Forschung & Innovation

Chemie und Verfahrenstechnik als Zukunftstechnologien

Prof. Dr. Thomas Hirth, Vizepräsident des Karlsruhe Institute of Technology KIT und Vorsitzender von ProcessNet

26.06.2017 -

Chemie und Verfahrenstechnik sind Zukunftstechnologien, ohne die die Lösung vieler unserer Herausforderungen nicht denkbar ist.

Was brauchen wir für die Zukunft? Fahrzeuge, die ressourcenschonend produziert werden, mit regenerativem Strom fahren oder mit Kraftstoffen, die mit Hilfe von regenerativem Strom aus CO2 hergestellt werden, und die sich nach Gebrauch weitgehend in ihre Bestandteile zerlegen und recyceln lassen. Wir brauchen neue Antibiotika, die mit den aufkommenden Resistenzen fertig werden. Wir brauchen Alternativen zu den derzeitigen Kunststoffen – Werkstoffe, die gleichzeitig lang haltbar, aber eben auch gut zu recyceln oder bioabbaubar sind, wenn sie in die Umwelt gelangen. Sie müssen sich also wandeln, die Autoindustrie, die Pharmaindus­trie, die Konsumgüterhersteller – innovativer werden, neue Ideen entwickeln, neue Bedürfnisse aufgreifen. Sie müssen neue Batterietechniken entwickeln, neue Verfahren zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe oder pharmazeutischer Wirkstoffe und neue Werkstoffe, am besten auf Basis von erneuerbaren Rohstoffen.

Wo kommen die Innovationen her?
Doch Halt – kann das alles so stimmen? Werden es wirklich diese Branchen sein, die die Innovationen schaffen, auf denen die Welt von morgen fußt – sind sie dazu überhaupt in der Lage? Nein, denn die notwendigen Lösungen müssen viel weiter vorne in der Wertschöpfungskette entwickelt werden. Alle Welt redet über die Rolle der Energieversorger oder der Autoindustrie, aber eigentlich steckt im Hintergrund doch ein ganz anderer Akteur, der mit seinen Entwicklungen die nötigen Fortschritte überhaupt erst möglich macht. Ohne Chemie und ohne die Verfahrenstechnik, die aus der Reaktion im Reagenzglas einen industriellen Prozess macht, ist keines der skizzierten Ziele erreichbar. Die Entwicklung von Materialien für die Batterietechnik, die Konversion von CO2 zu Kraftstoffen oder Chemikalien, die Produktion von Medikamenten oder die Herstellung neuer Werkstoffe sind tief in der Chemie und Verfahrenstechnik verwurzelt. Mit anderen Worten: Die Produktionstechnik – gleich ob Waschmittel, Transportflugzeug oder Getränkeverpackung – ist ohne Verfahrenstechnik nicht denkbar und eng mit ihr verknüpft.

Rolle der Chemie im Bewusstsein verankern
Dieses Bewusstsein gilt es nicht nur in der Öffentlichkeit und in den verbrauchernäheren Industrien zu schärfen. Auch Chemie und Verfahrenstechnik selbst müssen sich über ihre Rolle im Klaren sein. Und auch in der Politik und den nachgelagerten Behörden setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass für die Lösung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen Chemie und Verfahrenstechnik von Anfang an einbezogen werden müssen. Die Kopernikus-Projekte des BMBF, die neben Fragen der Energieeffizienz und neuen Modellen für Netzbetreiber auch der Verknüpfung von Chemie, Energiesektor und Mobilität Raum geben, weisen in diese Richtung. Ähnliches gilt bei Fragen der synthetischen Kraftstoffe. Aber auch für die Bioökonomie und, noch weiter gefasst, die Circular Economy als vollständige Schließung sowohl der organischen als auch der anorganischen Wertstoffkreisläufe, gilt: Ohne Chemie und Verfahrenstechnik brauchen die Diskussionen gar nicht erst aufgenommen werden.

