Chemie & Life Sciences

Neuausrichtung der Farben- und Lackbranche erfordert Umdenken

Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Funktionalität stehen im Vordergrund

17.03.2021 - Die größte Herausforderung für die Branche ist der Green Deal.

Viele Jahrzehnte haben wissenschaftlicher Fortschritt und das technisch Machbare unseren Wohlstand geprägt. Nachhaltigkeit und erneuerbarer Kohlenstoff greifen nun in die Argumentation ein. Begriffe und Initiativen wie Kreislaufwirtschaft und Bioökonomie oder der Green Deal der Europäischen Union und die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen werden diskutiert. Wo steht die Lackbranche?

Wer vor der Pandemie Lackexperten zu einem Branchenthema sprechen wollte, besuchte Seminare oder Konferenzen. Doch auch auf diesen etablierten Formaten war es schwer, gleichzeitig eine größere Personengruppe in den Austausch über die Zukunft der Lackbranche zu bringen; etwa um Fragen der Nachhaltigkeit oder den Einfluss der Digitalisierung auf das Geschäft und die Märkte zu adressieren.

Umfrage zeigt Handlungsbedarf

Das Bedürfnis sich über die Zukunft der Lackbranche auszutauschen ist jedenfalls vorhanden. Zur Anreicherung der Gespräche wurde Ende 2020 eine Umfrage durchgeführt, an der 107 Personen teilnahmen, davon mehr als 80 % direkt aus der Lackbranche. Die Umfrage, die derzeit vollumfänglich ausgewertet wird, ist ein Stimmungsbild, um nun weiter zu denken und zu handeln.
Nach Meinung aller Teilnehmenden ist der Green Deal – Klimaneutralität bis 2050 – die größte Herausforderung für die Branche, gefolgt von der durch Regularien beeinflussten Rohstoffverfügbarkeit. Bemerkenswert: die regulatorische Rohstoffsituation wird häufiger als Herausforderung genannt, als das Aufbrechen internationaler Lieferketten. Die Pandemie hat in der Lackbranche bis Ende letzten Jahres das Vertrauen in ihre Wertschöpfungskette scheinbar nicht erschüttert. Druck auf die Branche kommt eher von außen, weniger von innen, auch wenn einige intern die Bereitschaft zu Veränderungen vermissen.

In der Neuausrichtung der Lackbranche werden große Chancen gesehen! Doch wo liegen diese? Nachhaltigkeit, Digitalisierung und funktionelle Lacke, die neben Schutz auch etwa noch antimikrobielle Eigenschaften zeigen, wurden in der Umfrage als die drei Themenfelder mit dem größten Potenzial bewertet. Doch während die älteren Teilnehmenden sich eher für die Funktion entschieden (Produkt vor Methodik), setzen die Jüngeren auf Nachhaltigkeit (Methodik vor Produkt). Und die Digitalisierung? Auch sie wurde eher von den Jüngeren genannt, wenngleich Digitalisierung ihre Stärken in beide Denkrichtungen entfalten kann.
 

Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Lackbranche

Die Verzahnung von Digitalisierung und Handeln wird relevanter: Mit datenbasierten Vorhersagen durch Algorithmen können Versuchsreihen – inklusive der damit verbundenen Minderung des Einsatzes von Material, Energie, Zeit und Personal – optimiert werden, verknüpft mit einem positiven Impuls für die Nachhaltigkeitsbilanz. Jede Beschichtung, die mittels ausgetauschter Daten perfekt auf die Anwendung zugeschnitten geliefert und appliziert wird, ist eine eingesparte Reklamation und vermiedener Abfall. Und speziell mit Blick auf zu erwartende Regularien beim Einsatz spezieller Ausgangsstoffe stehen für die Entwicklungsabteilungen viele Rezeptur-Adaptierungen oder gar Neu-Entwicklungen an, die mit Algorithmen deutlich effektiver und effizienter zum Ziel gebracht werden könnten.

Beim Blick auf den Lebenszyklus eines Lacks werden weitere ­Chancen durch nachhaltiges Handeln offensichtlich: Fossile Rohstoffe können bereits selektiv durch biobasierte Rohstoffe aus Biomasse oder Reststoffen ersetzt werden. Die Herausforderungen liegen im Nachweis des biobasierten Anteils und der Integration neuer Rohstoffe in Formulierungen, da diese häufig andere chemische Eigenschaften aufweisen. Dies erfordert häufig auch Umstellungen in der Herstellungsrezeptur. Die Aufgaben sind komplex verzahnt, aber die Lösungen adressierbar. Eine zusätzliche Funktion des Lacks könnte so auch darin liegen, dass ein lackiertes Wertstück oder der Lack selbst am Ende recycelt werden kann. Fragen nach der Bewertung des Lebenszyklus betreffen die Beschichtung eines Coffee-to-go-Bechers genauso wie den Verbleib von Auto- oder Schiffslacken.

