Chemie & Life Sciences

Aufwand immens, Nutzen fraglich

EU-Chemikalienstrategie: Erweiterung des Regelwerks insbesondere für den Mittelstand kaum noch beherrschbar

13.10.2021 - Die EU-Chemikalienpolitik wird u.a. von der chemischen Industrie kritisch bewertet; dafür gibt es Gründe.

In ihrem vor einem Jahr vorgelegten Papier “Chemicals Strategy for Sustain­ability”, kurz CSS (COM(2020) 667 final), hat die EU-Kommission über 50 Einzelmaßnahmen vorgeschlagen, die bis zum Jahr 2025 umgesetzt werden sollen. Damit sind eine Flut von Veränderungen der europäischen Chemikalienpolitik (REACh) und der Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen (CLP) sowie neue Regularien und nicht-regulatorische Anreizsysteme zu erwarten. 

Mittlerweile ist eine erste politische Meinungsbildung zur Strategie auf EU- und auf nationaler Ebene abgeschlossen; dabei zeigt sich eine breite Unterstützung von Seiten der EU-Mitgliedsstaaten. Auch die einschlägigen Nichtregierungsorganisationen haben sich klar und nahezu ohne Einschränkungen für den Strategievorschlag der EU-Kommission ausgesprochen, da sie darin doch ein Einschwenken der EU auf einen Paradigmenwechsel sehen, der schon seit längerem in ihrem Forderungskatalog zu finden ist. 
Deutlich kritischer werten nicht nur die chemische Industrie, sondern u.a. auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sowie namhafte Wissenschaftler in ihren Beiträgen, die vor wenigen Monaten in der Fachzeitschrift “Archives of Toxicology” veröffentlicht wurden, die geplante Chemikalienstrategie. Sie erachten die wissenschaftliche Begründung für die mit der CSS einhergehenden Verschärfungen bestehender bzw. Einführung neuer regulativer Maßnahmen als nicht ausreichend. Vielmehr habe sich in der EU dank der bestehenden Chemikaliengesetze ein hohes Ausmaß an Schutz vor Chemikalienrisiken ergeben, der auch sensible Teile der Bevölkerung ausreichend berücksichtigt. Eine statistische Evidenz, die eine Besorgnis hinsichtlich zunehmender Chemikalienrisiken für die menschliche Gesundheit begründen würde, sehen das BfR und die Wissenschaftler nicht. 

Bewertung und Positionierung der chemischen Industrie
Direkt nach der Veröffentlichung des Strategiedokuments der EU-Kommission haben sich Unternehmen und ihre Verbände mit den Elementen des Vorhabens auseinandergesetzt und erste Positionen verfasst:

 

„Der Nutzen der geplanten Strategie ist angesichts des heute schon erreichten hohen Niveaus an Chemikaliensicherheit fraglich."

 

So wurden zahlreiche Arbeitskreise und Task Forces eingesetzt, um die Strategie zu bewerten und die möglichen rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen für die Industrie einzuschätzen. Dabei wurden je nach Betroffenheit der Teilbranchen unterschiedliche Elemente in den Fokus der Beurteilung gerückt: für den europäischen Verband der Hersteller von Tensiden (CESIO) ging es vornehmlich darum, Vorschläge für praktikable Ansätze zur Identifizierung und Gruppierung von Polymeren zu erarbeiten und in die Diskussion einzubringen. Für andere Chemiefachverbände standen und stehen u.a. vornehmlich Ansätze der CSS zur Diskussion, mit denen Gemische hinsichtlich potenzieller Kombinationseffekte der darin enthaltenen Chemikalien durch Einführung eines sog. ”Mixture Assessment Factor” künftig kritischer bewertet werden sollen.

Oder aber sie bewerten Vorhaben, nach denen die bislang nur für die Anwendung “Verbraucher” geltenden Regelungen auch auf den gewerblichen Anwender bezogen werden sollen. Die Chemie-Dachorganisationen schließlich haben sich mit den grundlegenden Elementen der CSS auseinandergesetzt, insbesondere mit der geplanten Einführung zusätzlicher Registrierungsanforderungen unter REACh, der geplanten Reform des Zulassungs- und Beschränkungsverfahrens, der Einführung neuer Gefährdungsklassen und neuer Begriffe, wie dem des “safe and sustainable-by-design chemicals” oder des “essential use” und “generic risk assessments” - Begriffe, die noch wenig konkret sind und die ein erhebliches Potenzial für einen Paradigmenwechsel in der Chemikalienbewertung mit sich bringen.  

