Logistik & Supply Chain

Digitaler Zwilling in der Chemie Supply Chain

Digitale Zwillinge dienen als digitale Modelle der Belastbarkeit von Entscheidungen

14.04.2021 - Unterbrochene Lieferketten durch Grenzkontrollen, Ausfall von Lieferwegen durch Niedrigwasser in Rhein und Main, Quarantäne-Bestimmungen aufgrund von Coronafällen im Lager – kaum ein Unternehmen der chemischen Industrie, das nicht in letzter Zeit durch unvorhergesehene Ereignisse in seiner Supply Chain beeinflusst wurde.

Viele betroffene Unternehmen stellen sich die Frage, wie moderne Technologien der Digitalisierung hier ggf. helfen können, sowohl planerisch Vorsorge zu treffen als auch im täglichen Geschäft die Auswirkungen möglicher Entscheidungen zu analysieren.

Die Einführung eines digitalen Zwillings (Digital Twin) hat sich dabei als Schlüsseltechnologie im Zuge der Digitalisierung der Supply Chain entwickelt. Der digitale Zwilling erweitert das Spektrum statischer Planungstools oder dynamischer Simulationen um die Verknüpfung realer, Sensor-gestützter Daten mit dem physischen Asset. Die daraus generierten Daten unterstützen Prozessverantwortliche nicht nur in der Planungs- und Realisierungsphase, sondern ermöglichen zudem dynamische Anpassungen und Optimierungen im operativen Betrieb.

Die Technologie eines digitalen Zwillings, mit dessen Hilfe digitale Modelle zum besseren Verständnis und zur Erhöhung der Belastbarkeit von Entscheidungen entwickelt werden, ist heute bereits in einigen Branchen weiter verbreitet als in der Chemieindustrie und hat das Potenzial, die Abläufe in der Logistik in Zukunft grundlegend zu verändern.

Was ist ein digitaler Zwilling?

Der digitale Zwilling kann als virtuelles Abbild, z.B. eines Prozesses, eines Produkts oder einer Dienstleistung beschrieben werden, welches die reale mit der virtuellen Welt verbindet. Dabei können auch Modelle, Simulationen und Algorithmen dessen Bestandteil sein.

Die fortschreitende technologische Entwicklung von Sensoren und Netzwerktechnologien macht es heute möglich, physische Anlagen mit digitalen Modellen zu verknüpfen. Durch die Integration von Planungs-, Live- und historischen Daten können z.B.:

  • Positionen von Transportmitteln im digitalen Modell gespiegelt und erwartete Ankunftszeiten in Abhängigkeit von Verkehrssituation, Uhrzeit oder Wasserstand ermittelt werden,
  • Zustände wie Füllgrad eines Lkw-Parkplatzes, die Verkehrsbelastung einzelner Straßen oder Belegung von Ladebereichen analysiert und gemanagt werden,
  • Ausfallzeiten von Equipment (z.B. Rangierlok, Reachstacker, Regalbediengerät, etc.) mittels Predictive-Maintenance reduziert bzw. vermieden werden.

In der Praxis wird der digitale Zwilling häufig eingesetzt, um Auswirkungen von Veränderungen am physischen Objekt im Sinne von Wenn-Dann-Analysen zu simulieren. Dies geschieht zum einen, um eine erhöhte Planungssicherheit zu gewährleisten, aber auch, um geplante Investitionen abzusichern. Zudem haben Supply-Chain-Verantwortliche die Möglichkeit, mit Hilfe des digitalen Zwillings ihre Systeme nachhaltig zu überwachen und durch permanente Optimierung von Ist- und Soll-Situationen eine kontinuierliche Perfomance-Steigerung zu generieren.

 

Unterschiedliche Typen digitaler Zwillinge in der chemischen Industrie

Was bedeutet das für Unternehmen der chemischen Industrie? Die chemische Industrie ist es seit Jahrzehnten gewohnt, mit Leitständen ihre Produktionsprozesse im Detail zu überwachen und zu steuern – warum nicht auch im Supply Chain Management und in der Logistik?

Dabei können in der Chemieindustrie generell drei Ebenen unterschieden werden, die im Betrachtungsfokus differieren und ineinandergreifen.

