Forschung & Innovation

Pharma- und Biotechindustrie drängt auf bessere Rahmenbedingungen

Von schnelleren Genehmigungen bis mehr Digitalisierung: Deutschlands Pharma- und Biotechindustrie drängt neue Bundesregierung zum Handeln

11.10.2021 - Nach der Bundestagswahl 2021 stellt sich auch die Pharma- und Biotechindustrie auf die neuen politischen Konstellationen ein. Zwar fand die Branche während der Pandemie in Politik und Gesellschaft bereits mehr Gehör und Verständnis als zuvor, doch nun gilt es, dieses Momentum in die veränderte politische Realität zu retten. VFA-Präsident Han Steutel analysiert die Situation.

Nach der Bundestagswahl 2021 stellt sich auch die Pharma- und Biotech­industrie auf die neuen politischen Konstellationen ein. Zwar fand die Branche während der Pandemie in Politik und Gesellschaft bereits mehr Gehör und Verständnis als zuvor, doch nun gilt es, dieses Momentum in die veränderte politische Realität zu retten. Ob schnellere Genehmigungsprozesse, bessere Finanzierungsbedingungen, stärkere Forschungsvernetzung oder die effektivere Nutzung der Digitalisierung – die bisherigen Herausforderungen haben nach der Wahl nichts an ihrer Aktualität verloren. 

Wenn es um ihre gesellschaftliche und politische Anerkennung ging, war die forschende Pharma- und Biotechindustrie in der Vergangenheit nicht gerade auf Rosen gebettet. Ein oft benutztes Klischee lautete: Die Branche macht hohe Profite auf dem Rücken der Patienten. Die Risiken, die die Industrie bei der Entwicklung neuer Arzneimittel eingeht, und die enormen Ausgaben, die damit verbunden sind, wurden dabei nicht immer gesehen.

 

„Corona hat gezeigt, dass es Effizienzreserven im 
Entwicklungsprozess gibt.“

 

Immerhin: Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie schlägt Pharma- und Biotechunternehmen mehr Wohlwollen entgegen. „Wir haben uns in den letzten 18 Monaten etwas besser verstanden gefühlt als zuvor, es gibt heute ein größeres Verständnis für Pharma“, stellte jüngst Matthias Wernicke, seit 1. September Deutschland-Geschäftsführer von Merck Serono, auf einer Diskussionsveranstaltung des Verbands der Forschenden Pharmaunternehmen (VFA) fest. 

Dieses gewachsene Verständnis, das auf die Erfolge bei der Bekämpfung der Pandemie und die schnelle Entwicklung von Impfstoffen zurückgeht, macht für Pharma- und Biotechunternehmen zwar einiges leichter. Dennoch sind damit längst nicht alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. 

VFA-Präsident Han Steutel nennt ein Beispiel: „Komplizierte Verfahren durch die Vielzahl der Akteure sind leider ein Charakteristikum in Deutschland. Insbesondere, wenn es um das Thema Gesundheit geht. In der Notsituation der Pandemie haben ohne Zweifel alle gut zusammengearbeitet. Das war internationale Spitzenklasse! Aber im Normalbetrieb genügt es leider nicht mehr für einen Platz ganz vorne im globalen Wettbewerb.“

Daher legte der VFA als Branchenverband in den Wochen vor der Bundestagswahl ein Ohr an das Thema und stellte während einer Debattentour, die in zehn Städten Station machte, die durchaus ambitionierte Frage: „Wie machen wir Deutschland wieder zur modernsten Apotheke der Welt?“ Der Verband klopfte einerseits die Bedürfnisse der Branche ab und stellte diese andererseits den Antworten von Politikern unterschiedlicher Couleur gegenüber. 

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Han Steutel im Interview: Pioniergeist versiegt ohne Patentschutz

Topthemen der Pharmabranche: Bürokratieabbau, Digitalisierung, Patentschutz, Finanzierung, Vernetzung Bürokratische Hemmnisse und die noch nicht hinreichende Digitalisierung machen der Pharmabranche schwer zu schaffen. Das zeigt eine Auswertung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) und des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VFA) unter 58 Biotech- und Pharmafirmen. Weniger als zwölf Monate von der Virusanalyse bis zur Impfstoffzulassung – was in der Coronakrise möglich wurde, entspricht für Biotech- und Pharmaunternehmen in Deutschland üblicherweise nicht der unternehmerischen Realität. VFA-Präsident Han Steutel analysiert die Situation.

CHEManager: Herr Steutel, auf der Debattentour des VFA durch die Republik ging es um die Rahmenbedingungen, die nötig sind, damit die forschende Pharma- und Biotechbranche hierzulande gut gedeiht. Welche Kernaspekte haben sich dabei herauskristallisiert? 

Han Steutel: Mit der Debattentour des VFA und seiner Mitgliedsunternehmen haben wir an zehn Orten in Deutschland mit der Politik diskutiert. Dabei wurden ebenso Chancen – wie der mRNA-Boom – wie auch Risiken – zum Beispiel die fortschreitende Bürokratisierung – angesprochen.

Schlagwort Bürokratieabbau: Was kann man bei dieser immer wieder genannten Forderung realistischerweise von der Politik erwarten, was sollte konkret getan werden?

H. Steutel: Wir haben es in Deutschland mit 52 Ethikkommissionen und 17 Datenschutzbehörden zu tun. Oft werden die einzuhaltenden Bewertungskriterien und Datenschutzbestimmungen unterschiedlich ausgelegt. In der Folge sind die Prozesse hierzulande weniger effizient und langwieriger als in anderen Ländern. Deshalb fordern wir einfache und bundesweit einheitliche Regelungen. 

Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass die Vorbereitung klinischer Studien in Deutschland deutlich länger als in anderen Ländern dauert. Woran liegt dies und wie kann diese Phase beschleunigt werden?

H. Steutel: Wir lagen im Bereich der klinischen Forschung einst weltweit auf Rang zwei – nur übertroffen von den USA. Doch seit fünf Jahren sinkt die Attraktivität des deutschen Standorts. 2019 rutschten wir hinter die USA, China, Großbritannien und Spanien auf Platz fünf ab. Das liegt auch daran, dass es hierzulande bis zum Studienstart im Durchschnitt 200 Tage dauert. Andere europäische Länder schaffen dies in weniger als der Hälfte. 
Neben weniger Bürokratie braucht es unter anderem deutlich bessere Strukturen öffentlicher sowie öffentlich-privater Forschungskooperationen. Dazu gehören verbesserte digitale Infrastrukturen sowie mehr Flexibilität bei den Arbeitszeitregelungen, damit Wissenschaftler öffentlicher und privater Einrichtungen effizienter zusammenarbeiten können.

„Um neue Impfstoffe zu finden, braucht es viel Pioniergeist, und der versiegt ohne Patentschutz.“


Wie steht es um die Zusammenarbeit der Studienzentren? Ist diese ausreichend und effektiv genug?

H. Steutel: Die vielfältigen internationalen und deutschen Förderinitiativen, wie beispielsweise die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), die Innovative Medicines Initiative (IMI) oder der Aufbau von Forschungsnetzwerken der Universitätsmedizin sind gute Ansätze. Im internationalen Vergleich sind sie allerdings nicht ausreichend. Denn der Vernetzungsgrad der US-amerikanischen sowie der asiatischen Forschungs-Community ist ungleich größer als der europäischer Forschungseinrichtungen.

Immer wieder ist zu hören, dass in der besseren Nutzung von Daten ein großes Potenzial liegt. Was könnte bzw. sollte hier konkret getan werden?

H. Steutel: Die Nutzung von Daten ist ein zentraler Schlüssel für den medizinischen Fortschritt, für die Gesundheitsversorgung. Die bereits beschlossenen Schritte mit der elektronischen Gesundheitsakte und ihrer Daten bieten die Chance, echte Evidenz zu schaffen. Diese Daten in anonymisierter und pseudonymisierter Form böten auch den forschenden Pharmaunternehmen einen riesigen Mehrwert bei der Entwicklung von Biomarkern für innovative, personalisierte Therapien oder bei Nachweisen für den zusätzlichen Nutzen von Medikamenten.

Mit der Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 kam erneut der Ruf nach einer Freigabe beziehungsweise Aufweichung von Patenten auf. Die Pharmaindustrie bezieht hiergegen klar Stellung. Was konkret sagen Sie denjenigen, die diese Forderungen erheben?

H. Steutel: Ohne die Impfstoffe ist eine Bekämpfung der Pandemie nicht möglich. Die forschenden Pharmaunternehmen haben es geschafft, dass es in diesem Jahr bereits rund 10 Mrd. Impfdosen gibt. Im Jahr 2022 werden wir Kapazitäten von rund 20 Mrd. Dosen erreichen – bei einer Weltbevölkerung von 7,8 Milliarden Menschen. Diese enorme Leistung basiert insbesondere auf der Innovationskraft von Wissenschaft und Unternehmen. Genau diese ist auf den Schutz ihres geistigen Eigentums angewiesen. Ohne diesen Schutz werden dringend benötigte Neuentwicklungen und Forschungsanstrengungen gefährdet. Schon in der nächsten Pandemiewelle könnten neue Impfstoffe nötig sein. Um sie zu finden, braucht es viel Pioniergeist, und der versiegt ohne Patentschutz.

In der Coronakrise war es möglich, in weniger als zwölf Monaten neue Impfstoffe von der Virusanalyse bis zur Zulassung zu bringen. Wird das die Messlatte oder der Standard für künftige Arzneimittelentwicklungen sein?

H. Steutel: Eins zu eins lässt sich das Tempo der Coronaimpfstoffentwicklung nicht auf andere Vakzine und schon gar nicht auf Medikamente übertragen. Aber – das hat Corona gezeigt – es gibt Effizienzreserven im Entwicklungsprozess. So lässt sich in Zukunft durch die Nutzung von digitalen Tools zur Gewinnung von Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern, zur Echtzeiterfassung und -übermittlung von Studiendaten und zur Überprüfung der Qualität der Studiendaten Zeit gewinnen. Der Staat kann einen zusätzlichen Turbo starten und für synchronisierte Bewertungsprozesse und eine bessere Personalausstattung bei den Zulassungsbehörden sorgen. Genehmigungen für klinische Studien und auch für den Produktionsausbau können somit in Zukunft rascher erteilt werden. Es wird also schneller gehen, aber in der Regel immer noch mehrere Jahre und nicht mehrere Monate bis zur Zulassung eines neuen Arzneimittels dauern.

Zur Person

Han Steutel, geboren 1959, ist seit 2019 Präsident des Verbands der Forschenden Pharmaunternehmen (VFA). Bis 2019 war er Senior Vice President & General Manager Germany beim Pharmaunternehmen Bristol-Myers Squibb. Steutel hat ein Studium in englischer Literatur an der Universität Leiden absolviert und begann seine Karriere 1987 als Marketingmanager bei AstraZeneca in den Niederlanden. 1999 wechselte er zu Bristol-Myers Squibb. Steutel ist im Vorstand des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) und Mitglied des Vorstands der American Chamber of Commerce in Deutschland (AmCham Germany).

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