Der Beitrag der letzten 20 Jahre
Zwar hat sich das Image der chemischen Industrie seit den 80er Jahren deutlich verbessert. Doch häufig wird immer noch übersehen, was sie in den letzten 20 Jahren erreicht hat. Der Wechsel von additiven Umwelttechnologien hin zum produktionsintegrierten Umweltschutz hat nicht nur einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, die Luft- und Wasserqualität zu verbessern. Sie sparen auch in erheblichem Umfang Ressourcen.
Dank verfahrenstechnischer Fortschritte ist der Energieeinsatz pro Produktionseinheit seit den 90er Jahren um 50 % gesunken. Der CO2-Ausstoß wurde verringert und damit ein erheblicher Beitrag zum Klimaschutz geleistet – anders als in anderen Sektoren wie etwa dem Verkehr. Mit dem Trend hin zu mehr Nachhaltigkeit kommen Lösungsmittel und Katalysatoren auf den Prüfstand; Reaktionen werden vereinfacht und Giftstoffe vermieden. Nebenströme, die nicht verwertbar sind, werden schon aus wirtschaftlichen Motiven reduziert, um Rohstoff- und Entsorgungskosten zu sparen.

Aktuelle Trends
Unter dem Stichwort „Biologisierung der Chemie“ erleben wir derzeit die fortschreitende Integration von chemischen und biotechnologischen Prozessen. Enzymatische Konversionen verlaufen häufig sehr viel selektiver und bei milderen Bedingungen als chemische Umsetzungen; der Aufarbeitungsaufwand setzt allerdings dem großvolumigen wirtschaftlich sinnvollen Einsatz bei der Herstellung von Grundchemikalien noch Grenzen. Bei der Biomassenutzung oder in der pharmazeutischen Industrie jedoch ermöglicht die Kombination in Synthesewegen, die sowohl biotechnologische als auch „klassisch“ chemische Schritte beinhalten, die Syntheseleistung der Natur zu nutzen, was wirtschaftlich sehr attraktiv sein kann.

Interdisziplinarität als Schlüssel
Um solche Konzepte zu verwirklichen, müssen noch mehr als bisher verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten. Chemiker und Verfahrenstechniker, Biotechnologen und Anlagenbauer, Pharma­zeuten, Energietechniker und Motorenentwickler müssen sich austauschen und kooperieren. Dafür braucht es auch geeignete Strukturen – heraus aus den Silos der Hochschulinstitute in Netzwerke und gemeinsame Einrichtungen. Und das am besten schon im Studium. Damit ist nicht gemeint, dass die Lern­inhalte noch mehr erweitert werden müssen. Aber für die Zusammenarbeit ist es wichtig, frühzeitig Kontakte zu knüpfen, die Denk- und Arbeitsweise anderer Disziplinen kennenzulernen und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. In Abwandlung eines alten Spruchs: Man muss nicht alles wissen, aber man muss wissen, wer es weiß.

Grundlagenforschung und Anwendung im Dialog
Das heißt nicht, dass jede Form von chemischer oder verfahrenstechnischer Forschung auf eine ganz bestimmte Anwendung abzielen muss. Grundlagenforschung ist wichtig; denn während bei der anwendungsnahen Forschung häufig die – sehr wertvolle! – Optimierung des Bekannten im Vordergrund steht, kann die Grundlagenforschung zu wirklich neuen Ansätzen führen. Natürlich treibt die Marktnachfrage Technologien – aber manchmal machen Technologieentwicklungen Produkte und Leistungen möglich, die vorher nicht nachgefragt wurden, weil sie nicht realisierbar waren. Die Digitalisierung ist ein solches Phänomen. Der Weg zur Losgröße 1 wird nicht nur in der Produktionstechnik bei Kleidung, Autos oder Müslimischungen beschritten; langsam bricht sich auch in der chemischen Industrie die Erkenntnis Bahn, dass zumindest in bestimmten Bereichen eine Individualisierung chemischer Produkte nicht nur denkbar, sondern auch erwünscht ist.
Damit solche Durchbrüche möglich werden, ist es wichtig, die Innovationskette möglichst durchgängig zu machen. Immer noch verschwinden Projektergebnisse zu häufig in der Schublade, weil der Doktorand das Institut verlässt oder die Mittel fehlen, sie auf Konferenzen oder Netzwerkveranstaltungen vorzustellen. Schon im Projekt sollte daher geklärt werden, wer Interesse an einem Resultat haben könnte und was als nächster Schritt in der Weiterentwicklung folgen müsste, wenn eines Tages eine neue Technologie oder ein neues Produkt den Markt erreichen soll.

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