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Europa – ein guter Platz für Biotechs

Europa – ein guter Platz für Biotechs

13.10.2021 - Die europäische Biotechszene hat bereits viele Aufs und Abs erlebt: Auf die Phase des Überschwangs zu Zeiten des Neuen Markts folgten magere und mühsame Jahre, ehe die Branche in ein gemäßigtes Wachstum einschwenkte. Damit konnte die Industrie auskömmlich leben, wenn auch nicht an die großen Erfolge ihrer US-Pendants anknüpfen.

Die europäische Biotechszene hat bereits viele Aufs und Abs erlebt: Auf die Phase des Überschwangs zu Zeiten des Neuen Markts folgten magere und mühsame Jahre, ehe die Branche in ein gemäßigtes Wachstum einschwenkte. Damit konnte die Industrie auskömmlich leben, wenn auch nicht an die großen Erfolge ihrer US-Pendants anknüpfen. Nun hat eine neue Zeitrechnung begonnen: Europas Biotechunternehmen befinden sich aktuell in einer starken Position, aus der heraus sie die nächsten Wachstumsschritte angehen können. Deutsche Unternehmen spielen dabei vorne mit. 

Es sind insbesondere drei Faktoren, die die Einzigartigkeit und Attraktivität der europäischen Biotechlandschaft kennzeichnen: Die Industrie ist stark bei Innovationen, also in der Entwicklung neuer Technologien und Produkte. Sie verfügt im Vergleich mit den USA und China über ein außergewöhnliches wissenschaftliches Know-how. Und europäischen Biotechs gelingt es zunehmend, bedeutende Geldsummen an öffentlichem und privatem Kapital einzusammeln.
Dieses Fazit zieht das Beratungsunternehmen McKinsey & Company in einer Untersuchung mit dem Titel „Innovation hotspots to drive the next act in Europe“. Darin vergleichen die Autoren die Leistungen der europäischen Biotechbranche mit denen der USA und Chinas. Ergebnis: Europa ist nicht nur ein attraktiver Standort für Biotechunternehmen, die Branche befindet sich auch auf dem Vormarsch und kann sogar mit Superlativen punkten: Sie ist mit einem Rekordwachstum in dieses Jahrzehnt gestartet, getragen von einer starken Kapitalbasis und getrieben durch Innovationen wie Gentherapien, Stammzellbehandlungen, Antisense-Verfahren, siRNA (Small interfering RNA) und CAR-T. Zudem sind weitere wissenschaftliche und technologische Innovationen am Horizont zu erkennen.

Neue Hotspots entstehen
Um ihre Erhebung auf eine vergleichbare Datenbasis zu stellen, haben die Autoren einen Innovationsindex geschaffen, der Messgrößen für Innovation und Finanzierung entlang der typischen Entwicklung eines Biotechunternehmens kombiniert. Dabei wurden die europäischen Firmen identifiziert und geclustert, also gebündelt und verglichen. Nach diesem Index hat sich die europäische Biotechnologie um 20 % verbessert, gegenüber einem Anstieg von 5 % in den USA und einem Plus von 55 % in China. Die Kartierung zeigt zudem regionale Verschiebungen: frühere Hotspots wachsen, neue entstehen.
In konkreten Zahlen liest sich das so: In Europa gibt es mehr als 1.300 Biotechunternehmen, wovon die Hälfte in Großbritannien, Frankreich und Deutschland ansässig sind. Großbritannien zählt nicht nur die größte Zahl an Firmen, sondern verzeichnete zuletzt auch ein besonders starkes Wachstum: 31 % aller neuen Unternehmen wurden dort in den vergangenen drei Jahren gegründet. Nur die Schweiz und Frankreich wiesen noch größere Zuwächse auf. 

„Das Feuer brennt noch.“

Viola Bronsema, Geschäftsführerin Bio Deutschland


Hohes wissenschaftliches Potenzial
Bemerkenswert ist das biotechnologisch-wissenschaftliche Potenzial in Europa – dieses hat immerhin Weltrang: 43 % der globalen Top-Universitäten für Biowissenschaften sind auf dem Kontinent angesiedelt. Das Volumen wissenschaftlicher Publikationen ist dabei in Deutschland doppelt so hoch wie in den USA und dreimal so zahlreich wie in China.
Nicht zuletzt gibt es auch von der Finanzierungsseite Positives zu vermelden. So ist der Gesamtwert der Biotechtransaktionen in den vergangenen drei Jahren um 50 % gestiegen. Europäische Fonds, deren Hauptzweck das Geldverdienen ist, erzielten bei Spätphasenfinanzierungen Nettorenditen von 15 % im Vergleich zu 13 % in den USA.
Die Gründe für die gute Entwicklung in Europa sind vielfältig. So scheint es, als wirkte die Covid-19-Pandemie wie ein Katalysator für die Branche, die ihre Stärken und Wachstumsmöglichkeiten herauskristallisiert hat. Obwohl auch diese Branche gegen einen kurzen Abschwung im Jahr 2020 nicht immun war, haben sich die Aktienkurse seit Beginn der Pandemie weitgehend erholt. Dies ist ein Indikator dafür, dass der Biotechsektor eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte gut überstanden hat.
Zudem haben viele Biotechs die Herausforderung durch Covid erfolgreich angenommen. Die Branche hat nicht nur den ersten zugelassenen Covid-19-Impfstoff in beispielloser Geschwindigkeit entwickelt, Biotechs und Pharmaunternehmen haben mittlerweile mehr als 250 Impfstoffkandidaten in ihren Entwicklungspipelines.

