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Dr. Werner Kreuz über die wirtschaftliche Lage der Chemieindustrie

14.11.2011 -

Mit komplexen chemischen Prozessen erfolgreich sein. Über die gegenwärtige wirtschaftliche Situation der Chemieindustrie sprach CHEManager mit Dr. Werner Kreuz, Vice President im Bereich Process Industries bei A.T. Kearney.

CHEManager: In ganz erheblichem Maß ist die Chemieindustrie von der derzeitigen wirtschaftlichen Lage betroffen. Vor allem die Unternehmen, die stark von bestimmten Kundenindustrien wie etwa der Kunststoff- und Automobil- Branche abhängen, haben Probleme. Welche Auswirkungen hat dies auf die Chemiestandorte in Deutschland?

Dr. Werner Kreuz: Für diejenigen chemischen Produkte, die direkt und indirekt in Industrien wie Automobil-, Automobilzuliefer- oder zunehmend auch Elektronik-Industrie einfließen, ist der Auftragseingang dramatisch stark gesunken. Dementsprechend haben die Chemiefirmen, die diese Produkte herstellen, ihre Produktion gedrosselt, Instandhaltungen vorgezogen, Produktionseinheiten vorübergehend geschlossen und Kostensenkungsprogramme initiiert. Für die Chemieparks/-standorte bedeutet dies, dass die betroffenen Firmen die von den Chemiepark- Betreibern zur Verfügung gestellten Leistungen ebenso in Frage stellen, ggf. Neuverhandlungen von Verträgen anstreben, noch intensiver nach Kostensenkungsmöglichkeiten und nach einer Variabilisierung der Leistungen suchen. Denn bei gleich hohen Kosten für die „Infrastrukturleistungen“ würden sich die Kosten pro Einheit erheblich erhöhen, wenn die Menge zurückgehen würde. Die Betreiber der Chemieparks haben aber die Zeichen der Zeit durchaus erkannt und suchen selbst nach Lösungen, um ihre Leistungen an die reduzierten Produktionsmengen anzupassen.

An so genannten Verbund-Standorten kommt hinzu, dass genau geprüft werden muss, welche Auswirkungen eine reduzierte Fahrweise oder gar die Schließung einer Produktion auf die vor- und nachgelagerten chemischen Produktionen hat und ob dadurch das gesamte Verbundgefüge in Schieflage gerät und ggf. neu berechnet werden muss.

Welche Konsequenzen hat die mögliche Insolvenz von Chemieunternehmen auf die Chemielandschaft, d.h. auf Chemiestandorte und Chemieparks in Deutschland?

Dr. Werner Kreuz: Es wird Insolvenzen geben, oder sollte man besser sagen, es wird Insolvenzen beschleunigen. Dies wird insbesondere diejenigen Bereiche treffen, die bereits vor der Krise mit geringen Margen und mit Billiganbietern beispielsweise aus China und Indien zu kämpfen hatten. Mit der jetzt hinzukommenden Mengeneinbuße ist ein profitables – auch nur knapp über der Null-Linie liegendes – Geschäft nicht mehr möglich.

Richtig gefährlich wird es, wenn die Krise länger anhält und die Produktionskapazitäten mit nur 50 – 60 % Auslastung über einen längeren Zeitraum gefahren werden müssten – vor der Krise lag sie bei 80 – 90 %. Dann müssten in größerem Maße Kapazitäten vom Markt genommen werden, was dann wiederum erhebliche Veränderungen in den Chemieparks mit sich bringen würde. Bevor Firmen sich jedoch entscheiden, Kapazität vom Markt zu nehmen, versuchen sie häufig, durch Preisreduktionen an zusätzliche Mengen zu kommen – doch dann erfolgt sofort die Gegenreaktion bei den konkurrierenden Firmen, die ebenso ihre Preise reduzieren, um ihre Mengen zu halten. Das Ergebnis wird dann eine ähnliche Mengenverteilung wie vor den Preiszugeständnissen sein, nur bei einem deutlich geringeren Preisniveau. Hier kann die Chemieindustrie beispielsweise noch von der Stahlindustrie lernen, die dieses Phänomen schon vor Jahren erkannt hat und heute zu allererst Kapazitäten vom Markt nimmt und versucht, an der Preisschraube nicht zu drehen.

