Strategie & Management

Chemiedistribution 4.0 – Gemeinsam gegen Quereinsteiger?

Interview mit Peter Overlack

04.09.2017 -

Die Digitalisierung erfasst, wenn auch noch langsam, die Chemiedistributionsbranche. Der klassische Chemikalienhandel – ein Sektor, der weltweit fast 200 Mrd. EUR umsetzt – bekommt Konkurrenz von Online-Plattformen. Während die Branche als Bindeglied zwischen Chemikalienproduzenten und -verarbeitern noch dabei ist, eine digitale Reife zu entwickeln, könnte sie von neuen Marktteilnehmern überholt werden. Waren es zur Jahrtausendwende noch von der Chemieindustrie selbst gegründete Internetportale, von denen nur wenige überlebten, drängen heute branchenfremde, kapitalstarke Plattformen wie Alibaba in den Markt. Die zunehmende Digitalisierung senkt selbst in wissensintensiven Bereichen wie dem Chemikalienhandel die Markteintrittsbarrieren für Quereinsteiger. Zwar steht die komplexe Branche in Europa gegenwärtig nicht im Fokus expansiver Strategien der großen Plattformbetreiber. Niemand kann aber überschauen, ob sich das nicht ändert. Welche neuen Geschäftsmodelle die Chemiedistribution 4.0 prägen und welche Herausforderungen oder gar Risiken die digitale Transformation für die Chemiedistributeure bedeuten könnte, wurde beim diesjährigen Kongress des europäischen Chemiehandelsverbands FECC von den rund 150 Branchenexperten lebhaft diskutiert. Michael Reubold sprach mit einem von ihnen, dem Vorstandsvorsitzenden der Overlack-Gruppe Peter Overlack.

CHEManager: Herr Overlack, der Chemikalienhandel steht vor einer besonderen digitalen Herausforderung. Wie geht die Branche damit um?

P. Overlack: Ich finde es zum gegenwärtigen Zeitpunkt unheimlich schwer, eine klare Meinung zu Risiken und Chancen der Digitalisierung zu definieren. Und nach vielen Gesprächen mit den Kollegen würde ich den vorherrschenden Geisteszustand in Sachen Digitalisierung innerhalb der Branche am ehesten mit dem Begriff Verwirrung beschreiben. Die Meinungen reichen von Aussagen wie „Unsere Geschäfte sind viel zu komplex, das lässt sich nicht automatisieren und standardisieren“ bis zu „Die Digitalisierung wird das Modell der Chemiedistribution in Frage stellen“. Dazwischen gibt es viele, die sich mit klaren Aussagen zurückhalten, weil sie noch nicht wissen, wie sie diese Dinge bewerten sollen.

Dabei entwickle ich hier durchaus Verständnis! In unklaren Zukunftsszenarien gibt es oft die eine vorherrschende Meinung eben nicht. Das bildet ja am Ende die Realität ab. Aber ein kluger Chinese hat einmal den schönen Satz gesagt: „Nach Steinen tastend den Fluss durchqueren.“ Ich glaube, so sollten wir uns hier aufstellen. Vorsichtig, Schritt für Schritt, nach vorne gehen. Nicht am diesseitigen Ufer stehenbleiben.

Wie könnte man Struktur in die vorherrschende Verwirrung bringen?

P. Overlack: Ich persönlich würde das aus drei Perspektiven betrachten: Die erste ist die des Distributionsunternehmens. Die Digitalisierung der Daten, die Verfügbarkeit der Informationen bis hin zur Ermöglichung von Online-Orders ist für die nächsten Jahre eine Notwendigkeit, der wir folgen sollten. Ich glaube aber, dass ein Web-Shop eines Chemikalienproduzenten als Channel-to-Market immer nur ein überschaubares Auftragsvolumen generieren wird. Dennoch ist es aus unserer Sicht zweifellos notwendig, online verfügbare Produkt- und Lieferdaten zur Verfügung zu stellen. Für den Chemikalienhandel sehe ich da kein grundsätzliches Risiko. Die Prozessänderungen hausintern sind für alle beherrschbar. Der eine leistet das schneller, der andere langsamer. Ich glaube, in fünf Jahren wird kein Chemiehandelsunternehmen ohne Webshop arbeiten.