Die erste Ebene beschreibt die gesamte End2End Supply Chain. Digitale Zwillinge können eingesetzt werden, um komplette Supply Chains zu modellieren und dynamisch zu analysieren. Diese Formen des digitalen Zwillings werden vor allen Dingen im Rahmen von Risk Management Assessments eingesetzt:

  • Wie verändern sich Lieferzeiten, wenn Transportweg A ausfällt?
  • Welche alternativen Transportwege oder Lagerkapazitäten sind notwendig, wenn Schiffe temporär nur noch zu X % beladen werden können?
  • Wie lange bin ich in Markt B noch lieferfähig, wenn die Produktion X oder das Lager Y ausfällt?
  • Wie schnell muss ein alternativer Lieferant aufgebaut und gefunden werden, um die Produktionsversorgung am Standort XY bei Ausfall eines Stammlieferanten zu kompensieren?
  • Recovery Time: wie lange dauert es, bis nach einem ungewollten Ereignis wieder der „Normalbetrieb“ hergestellt ist und wie kann diese Zeit optimal überbrückt werden?
  • Etc.

Diese Form des digitalen Zwillings modelliert also komplexe Supply Chains und ermöglicht damit eine Analyse vernetzter Prozesse vom Lieferanten über eine mehrstufige Produktion bis hin zu unterschiedlichen Absatzmärkten - also insbesondere Prescriptive Analytics, die vorausschauende Beurteilung möglicher Maßnahmen. Dabei werden die Knoten in einer solchen Supply Chain (Lieferanten, Produktionsanlagen, Lager, etc.) zumeist als Black Box modelliert mit bestimmten Kapazitäten, Durchlaufzeiten und Kostenparametern. Auf eine detaillierte Modellierung einzelner Prozesse innerhalb der Knoten wird in der Regel aus Komplexitäts- und Kostengründen verzichtet.

Die zweite Ebene beschreibt komplexe Chemiestandorte in Gänze mit ihren unterschiedlichen Strömen an Stoffen, Menschen und Verkehrsmitteln. Da die Stoffströme in der Regel bereits über Leitstände abgebildet sind, fokussiert der digitale Zwilling aus logistischer Sicht vermehrt auf Verkehrs- und Menschenströme, um zunehmende infrastrukturelle Engpässe zu managen:

  • Wie können typische Stausituationen am Werkstor vermieden werden ohne zusätzliche Investitionen in Parkraum oder Personal?
  • Welche Kapazität haben bestimmte Ladestellen und Verkehrsträger innerhalb des Chemieparks, wie ist eine kurze Durchlaufzeit von z.B. Abholer-Lkw sicher zu stellen?
  • Welche Auswirkungen haben bauliche Maßnahmen (z.B. Sperrung von Straßen, Austausch von Weichen, Instandsetzung von Hafenanlagen, etc.) auf die zur Verfügung stehende Verkehrsinfrastruktur, wie sind Bottlenecks, Staus oder gar ein Versorgungsausfall von Betrieben zu vermeiden?
  • Welche zusätzliche Infrastrukturbelastung wird durch die Ansiedlung eines neuen Betriebs induziert und ist dadurch der Ausbau von logistischer Infrastruktur notwendig oder kann durch geschickte Nutzung eine Investition vermieden werden?
  • Wie können Personenströme und Lkw-Ströme örtlich oder zeitlich entzerrt werden, um Gefährdungen von Menschen zu minimieren?
  • Etc.

Auch hier steht meist die Unterstützung von Gestaltungsentscheidungen im Vordergrund, sei es im Rahmen von Investitionsentscheidungen für Infrastrukturmaßnahmen, aber auch in der operativen Steuerung etwa des Verkehrsflusses innerhalb des Chemieparks im Zuge von größeren Baumaßnahmen. Wichtige Elemente bei dieser Art digitaler Zwillinge sind Knoten wie Produktionsbetrieb/Ladestelle, Lager, aber auch die logistische Infrastruktur wie Hafenanlagen, Gleisanlagen, Straßen oder das Werkstor. Gerade letztere werden im Vergleich zu einer End2End Supply Chain deutlich detaillierter modelliert, da es bei dieser Betrachtung z.B. darauf ankommen kann, wie viele Bahnkesselwagen mir Chlor sich gleichzeitig auf dem Werksgelände befinden.

Die dritte Ebene digitaler Zwillinge beschreibt einzelne logistische Einrichtungen im Detail, wie Containerterminal, Hafen oder einen Lagerbetrieb. Fokus dieser digitalen Zwillinge, die in der Regel auch die größte Konnektivität in die „reale Welt“ mittels Echtdaten oder Sensorik aufweisen, ist die Unterstützung des operativen Managements zur Optimierung von z.B. des Personaleinsatzes oder der Lkw-Standzeiten. Typische Fragen im Zuge eines digitalen Zwillings in einem Lager sind z.B.

