossiler Rohstoffe dramatisch reduzieren: beim Betrieb energie­intensiver Produktionsanlagen und als Material, das in den Anlagen weiterverarbeitet wird. Die Zahlen sind eindeutig: 14 % des globalen Öl- sowie 8 % des Erdgasverbrauchs entfallen laut Internationaler Energieagentur (IEA) auf Chemiebetriebe.

„Durch grünen Wasserstoff zur Elektrifizierung
ihrer Anlagen oder als Ersatz für fossile Rohstoffe
können Chemieunternehmen ihren CO2-Ausstoß stark senken.“

Götz Erhardt,
Geschäftsführer und Leiter des Bereichs
Grundstoffindustrien und Energie, Accenture

Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland, so der Verband der Chemischen Industrie (VCI), nutzt umgerechnet gut 137 TWh Erdgas jährlich, wovon etwa ein Viertel in der Produktion und der Rest weitgehend thermisch verwendet wird. Werden diese fossilen Brenn- und Rohstoffe durch grünen Wasserstoff ersetzt, lassen sich die Treibhausgasemissionen der Branche massiv verringern.

Green Deal der EU und nationale Wasserstoffstrategie öffnen Aussicht auf Fördermittel
Unter erheblichem Druck, ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren, stehen Branchen wie Chemie, Zement und Stahl nicht nur, weil sie zum Erreichen der nationalen Klimaziele verpflichtet sind. Auch die EU-Kommission strebt die Klimaneutralität der Europäischen Union bis 2050 an. Sie plant ein europäisches Klimaschutzgesetz, das ihren sog. Green Deal von einer politischen Verpflichtung zur rechtsverbindlichen Vorgabe macht. Dadurch sollen Investitionen in mehr Klimaschutz attraktiver werden. Hier liegen große Chancen für innovations- oder investitionsfreudige Unternehmen: Mit Green Deal und nationaler Wasserstoffstrategie werden voraussichtlich Finanzspritzen zur Entwicklung neuer Klimaschutztechnologien sowie Fördermittel für CO2-neutrale Produktionsanlagen verbunden sein. Diese sollen den Übergang für die Wirtschaft erleichtern. Im Gespräch sind auch Einfuhrabgaben auf Importprodukte, die unter hohem CO2-Ausstoß hergestellt wurden. Wer im Ausland mithilfe veralteter, klimaschädlicher Verfahren billig fertigt, soll keine Preisvorteile gegenüber jenen haben, die in Europa mithilfe moderner Technologie klimafreundlicher, aber auch teurer produzieren.

Kapazität zur Wasserstoffherstellung via Elektrolyse soll bis 2025 steigen
Chemieunternehmen, die Investitionen und Geschäftsstrategien langfristig planen, sollten dies unbedingt mit Blick auf die nationale Wasserstoffstrategie sowie den Green Deal der EU tun. Am Wasserstoff dürfte für viele kein Weg vorbeiführen. Eine Studie des Hydrogen Council zeigt, dass die Herstellungskosten von Wasserstoff binnen zehn Jahren um bis zu 50 % fallen werden, was ihn bei vielen Anwendungen im Vergleich zu konventionellen Energieträgern konkurrenzfähig macht. Grünen Wasserstoff zu gewinnen wird immer günstiger, weil der Preis für erneuerbare Energie sich seit 2010 um 80 % verringert hat und weiterhin fällt. Zudem soll die Kapazität zur Wasserstoffherstellung via Elektrolyse von 2015 bis 2025 um das 55-Fache steigen. Seit 2017 wurden rund 30 neue Großprojekte im Wasserstoffbereich angekündigt. Die Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber etwa plant in Deutschland derzeit ein 5.900 km langes Wasserstoffnetz.