Dann sehe ich mir die Produzenten an. Ich halte es für ein Gebot der Stunde, zuerst mit den Produzenten zu sprechen und herauszufinden, was sie planen und ob es möglicherwiese einen Konflikt bei den Vertriebskanälen gibt. Werden online generierte kleinvolumige Aufträge an den Vertragshändler durchgespielt oder erliegt der Produzent der Versuchung, Aufträge, die bislang seine Mindestmengen unterschritten haben, doch selbst abzuwickeln? Das müssen wir klären. Aber auch dieses Risiko betrachte ich als handhabbar. Gewissen denkbaren Geschäftsverlusten stehen auf der Ebene unserer Prinzipale auch entgegengesetzte Prozesse entgegen. Wo mehr Geschäft in erheblichem Umfang kommen kann. Da gehen bei mir keine roten Alarmlampen an.

Anders ist das bei der dritten Perspektive, derjenigen der externen Betreiber von Plattformen. Die Alibabas und Ebays dieser Welt sind mit jeder Menge Kapital ausgestattet und könnten sich mit der notwendigen Hemdsärmeligkeit und den Verdrängungsgelüsten, die sie auszeichnen, versucht fühlen, in den Handel mit Chemikalien einzusteigen. Das fände ich für uns sehr unattraktiv.

Wo sehen Sie die Gefahr? Könnte dies nicht sogar zusätzliches Geschäft für die Distributeure generieren?

P. Overlack: Wenn wir uns über so eine Plattform beteiligen würden, müssten wir befürchten, dass unsere relevanten Produkt-, Kunden- und Lieferdaten innerhalb eines Jahres auf irgendwelchen Servern landen, auf die sie aus meiner Sicht nicht gehören. Das halte ich für nicht machbar. Das ist schlicht aus der Verantwortung für mein eigenes Unternehmen, seine Datenstruktur und seinen Marktwert – ein nicht gangbarer Weg.

Denn ob die Betreiber dieser Plattformen oder Server die Distributeure in wenigen Jahren noch dabeihaben wollen, ist ausschließlich deren Entscheidung. Unsere Daten behalten sie dann aber trotzdem. Die Kunden- und Lieferdaten und das Produkt- und Anwendungs-Know-how sind aber schließlich das Kapital eines Distributeurs. So, das ist aber nur ein Nachteil.

Der zweite Nachteil für uns Chemikalienhändler betrifft die Distributionsmarge. Die neuen Plattformbetreiber sind möglicherweise geneigt, sich anfangs mit einer geringen Marge zufrieden zu geben, um sich erst einmal in eine neu zu erarbeitende Branchenstruktur einzukaufen. Aber warten wir den Tag ab, wenn sie unverzichtbar geworden sind. Dann dürfen wir nicht damit rechnen, dass sie sich weiter bescheiden zeigen.

Und dann sehe ich einen dritten Nachteil von Plattformen: Wir Distributeure bedienen Kunden zu unterschiedlichen Preisen. Man kann das Mischkalkulation nennen. Eine Plattform bietet mehrere Angebote des gleichen Produktes nebeneinander an und führt so zu Preistransparenz. Für uns ist Preisintransparenz aber bislang immer eine marktprägende Voraussetzung unseres Handelns gewesen.

Für die Chemiedistributionsunternehmen haben Plattformen also drei Nachteile, aber diese Nachteile bedeuten nicht, dass wir die Augen verschließen sollten. Denn ich bin sicher, dass sich dieser neue Vertriebskanal langsam aber nachhaltig entwickeln wird. In den nächsten fünf Jahren werden sich entsprechende Geschäftsvolumina abbilden.

Und letztendlich entscheidet sowieso der Kunde.

P. Overlack: Genau, es geht darum, was der Kunde möchte! Der Kunde möchte die Möglichkeit für Preisvergleiche. Ob dahinter etablierte Chemikalienhändler stecken, die sich mehr der Not als der Freude gehorchend bereiterklärt haben, Distributionsleistungen über das Internet zu offerieren, ist ihm egal. Wichtig für ihn ist, dass die Lieferung funktioniert und dass er Wettbewerbsangebote sieht, einen Marktüberblick gewinnt.

Was also tun?

P. Overlack: Wir haben intensiv nachgedacht, was man tun kann, um von den drei genannten nachteilig zu bewertenden Punkten wenigstens zwei zu eliminieren. Das Ergebnis ist der Ansatz, die „Industrieplattform Chemikalien“, die aus meiner Sicht kommen wird, in einer kooperativen branchenbezogenen Lösung selbst zu bauen. Denn wir haben den Markt, das Produkt-Know-how, das Lieferanten-Know-how, wir beherrschen das Dokumentenmanagement, die REACh-Verordnung und die ganze Logistik. Wir können das also besser als jeder externe Betreiber.

