Chemie & Life Sciences

Chemiedistributeure: Buy and- Build-Strategien auf dem Prüfstand

29.03.2011 -

Chemiedistributeure: Buy and- Build-Strategien auf dem Prüfstand. Chemiehändler (Distributeure) und Chemieproduzenten (Zulieferer) werden sich wahrscheinlich an 2007 als das Jahr erinnern, in dem alle Regeln geändert wurden oder alle existierenden Regeln lokal und global volle Gültigkeit erhielten. Die Branche wird immer noch von nationalen und dezentralisierten Ansätzen dominiert, die in manchen Fällen lokale Unternehmen daran hindern, die komplexen Veränderungen zu verstehen, die sich auf ihre Zulieferer und Kunden weltweit auswirken. In vielen Fällen haben sie Betriebspraktiken beibehalten, die in den 70er Jahren entwickelt wurden.

Nun steht eine Überprüfung dreier grundlegender Aspekte bevor: Buyand- Build-Strategien, Marktanteilbestimmungen und Vorgehensweisen zum Austausch von Marktinformationen.

Buy-and-Build-Strategien

In den letzten zehn Jahren folgten die europäischen Branchenführer Brenntag, Azelis und IMCD einem ähnlichen Modell, das auf „Buy-and- Build“- oder „Buy-and-Sell“-Strategien beruhte. Als Aktiengesellschaft verwendete Univar einen konservativeren Ansatz, der sich zwar teilweise auf Unternehmenskäufe (M&A), sonst jedoch größtenteils auf organisches Wachstum stützte. Im Zeitraum 2001 – 2006 schloss Brenntag allein in Europa etwa 50 Akquisitionen ab und Univar etwa 10, Azelis erwarb ungefähr 45 kleinere Unternehmen und IMCD ca. 30. Es soll hier nicht unsere Absicht sein, jede Transaktion zu beschreiben, sondern eher die strategischen Antriebskräfte zu erklären, die zur Schaffung und Entwicklung des heutigen Wettbewerbsszenarios in Europa führten. Der berüchtigte Einfluss und das ausgeklügelte Wertschaffungsmodell von Private Equity-Gesellschaften haben die Chemiehändler in ihrem Besitz zum „Buy-and- Build“-Ansätzen gedrängt, um zur Zeit ihres Ausstiegs über sekundäre oder gar tertiäre Transaktionen Spitzenverkaufspreise zu erzielen. Es konnte nämlich bisher weder ein Verkauf an industrielle Erwerber noch ein Börsengang stattfinden. Der Einbezug von Private-Equity hat verschiedene dynamische und unternehmerische Firmen geschaffen, die allein darauf abzielen, ihre Umsätze zu steigern, um die Kredite zurückzuzahlen, welche die Investoren für den Erwerb der Beteiligungen aufgenommen haben. Die Branche muss eine einfache Frage beantworten: Sollten internationale Distributeure ein integratives Modell übernehmen, wie es IMCD tat, mit einem einheitlichen ERPSystem, einer gruppenweit eingesetzten Customer-Relationship-Management- Plattform und paneuropäischen Branchenstrategien? Oder sollten sie mit einer großen Zahl dezentralisierter oder unabhängiger Firmen arbeiten, mit lockeren Verbindungen untereinander und einer begrenzten zentralen Koordination? Im letzteren Fall müssen Unternehmen bereit sein, mit unerwarteten finanziellen Risiken und unvorhergesehenen Verbindlichkeiten fertig zu werden. Nun erscheint es wichtig, der Chemiedistribution im nationalen und internationalen Bereich eine solide Management-Struktur zu geben, andernfalls werden internationale Unternehmen nur eine Kollektion lose zusammenhängender regionaler Einheiten bleiben.

Marktanteilbewertung der Chemikalienhändler

Der Markanteil der Distributeure erscheint an sich ein unverfänglicher Parameter zu sein. In der Realität jedoch ist dieser von zentraler Bedeutung für die M&A-Strategien von Distributeuren. Diese bewegen sich zusammen mit den Produzenten, Agenten und Tradern im großen Gesamtmarkt für Chemikalien. Schätzungen zufolge besitzen die Chemikalienhändler insgesamt einen Marktanteil von 15 – 18 % an den jeweiligen europäischen Märkten. So haben selbst die größeren Unternehmen der Branche keinen individuellen Marktanteil, der höher als 2 – 3 % ist. Gleichzeitig wird aber angenommen, dass drei Unternehmen 82 % des Distributionsmarktes für Bulk- Chemikalien in Frankreich ausmachen; dabei hat das größte allein einen Marktanteil von etwa 50 %. So lässt sich besser verstehen, wie verschiedene Chemikalienhändler in der Lage waren, ohne Probleme von Seiten der Wettbewerbsbehörden ihren Marktanteil durch Akquisitionen zu erhöhen. Ausgehend von kürzlich veröffentlichten Gerichtsurteilen wird nun damit gerechnet, dass die Marktanteile von Chemikalienhändlern auf den sog. einschlägigen Märkten basieren werden und nicht länger auf eher vage definierten relevanten Märkten. Ein einschlägiger Markt beruht auf einem Satz von Indikatoren, wie Umsätze der großen in diesem Sektor aktiven Distributionsunternehmen, Verkaufsvolumen, entsprechender Branchenposition, Bewertung des Zulieferer-Mixes, Logistikfähigkeiten gemessen an der Anzahl von Lager-Standorten und Anzahl der Tanks, Position von Beteiligungs- oder Tochtergesellschaften und internationale Präsenz. Diese neue Definition einschlägiger Märkte ist sowohl wichtig für Industriechemialien (sog. bulk commodities), als auch für Spezialchemikalien. Man erwartet, dass sie eine weitere Branchenkonsolidierung ermöglicht, ohne zur Entstehung eines Oligopols (mit nur wenigen Anbietern auf dem Markt) oder eines Oligopsons (nur wenige Abnehmer) zu führen. Im Jahre 2000 veröffentlichte die EU-Wettbewerbsbehörde neue Wettbewerbsgesetze, die es Unternehmen verbieten, ohne die offizielle Genehmigung der Behörden Akquisitionen zu tätigen, die ihnen einen Marktanteil von mehr als 30 % verschaffen. Aufgrund der Verwirrung um die entsprechenden Märkte wurde diese Entscheidung im Chemiehandel nicht durchgesetzt, und in manchen Fällen mag der Schwellenwert für den Marktanteil von 30 % bereits überschritten worden sein.