Reifere Kapitallandschaft 
Ein weiterer Grund für die gute Entwicklung liegt in einer im Vergleich zum Ende des letzten Jahrzehnts deutlich reiferen Kapitallandschaft. Geld steht zur Verfügung, sowohl die private als auch die öffentliche Biotechfinanzierung in Europa wächst mit nie dagewesener Geschwindigkeit. Laut McKinsey erreichten die globalen Venture-Capital-Finanzierungen und Deals im Jahr 2020 ihre bislang höchsten Niveaus. Bei Börsengängen wurde mehr als dreimal so viel Kapital wie 2019 aufgebracht. Auch das Niveau der Deals in Europa, also der Käufe und Verkäufe, ist vielversprechend. So ist der Gesamt-Deal-Wert in drei Jahren um das 1,5-Fache gestiegen, der Anteil der großen Deals mit einem Volumen von mehr als 500 Mio. USD ist in Europa gleich hoch wie in den USA. 
Diese Entwicklung schlägt sich konkret auch in der deutschen Biotechbranche nieder. Nach einer Untersuchung der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsfirma EY erhielt diese im Jahr 2020 eine Rekordfinanzierung. Die Kapitalaufnahme stieg gegenüber dem bisherigen Spitzenjahr 2018 um 146 % auf 3,1 Mrd. EUR. Mit CureVac und Immatics gingen zwei Unternehmen in den USA an die Börse. Auch Umsatz, Beschäftigtenzahl und Forschungs-und-Entwicklungsausgaben stiegen bei börsennotierten deutschen Biotechs deutlich. „Das Feuer brennt noch“, stellte denn auch kürzlich Viola Bronsema, Geschäftsführerin des Branchenverbands Bio Deutschland, auf der Fachveranstaltung Forum Science & Health 2021 fest. 

Die Herausforderung der Umsetzung
Wenngleich das Gesamtbild der europäischen Biotechlandschaft in hellen Farben erstrahlt, tun sich bei näherem Hinsehen einige dunkle Flecken auf. So liegen europäische Firmen nach Erkenntnissen der McKinsey-Analysten bei der Finanzierung der frühen Unternehmensphasen nach wie vor deutlich unter dem Niveau der USA und Chinas; und der Abstand nimmt zu. Zudem nehmen Biotechs, die an europäischen Börsen gehandelt werden, im Durchschnitt zwei- bis dreimal weniger Kapital auf als ihre US-amerikanischen und chinesischen Pendants.
Darüber hinaus hinkt Europa bei der Umsetzung der Wissenschaft in die Wirtschaft hinterher, also bei der Übertragung von neuen Erkenntnissen in Unternehmen und reale Produkte. Konkret brachte die Branche nach Informationen des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) in Deutschland im Jahr 2020 insgesamt 32 neue Medikamente auf den Markt, im Jahr davor waren es 25 Arzneimittel mit neuem Wirkstoff. Zum Vergleich: Bis 1. Juli 2021 waren es hierzulande 22 neue Medikamente. Das ist gut, aber im internationalen Vergleich keineswegs spitze. Europas größte Herausforderung bleibe denn auch, seine starke Position in der Forschung in eine starke Pipeline mit potenziellen neuen Medikamenten zu übertragen, heißt es in dem Biotechreport. Im sog. „Translation Index“ schneide die EU weiterhin schlechter ab als die USA und China. 

Wachstumsbarrieren abbauen
Vor diesem Hintergrund plädieren die Autoren dafür, dass Europa seine „historischen Wachstumsbarrieren“ weiter abbauen müsse, damit die hiesigen Biotechs auf der Weltbühne eine bedeutende Rolle spielen können. Außerdem müsse die recht fragmentierte europäische Branche weiter wachsen, eine neue Größenordnung bei Innovationen anpeilen und ihr Versprechen eines „goldenen Zeitalters“ der Biotechnologie einlösen. 
Beim Thema Finanzierung sollten die Firmen mehr außereuropäische Investoren einbinden, um Zugang zu größeren Finanzierungsrunden zu erhalten.
Luft nach oben gibt es auch bei der Gewinnung von Talenten. Wenngleich Europas Biotechs hier in den vergangenen Jahren aufgeholt haben, führen die USA noch immer das Rennen um die besten Mitarbeiter an. Global betrachtet spricht die Studie gar von einem „Talentkrieg“.

Groß denken und handeln
Insgesamt plädieren die Autoren dafür, dass die Entscheider in der Biotechbranche sich nicht im Klein-Klein aufhalten, sondern groß denken und handeln. Sie, wie auch die Investoren, sollten nicht vor großen Investitionsrunden zurückscheuen und sich zum Ziel setzen, wirklich globale Unternehmen aufzubauen, die Skaleneffekte erzielen und erfolgreich innovative Produkte auf den Markt bringen. „Go global“ sollte das unternehmerische Motto sein, verbunden mit einer Offenheit für Talente, Geld und Gelegenheiten außerhalb der Heimatregionen. 


Thorsten Schüller, CHEManager

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