Dazu müssen Sie eine kritische Masse an Mitstreitern zusammenbekommen.

P. Overlack: Ja, dazu muss es gelingen, unsere Mitbewerber davon zu überzeugen, dass sie in einer ihnen selbst gehörenden Plattform am besten aufgehoben sind, weil sie nur dort die Hoheit über ihre eigenen eingestellten Daten behalten und die Distributionsmarge beispielsweise über Jahresrückvergütungen oder umsatzabhängige Gewinnbeteiligungsmodelle selbst steuern können. Damit würden immerhin zwei entscheidende Nachteile entfallen. Die zunehmende Preistransparenz können wir nicht vermeiden. Wenn wir auf einer Plattform versuchen würden, intransparente Warenbereitstellungen aufrechtzuerhalten, wird die Plattform nicht funktionieren, denn aus Sicht des Kunden ist sie dann uninteressant.

Auch ein weites Feld. Das muss zuerst zuende gedacht werden. Es liegen auch Chancen in der neuen Form des „offenen Pricing“! Denn algorithmisch gesteuerte, hochintelligente Preisfestsetzungssysteme bringen auch Ergebnisspielräume nach oben mit sich.

Wichtig ist: Wir sind Eigentümer der Plattform und behalten die Daten.

Für Ihren Plattformansatz haben Sie bereits einen Arbeitstitel: Kemix. Zunächst müssen Sie aber eine kritische Masse an Mitstreitern zusammenbekommen.

P. Overlack: Genau. Ich fände es aber total spannend, dem Ansatz „Ich bin mir selbst am nächsten“, der, landläufigen wirtschaftlichen Grundgesetzen folgend, eigentlich unser unternehmerisches Handeln bestimmt, einmal einen Gegenpol entgegen zu setzen. Einen kooperativen Ansatz aufzubauen. Denn das ist das Interessante an einer Kemix-Initiative: Man steht vor dem seltenen Phänomen, dass man umso mehr hat, je mehr man weggibt. Ich will hier nicht religionsphilosophisch auftreten. Aber tatsächlich funktioniert eine kooperative Plattform nur mit vielen Partnern, einem partizipativen Ansatz. Man muss ja nicht gleich mit 50 oder 80 Firmen starten, sondern kann zunächst mit fünf oder zehn Unternehmen beginnen. Aber damit das Ganze funktioniert sollte es eine relevante Menge an Partnern sein, die ihre Produkte auf der Plattform offerieren. Das kann niemand – auch kein großer Distributeur – alleine. Wir brauchen einen kooperativen Ansatz!

Ihr Vorschlag ist mehr als eine Provokation oder ein Weckruf, er ist eine echte unternehmerische Initiative. Wie ist die bisherige Resonanz darauf?

P. Overlack: Meine Präsentation beim FECC-Jahreskongress Mitte Juni in Warschau war sozusagen der Startschuss. Wir werden jetzt die Kontakte, die sich dafür interessiert haben, verifizieren, werden uns dafür Zeit nehmen, die Dinge mit diesen Unternehmen zu besprechen und werden zuhören. Unser Ziel ist es, mit der Idee so schnell wie möglich durchzustarten und mit den "Machern der ersten Stunde" Kooperationen zu beginnen.

Und wie schätzen Sie die Chancen für Ihre Initiative ein?

P. Overlack: In der Chemiedistribution haben wir einige Vorteile: Wir sind oligopolistisch strukturiert, es ist letztendlich ein überschaubarer Kreis von Anbietern. Wir haben ein hohes Gefahrgut- und damit Verantwortungspotenzial, auch in der Logistikkette. Dies verhindert, dass beliebige Quereinsteiger in den Markt eintreten können. Ich denke, da müsste für meine Initiative Entwicklungsspielraum sein. Unser Ziel ist es, dass innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate eine Einheit mit den ersten fünf bis zehn Gesellschaftern steht, die starten kann. Ich bin sehr offen, die Kooperation mit denen zu beginnen, die bei den Machern der ersten Stunde dabei sein wollen. Und dann schauen wir, ob sich das vernünftig darstellt und ob wir Erfolg haben.

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