Vorgehensweisen beim Informationsaustausch

Die europäischen Gesetze zur Wettbewerbsbeschränkung aus dem Jahre 2000 erlegen den Chemiehändlern und ihren Zulieferern einen neuen Satz von Regeln und Praktiken auf. Zuvor waren Agenturverträge (i.S. einer Geschäftsbesorgung) national innerhalb jedes Mitgliedsstaats geregelt, wohingegen dies für Vertriebsverträge gewöhnlich nicht der Fall war. Seit 2001 werden sowohl Agentur- wie auch Vertriebs- bzw. Distributionsverträge auf europäischer Ebene geregelt, und die betreffenden Vorschriften sind schrittweise (national) implementiert und durchgesetzt worden. Ein genaues Studium der neuen Gesetze lässt immer noch Spielraum für gewisse Interpretation, doch es ist klar, dass das Konzept der Angebotsexklusivität überholt und unzulässig ist, wenn es sich auf Hersteller bezieht, die ihren Händlern Lieferverbindlichkeiten von 100 % der abgesetzten Mengen auferlegen wollen. Es ist außerdem unzulässig, die Größe des Wiederverkaufsgebiets oder den Kundentyp zu beschränken, an die ein Distributeur verkaufen darf. Kunden in Europa können bei jedem beliebigen Chemiehändler bestellen, unabhängig von seinem Sitz. Heikel ist die Preisgestaltung: Weder die Preise, die Distributeure ihren Kunden in Rechnung stellen, noch die Namen der Kunden sollen den Zulieferern mitgeteilt werden. Chemiehändler sind nicht länger eine Art von Vertretern bzw. Agenten oder exklusive Vertriebszweige. Chemiehändler sind unabhängige Unternehmen, deren Einkaufs-, Preisgestaltungs- und Margenstrategien nicht von ihren Zulieferern kontrolliert werden dürfen. Sie können ihren Kunden die gleichen Chemikalien aus verschiedenen Quellen anbieten. Händler und Hersteller können technische und gewerbliche Informationen austauschen, doch es ist ihnen untersagt, über Preise und Kundennamen zu reden, genau wie es unter Wettbewerbern üblich ist. Wenn ein Hersteller und ein Händler gleichzeitig an denselben Kunden verkaufen, dürfen sie ihre Preisgestaltungsstrategien nicht koordinieren. Zulieferer, die bereit sind, ihr Kleinmengenvertriebsgeschäft an einen Händler zu übertragen, dürfen diesem nicht länger eine Liste von Kunden und zuvor vereinbarten Preisen zur Verfügung stellen. Direktlieferungen (das altbekannte „Streckengeschäft“) oder Lieferungen von „vollen LKWs“ (sog. FTL deliveries) sind ebenfalls ein schwieriges Thema in der Chemiedistribution, da es sich hierbei um beträchtliche Absatzmengen handelt. Zulieferer sollen nicht wissen, an welche Kunden ihre Händler weiterverkaufen und zu welchem Preis. Um diese Anforderung zu erfüllen, sollten Hersteller, die daran interessiert sind, Direktlieferungen Händlern zu überlassen, die jeweiligen Volumen auf der Basis EXW oder FCA bzw. FOT gem. INCOTERMS 2000 verkaufen. Der Eigentums- aber auch der Gefahrenübergang für erworbene Chemikalien erfolgt dann am Standort des Herstellers, der Distributeur organisiert und bezahlt den Transport an die Kunden. Die Produzenten werden nicht mehr wissen, wer die Käufer sind, da sie die Waren nicht selbst ausliefern. Eine andere sich anbietende gesetzliche Möglichkeit ist es, Chemikalienhändler als Agenten zu betrachten und ihnen eine vorher fix vereinbarte Kommission für die Direktlieferungen zu zahlen. Es wird in diesem Kontext für jeden Produzenten zunehmend bedeutsam, die zugrundeliegenden Regeln bzw. „Business-Standards“ bzgl. der Mengen, der Größe einzelner Lieferungen und der jährlichen Mindestumsätze von Direktkunden festzulegen und zu kommunizieren. Diese Aspekte sind von einigen Herstellern und Distributeuren bereits seit 2001 vollständig implementiert worden. Manche waren sich aber entweder der neuen Gesetzgebung nicht bewusst oder interpretierten sie falsch. Im Falle von Missverständnissen und um mögliche Sanktionen zu umgehen, erscheint es wichtig, diese Aspekte mit den Wettbewerbsbehörden zu besprechen. In Zukunft wird so die Unternehmenswertschöpfung mit einer strikten Beachtung moderner gesetzlicher und ethischer Standards verbunden sein.