Konsortien aus Energiekonzernen, Leitungsbetreibern und Kunden machen Tempo
Jedes Chemieunternehmen sollte rechtzeitig klären, in welcher Form es vom Wasserstoffeinsatz profitiert und wie entsprechende Modelle konkret aussehen können (vgl. Kasten). Derzeit sortieren sich Unternehmen rund um das Thema Wasserstoff neu. Aktiv waren hier bislang vor allem Pioniere und Start-ups, die Themen wie Power-to-X vorantreiben. Inzwischen bilden Öl- und Gaskonzerne zusammen mit Energieversorgern, Infrastrukturanbietern und teilweise potenziellen Kunden neue Partnerschaften. Ein Konsortium aus dem Leitungsbetreiber Gasunie, dem Hafen Groningen und dem Ölkonzern Shell will unter der Bezeichnung „NortH2“ aus Windenergie jährlich 800.000 t Wasserstoff produzieren. Der Chemiekonzern Evonik, das Ölunternehmen BP, die Leitungsbetreiber Open Grid Europe (OGE) und Nowega sowie der Stromkonzern RWE planen als Initiative „Get H2“ eine 100-MW-Elektrolyse in Lingen sowie eine 130 km lange Wasserstoffpipeline ins Ruhrgebiet. OGE und der Gasförderer Equinor versorgen im Projekt „H2morrow“ künftig Thyssenkrupp mit klima­freundlich hergestelltem Wasserstoff aus Norwegen. Ein Chemiekonzern als Großkunde wäre an dieser Stelle auch vorstellbar.

Der Wasserstoff sollte mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt werden
Welche Art von Partnerschaft optimal ist, muss jeder Chemiebetrieb für sich klären. Wer Wasserstoff in großem Stil nutzen will, um die Anlagen zu elektrifizieren und ihn direkt in der Produktion zu verarbeiten, sollte eine führende Position in der Kooperation anstreben oder eventuell selbst eine Elektrolyse betreiben. In neuen Prozesstechnolo­gien auf Basis des billiger werdenden Wasserstoffs liegen ebenfalls hohe CO2-Einsparpotenziale. Den größten Hebel zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes bieten zwei Verfahren: die Anlagenelektrifizierung via Wasserstoff sowie die Verarbeitung von Kohlenwasserstoffen, die mithilfe von Wasserstoff synthetisch hergestellt werden und als Öl- und Gasersatz funktionieren. Zudem sollte das Thema in die Gespräche zum Stromeinkauf eingebunden werden. Wer Rahmenverträge schließt, muss Strom aus klimaneutralen Quellen ordern. Das kann auch Wasserstoff sein. Denn alle entlang der Versorgungskette und in der eigenen Produktion entstehenden Emissionen fließen in die CO2-Bilanz ein. Bei jedem Einsatz von Wasserstoff ist zu prüfen, dass er mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt wurde – nur dann ist er grün, also wirklich klimaneutral.

Materialien von Chemiebetrieben könnten Wasserstoffeinsatz wirtschaftlicher machen
Kleinere Chemieunternehmen oder Nischenanbieter sollten prüfen, ob eine Elektrifizierungsstrategie für ihr Unternehmen in Frage kommt oder sie die Möglichkeit haben, fossile Rohstoffe in der Produktion durch Wasserstoff zu ersetzen. Für manche Betriebe der Spezialchemie birgt der Trend zum Wasserstoff auch die Chance auf neue Umsätze. In der Herstellung wie auch in der Anwendung von Wasserstoff steckt noch viel Verbesserungspotenzial. Derzeit erfordert die Elektrolyse von Wasser noch den Einsatz teurer und empfindlicher Edelmetalle als Katalysatoren. Wer hier Ersatzwerkstoffe findet, darf auf gute Geschäfte hoffen. Gleiches gilt für die Entwicklung preiswerter, haltbarer Komponenten für den Betrieb von Brennstoffzellen, also die Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff zur Stromerzeugung. Dass sich hier Interessenten in Position bringen, zeigen verstärkte M&A-Aktivitäten: Zunehmend werden Spezialisten gekauft, deren gute Ideen für Materialien der Zukunft den Wasserstoffeinsatz noch wirtschaftlicher machen könnten. Hier spielen auch die Autokonzerne eine wichtige Rolle: Für sie würde die Brennstoffzelle interessanter, wenn es preiswerten Wasserstoff sowie verlässliche, bezahlbare Materialien für Brennstoffzellen gibt. So könnte der Trend zum Wasserstoff doch noch die Autos erreichen – und für Chemieunternehmen mit entsprechender Materialkompetenz interessant werden.