Die Verschiebung der Kundenindustrien von Europa und den USA nach Asien ist in vollem Gang. Auch die Chemie folgt dieser Bewegung. Gleichzeitig beobachten wir einen ungebrochenen Investitionsboom im Mittleren Osten; Verstärkt wird dort in eine höhere Wertschöpfung der eigenen Rohstoffe investiert. Welche Auswirkungen hat das auf die Lieferketten und damit auf die Chemiestandorte in Deutschland?

Dr. Werner Kreuz: Von großer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der Chemieparks ist, inwieweit sich der Trend fortsetzt, dass die Kundenindustrie der Chemie ihre Produktion nach Asien, Osteuropa und in die Golfregion verlagert und die chemische Industrie mitzieht – zum einen, um möglichst nah an ihren industriellen Kunden zu sein, und zum zweiten, um die Bedeutung des größten Endkundenmarktes „Asien“ direkt zu „erfahren“ und durch eine schnelle Anpassung an die – sich ändernden – Kundenbedürfnisse auch davon zu profitieren.

Die Situation im Nahen und Mittleren Osten stellt sich etwas anders dar: Viele der Golfstaaten verfügen nicht mehr über eigene Öl- und Gasquellen oder können absehen, dass ihre eigenen Quellen versiegen, so dass auch sie auf Rohstofflieferungen aus den Ländern angewiesen sind, die noch über ausreichende Vorkommen verfügen, wie Saudi Arabien, Iran und Irak. Um jedoch den – hohen – Lebensstandard der einheimischen Bevölkerung aufrecht zu erhalten, ist es erforderlich, mehr Wert schöpfende Aktivitäten ins Land zu bringen und nicht nur die Rohstoffe zu exportieren. Von daher ist zu erwarten, dass die Investitionstätigkeit in große, moderne Chemieanlagen für Produkte auf Öl-Basis, beispielsweise für Polyethylen und Polypropylen dann im nächsten Schritt beispielsweise für High Performance Polymere sich dort fokussieren wird. Dies wird dann dazu führen, dass die bestehenden Kapazitäten, speziell in westlichen Ländern mit hohen Roh- und Energiekosten zunehmend unrentabel werden und in die Gefahr laufen, geschlossen zu werden.

Auch in Russland ist der Trend eindeutig: Man will weg von der reinen Belieferung von Öl und Gas und mehr Wertschöpfung im eigenen Land generieren.

Wo befinden sich Nischen in Europa und in Deutschland, in denen Wertschöpfung vergleichsweise sicher vorhanden ist?

Dr. Werner Kreuz: Deutschland hat eindeutig eine führende Rolle in der Chemieindustrie weltweit. Dies betrifft insbesondere die Spezialitäten-Chemie, die ein hohes Maß an chemischer Kompetenz und intensiver Forschungsaktivitäten erfordert. Trotz sicherlich großer Anstrengungen speziell in China und Indien und ersten Transfers von Forschungseinheiten in diese Länder, wird es noch mindestens zwei Chemie- Generationen – wenn nicht länger – dauern, bis das Ausbildungs- und Erfahrungs-Know-how in diesen Ländern an den deutschen Standard heranreicht. Zudem nimmt Deutschland eine führende Rolle im gesamten Umweltschutz ein – andere Länder haben hier noch einen erheblichen Investitionsbedarf in den nächsten Jahren, der sicherlich von einigen einheimischen Anbietern gescheut wird. Daher wird es auch in den nächsten Jahrzehnten noch eine funktionierende, zunehmend auf Spezialitäten fokussierte Chemielandschaft in Deutschland geben, wenn nicht zusätzliche Regulierungen beispielsweise durch die Europäische Union dieses in einem nicht mehr zu vertretenden Maße erschweren.

Es sind die komplizierten, mehrstufigen chemischen Prozesse mit einer hohen Wertschöpfung, die nicht so leicht kopierbar sind, die die deutsche Chemie weiter erfolgreich sein lässt. Auch in der gegenwärtigen Situation gibt es ja Bereiche wie die Agrar-Chemie oder die Produkte, die für die pharmazeutische Industrie hergestellt werden, die nach wie vor „gutes“ Geschäft generieren. Zu beobachten ist derzeit auch, dass verstärkt ausgelagerte Chemieproduktionen aus den „Billiglohn-Ländern“ zurückgeholt werden, um eine höhere Kapazitätsauslastung zu erreichen.

www.atkearney.de

 

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