Grundsätzliche Bewertung 
Mit der Argumentation, die bisherige Chemikalienpolitik in der EU schütze insbesondere den Verbraucher nicht ausreichend und sie sei darüber hinaus zu komplex und ihre Umsetzung zu langwierig, soll ein Paradigmenwechsel bei der Chemikalienbewertung eingeleitet werden, der nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus ordnungsrechtlicher und -politischer Sicht mehr als bedenklich ist:

Bislang werden Chemikalien auf Grundlage des Vorsorgeprinzips hinsichtlich ihres Gefährdungspotenzials („hazard“), einer möglichen Exposition von Mensch und/oder Umwelt sowie der damit einhergehenden Gesundheits- bzw. Umweltrisiken bewertet. Eine als gefährlich gekennzeichnete Chemikalie ist damit weder “safe” noch “un-safe” – diese Bewertung ergibt sich erst nach Berücksichtigung des gesamten Lebenswegs der Chemikalie und damit verbundener möglicher Expositionspfade. Selbst wenn sich entsprechende Expositionen entlang der Lieferkette ermitteln lassen, bestehen in der Regel (technische) Möglichkeiten, diese durch geeignete Maßnahmen des Risikomanagements zu vermindern oder zu verhindern. Es geht letztlich also um die sichere Verwendung (“safe use”) einer Chemikalie und nicht darum, nur noch solche Chemikalien zu produzieren und zu verwenden, die “intrinsisch sicher” sind. Die Ansätze der CSS laufen jedoch u.a. mit dem Konzept des “safe and sustainable-by-design” darauf hinaus, eine zusätzliche Bewertungs- und Entscheidungsebene einzuziehen, ob und in welchen (End-)Produkten Chemikalien weiterhin verwendet werden dürfen, und dies unabhängig von einer im Rahmen einer Risikobewertung festgestellten sicheren Verwendung. Auch andere Elemente der Strategie zielen darauf ab, die zwar zeitaufwändige, aber richtungssichere und damit bewährte Risikobewertung von Einzelstoffen durch eine primär hazard-induzierte Beschränkung ganzer Gruppen von Stoffen, die in ihrer Gesamtheit nur eine oder wenige Gefährdungseigenschaften aufweisen – siehe die vorgesehenen Regelungen zur Stoffgruppe der per- und polyfluorierten Chemikalien (PFAS) – abzulösen.
Einen solch tiefgreifenden Paradigmenwechsel könnte man unter Umständen nachvollziehen, hätten sich die zurückliegenden drei Jahrzehnte intensiver und erfolgreicher Bemühungen aller Seiten, die Chemikaliensicherheit zu erhöhen, als wenig wirksam herausgestellt. Da dies jedoch klar bestritten werden kann, mangelt es der geplanten EU-Chemikalienstrategie letztlich an ausreichender Legitimation für die geplanten tiefgreifenden Einschnitte.

Ausblick
In der chemischen Industrie besteht die begründete Sorge, dass sich mit der EU-Chemikalienstrategie eine erhebliche Erweiterung des bestehenden Regelwerks ergeben könnte, die insbesondere für den Chemiemittelstand, der heute schon an seine Compliance-Grenzen kommt, kaum noch beherrschbar sein dürfte. Der Nutzen der geplanten Strategie hingegen ist angesichts des heute schon erreichten hohen Niveaus an Chemikaliensicherheit fraglich, so dass zu befürchten ist, dass einem immensen Aufwand für Industrie und Behörden ein bestenfalls marginaler Zugewinn gegenüberstehen wird. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass einige der vorgesehenen Regelungen die Ziele des Green Deal, denen sie letztlich dienen sollen, konterkarieren. Die Erfahrungen mit REACh haben gezeigt, dass das Thema ungeachtet der vielen fachlich-wissenschaftlich begründeten Stellungnahmen und Konsultationsbeiträge seitens der Wirtschaft nicht “vom Tisch zu wischen” sein wird, sondern dass sich die Regelungen, die sich mit dem Strategiepapier der EU-Kommission bereits abzeichnen, in konkreten Verordnungen niederschlagen werden. Es lohnt sich dennoch, immer wieder alle Argumente in die Diskussion einzubringen, um praktikable Lösungen und Wege aufzuzeigen, damit am Ende nicht nur die Hoffnung bleibt, dass der Industrie im Rahmen ausreichend langer Übergangsfristen genügend Zeit gegeben wird, die künftigen Regelungen umzusetzen.

Alex Föller, Geschäftsführer, Verband Tegewa e.V., Frankfurt

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TEGEWA
Tegewa ist ein seit 70 Jahren bestehender Fachverband der deutschen chemischen Industrie. Er zählt rund 100 Mitglieder aus den Bereichen der Prozess- und Performance-Chemikalien, da-
runter vor allem – auch viele mittelständische – Hersteller von Tensiden, kosmetischen Rohstoffen sowie von Hilfs- und Farbmitteln für die Herstellung von Leder, Papier und Textilien.

ZUR PERSON
Alex Föller führt seit Juli 2001 die Geschäfte des Verbands Tegewa. Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beschäftigt, wo er auch seine Dissertation verfasste und im Jahr 1993 promovierte. Berufserfahrungen rund um die Belange der Chemie­industrie sammelte Föller von 1992 bis 1999 als Referent im Verband der Chemischen Industrie (VCI), bevor er im Jahr 2000 zum Verband Tegewa wechselte.

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