So profitieren Chemieunternehmen vom Trend zum Wasserstoff
CO2-neutraler Anlagenbetrieb: Die Elektrifizierung der Produktion birgt großes Potenzial zur CO2-Einsparung. Steamcracker laufen z.B. bei einer Temperatur von 850°C – derzeit durch den Einsatz fossiler Brennstoffe. In Zukunft könnte Wasserstoff den Strom zum Aufheizen eines Steamcrackers sowie den Betrieb anderer Anlagen liefern. Wird der Wasserstoff mithilfe von Wind- oder Solarenergie erzeugt, sind die Produktionsprozesse dann im Idealfall völlig CO2-neutral.

Substitution fossiler Rohstoffe: Derzeit erfordert die Produktion von Kunststoff, Dünger oder Farben und Lacken in hohem Maße den Einsatz fossiler Ressourcen: Erdgas oder Rohöl wird in seine chemischen Bestandteile zerlegt, die als Basis zur Herstellung der gewünschten Verbindungen dienen. Wäre genug Wasserstoff verfügbar, ließen sich durch die Zugabe von CO2 synthetische Kohlenwasserstoffe und daraus viele Folgeprodukte herstellen, etwa Ethylen Ammoniak. Erdgas oder Rohöl müssten nicht mehr gecrackt werden.

Entwicklung neuer Materialien: Mit dem Elektrolyseur wird Wasser unter Einsatz von Strom in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten. In der Brennstoffzelle reagieren diese Gase, es entsteht Strom. Um diese beiden chemischen Reaktionen zu optimieren und ihre Nutzung wirtschaftlicher zu machen, wird an der Verbesserung der eingesetzten Technologien und Materialien gearbeitet. Chemieunternehmen könnten mit ihrer Werkstoff-Expertise die Entwicklung von Katalysatoren ohne Edelmetall unterstützen.
 

ZUR PERSON
Götz Erhardt ist seit dem Jahr 2000 für Accenture tätig; seit 2015 hat er die Position des Geschäftsführers für den Bereich Grundstoffindustrie und Energie inne. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung mit Fokus auf die produzierende Industrie. Zu seinen Schwerpunktthemen zählen strategischer Wandel, Digitalisierung und Industrie 4.0 sowie marktorientierte Organisation. Erhardt studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin und absolvierte einen MBA an der University of Bradford in Großbritannien.

QUELLEN:

Dena, German Energy Agency, „Feedstocks for the chemical industry”, 06.2019
https://www.dena.de/fileadmin/dena/Publikationen/PDFs/2019/Feedstocks_for_the_chemical_industry.pdf

Verband der chemischen Industrie e.V., „Wasserstoff macht mobil und hilft der Industrie“, 27.06.2019,
https://www.vci.de/themen/energie-klima-rohstoffe/rohstoffe/wasserstoff-macht-mobil-und-hilft-der-industrie-rohstoff-der-zukunft.jsp

Hydrogen Council, „Up to 50% cost reduction appears achievable within this decade as scale up accelerates”, 20.01.2020,
https://hydrogencouncil.com/en/cost-reduction-study-announcement/

Hydrogen Council, Studie „Path to hydrogen competitiveness, a cost perspective”, 20.01.2020,
https://hydrogencouncil.com/wp-content/uploads/2020/01/Path-to-Hydrogen-Competitiveness_Full-Study-1.pdf, S. 3 Grafik 1

FNB Gas, „Fernleitungsnetzbetreiber veröffentlichen Karte für visionäres Wasserstoffnetz (H2-Netz)“, 28.01.2020,
https://www.fnb-gas.de/fnb-gas/veroeffentlichungen/pressemitteilungen/fernleitungsnetzbetreiber-veroeffentlichen-karte-fuer-visionaeres-wasserstoffnetz-h2-netz/

Chemie Technik, „Gasunie und Shell starten Europas größtes Projekt für grünen Wasserstoff“, 02.03.2020,
https://www.chemietechnik.de/gasunie-und-shell-starten-europas-groesstes-projekt-fuer-gruenen-wasserstoff/

OGE, „H2morrow – heute handeln, um bis 2050 treibhaus­gasneutral zu sein“, 08.10.2019,
https://oge.net/de/wir/projekte/h2morrow

Contact

Accenture

Campus Kronberg 1
61476 Kronberg
Hessen, Germany

+49 6173 94 99