Verantwortliches Handeln

Startpunkte sind vorhanden. Doch wer sitzt am Steuer? Die Befragten sehen die Lackfirmen als Treiber für Nachhaltigkeit vorn, dicht gefolgt vom Endverbraucher. Die Eigenverantwortung wiegt hoch. Politik und Verbände sehen die Befragten weniger in der Pflicht. Die Änderung muss, laut Mehrheit der Befragten, aus sich heraus gestaltet werden. Dies kann allenfalls durch eine Branchen-Initiative, in der auch der Mittelstand Gehör findet, bestärkt werden. Der Einsatz von erneuerbarem Kohlenstoff im Allgemeinen und biobasierter Rohstoffe im Speziellen können eine Strategie für den Lack-Mittelstand sein, so vereinzelte Stammtisch-Teilnehmer.
Und auch die Digitalisierung bietet Chancen. Entscheidend ist, ob Budget und Ressourcen, d .h. Fachkräfte sowie Hard- und Software, verfügbar sind. Hier kann der Mittelstand seine schnellen Entscheidungswege nutzen. Das Argument, es sei bei kleinen und mittleren Unternehmen zu wenig Know-how und Zeit für diese Fortschrittsthemen vorhanden, zieht nicht: die Hälfte der in dieser Gruppe Antwortenden bezeichnen die Lage zwar als komplex, doch gleichzeitig haben 40 % bereits Instrumente der Digitalisierung in Planung und Umsetzung. Großunternehmen sind in der Regel einen Schritt voraus, doch einig sind sich alle: Die positiven Auswirkungen auf Umwelt und Geschäft werden sich erst mittelfristig einstellen.

Ausblick

Lässt sich die Lackbranche mit einem Online-Stammtisch voranbringen? Stand am Anfang das gegenseitige Kennenlernen und Netzwerken im Vordergrund, findet sich jetzt eine Antwort beim Stammlack im Januar zum Thema Kooperation. In allen fünf Gruppen, in denen diskutiert wurde, herrschte der gleiche Tenor: Zusammenarbeit über die Firmengrenze hinaus ist schwierig, weil man sich nicht kennt und das Tagesgeschäft Vorrang hat. Gleichzeitig saßen aber alle Teilnehmenden in genau dieser Konstellation ganz locker digital zusammen: die Demonstration des genauen Gegenteils. Die Basis für ein gemeinsames Momentum ist gelegt.

Autoren:
Holger Bengs, Geschäftsführer, BCNP Consultants GmbH, Frankfurt am Main
Elisabeth Moshake, Technische Marketing Managerin, HOBUM Oleochemicals GmbH, Hamburg
Ulf Stalmach, Key Account, Manager, Orontec GmbH & Co. KG, Dortmund

 

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STAMMLACK: EIN STAMMTISCH FÜR DIE LACKBRANCHE
Seit Mai 2020 findet der Stammlack – ein monatlicher digitaler Stammtisch – national und seit September international statt. Der themenbezogene Stammtisch widmet sich zentralen Herausforderungen der Lackbranche und umfasste zuletzt mehr als 60 Teilnehmende. Dabei lesen sich die Unternehmen der Teilnehmenden wie das „Who’s who“ der hierzulande mittelständisch geprägten Branche, von A wie Aschaffenburger Lackfabrik über u. a. Brillux, Brocolor, Ewald Dörken, Mankiewicz, Marabu oder Remmers bis Z wie Zuelch Industrial Coatings. Vielleicht weil die Großen der Branche auf eigene Netzwerke und interne Kommunikation bauen können, sind ihre Vertreter – noch – in der Unterzahl.
Informationen unter >VCW Stammtische und auf >Xing

 

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ZUR PERSON
Holger Bengs ist Initiator der VCW-Stammtische, Erfinder des European Chemistry Partnering zur Förderung des interdisziplinären Austausches über Innovationen, Geschäftsführer von BCNP Consultants und Mitgründer von ipOcean – The Trustnetwork für rechtssicheres Open Innovation auf Basis von Blockchain-Technologie.

Elisabeth Moshake ist als Multipassionate in der Welt zwischen Chemie und Wirtschaft zuhause. Aktuell ist sie stellvertretende Vorsitzende der VCW, moderiert beim VCW-Stammtisch und Stammlack. Als Verantwortliche für das technische Marketing bei der HOBUM Oleochemicals treibt sie den Einsatz von biobasierten Bindemitteln voran.

Ulf Stalmach ist seit über 20 Jahren in der Lackindustrie tätig und bedient aktuell die Bereiche Digitalisierung und Lack bei Orontec. Der promovierte Chemiker fördert den Austausch und das Netzwerken unter Chemikern als Moderator von 2 VCW-Stammtischen der GDCh und ist Gründer des ersten lackthemen-spezifischen Stammtisches “Stammlack”.

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