  • Wann werden welche Lkws zur Anlieferung und Abholung erwartet, wie ist die Personal- und Rampensituation zu diesem Zeitpunkt und wie sieht eine optimale Abarbeitungsreihenfolge aus?
  • Macht es Sinn, Auslagerungen bereits jetzt anzustoßen, um verfügbare Kapazitäten (Personal, Automatiklager) zu nutzen, wissentlich dass diese Ware z.B. noch 24 Std. im Warenausgang verbleibt oder wird diese Fläche ggf. bis zur Abholung nochmals anderweitig benötigt?
  • Wie lässt sich beim heute anstehenden Auftragsvolumen im Lager mit minimalem Personalaufwand sicherstellen, dass alle Ware zeitgerecht bereitgestellt wird?
  • Was ist der beste Auftragseinlastungsmix, wenn heute zwei Stapler/Mitarbeiter/RBG ausfallen, wie bekomme ich noch möglichst viele Kundenaufträge abgearbeitet?
  • Etc.

Hier stehen also meistens die unmittelbare Steuerung und kurzfristige Optimierung der operativen Abläufe im Vordergrund, mit der Konsequenz, dass die vielfältigen Prozesse und Ressourcen im Detail abzubilden sind. Solche digitalen Zwillinge können darüber hinaus aber auch zu Prescriptive Analytics herangezogen werden, etwa wenn es darum geht zu analysieren, wie zusätzlich geplante Volumen optimal abgewickelt werden können (z.B. Ausbau Rampen- und Lagerkapazitäten ja/nein, Erweiterung Schichten ja/nein, Verstärkung bestehender Schichten ja/nein).

Erfolgsfaktor bei der Entwicklung eines digitalen Zwillings: Logistik-Know-how!

Als Voraussetzung oder Erfolgsfaktoren bei der Entwicklung eines digitalen Zwillings werden in der öffentlichen Diskussion zumeist technologische Kriterien herangezogen. Diese mögen für die technische Umsetzung wichtig sein, spiegeln aber zugleich ein wesentliches Problem digitaler Zwillinge in der Praxis wider, auf das wir in der kurzen Zeit des Führens dieser Diskussion bereits mehrmals gestoßen sind: fehlendes Logistik-Know-how.

Mit dem Aufkommen digitaler Zwillinge vor 1 – 2 Jahren schossen an verschiedenen Stellen Start-ups aus dem Boden, die seither mittels ihrer Technologie und IT-Fähigkeit digitale Zwillinge am Markt anbieten, zumeist unabhängig von Branchen oder Anwendungen. Technologisch betrachtet haben diese mittlerweile vielfach einen gewissen Reifegrad erreicht, der den Einsatz im Live-Betrieb technisch ermöglicht.

Unterschiedlichste Kunden dieser Anbieter haben jedoch die Erfahrung machen müssen, dass Technologie zwar einen notwendigen, aber keinen hinreichenden Erfolgsfaktor darstellt. Mehr noch, wie in vielen anderen IT-Bereichen auch entwickeln sich Technologien im Laufe der Zeit weg von einem USP hin zu einem Enabler, der von verschiedenen Marktteilnehmern in ähnlicher Funktionalität als Basistechnologie zu erwerben ist. Werden digitale Zwillinge jedoch ohne notwendiges logistisches Know-how entwickelt, bleiben sie eine leere, technologische Hülle.

Gerade das Fehlen dieses logistischen Know-hows hat verschiedene Projekte zur Implementierung eines digitalen Zwillings in der Supply Chain und Logistik zum Scheitern verurteilt. Den Softwareentwicklern fehlt vielfach das Prozess- und Logistikverständnis, den potenziellen Nutzern auf Kundenseite das Abstraktionsvermögen und die Fähigkeit, ihre Bedürfnisse, Anforderungen und Realitäten in der Sprache der Programmierer zu formulieren. Am Ende wird ein Tool an den realen Bedürfnissen vorbei entwickelt, mit geringer Akzeptanz und vielfach deutlich höheren Kosten als ursprünglich budgetiert.

Um ein solches Scheitern zu vermeiden, ist es unabdingbar, dass im Rahmen der Auswahl eines möglichen Entwicklungspartners insbesondere auf solche Anbieter gesetzt wird, die weitreichendes, branchespezifisches Supply-Chain- und Logistik-Know-how mitbringen. Dies ist der entscheidende Erfolgsfaktor für einen digitalen Zwilling – die Technologie selbst ist dabei als zweitranging, da ersetzbar anzusehen.

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