Strategie & Management

Energiewende zwischen Konsens und Katzenjammer

Transformation des Energiesystems verändert gesellschaftliche Regeln und Gesetze

12.09.2014 -

Die Energiewende nach Fukushima war zunächst getragen von einem hohen gesellschaftlichen Konsens. Es war eine Zeit des Optimismus, dass die Energiewende nicht nur zu schaffen ist, sondern dass wir sie auch wirklich schaffen werden. Kurzzeitig wurde die Energiewende sogar zu einer anerkannten Utopie. Eine vollständig auf erneuerbaren Energien beruhende Energieversorgung schien nicht nur möglich, sondern vielversprechend. Statt Energiesparen und Verzicht kam das Gegenteil in den Blick: eine Energieüberflussgesellschaft.

Heute ist davon vielfach nur Katzenjammer übrig geblieben, jedenfalls wenn man in die Massenmedien schaut oder sich im Bekanntenkreis umhört. Neue Infrastrukturen wie Hochspannungstrassen oder Pumpspeicherkraftwerke werden abgelehnt, weil sie in Lebenswelten und Landschaften eingreifen, Sorgen über steigende Strompreise und abnehmende Versorgungssicherheit breiten sich genauso aus wie Befürchtungen einer ‚Energiearmut‘. Erneuerbare Energieträger, früher zumeist als positive, d.h. ‚saubere‘ und ‚sichere‘ Alternativen zu Atomstrom und fossilen Energieträgern dargestellt wurden, werden zum Problem erklärt, weil sie den lokalen Tourismus gefährden oder selbst ökologische Nachteile haben - die Stimmung hat sich erheblich verändert.

Die Welt „hinter der Steckdose"

Das ist nicht einfach ein Stimmungsumschwung, sondern deutet auf einen schmerzhaften Erkenntnisprozess hin: die Energiewende ist erheblich schwerer als vor drei Jahren erwartet wurde. Die wahrscheinliche Ursache dafür: wir haben uns ein falsches und viel zu einfaches Bild vom Energiesystem und seiner Transformation gemacht. Wir haben uns die Energieversorgung als ein technisches System vorgestellt, bestehend aus Kraftwerken verschiedenster Art, Hochspannungsleitungen, Verteilnetzen, Umspannstationen, Regelungs- und Überwachungsanalagen, Speicherkraftwerken, Erdölraffinerien, Pipelines, Großtankern, Förderanlagen für Öl, Gas und Kohle, Tagebau für Uran und Braunkohle, um nur einige Elemente zu nennen. Das Energiesystem war - und ist vielfach noch - für uns all das, was technisch ‚hinter der Steckdose‘ oder auch ‚hinter der Tankstelle‘ liegt: technische Infrastrukturen, die dafür sorgen, dass wir aus Steckdosen und Tankstellen zu jeder Zeit Strom oder Treibstoff in der gewohnten Qualität entnehmen können.
In diesem Bild wurde die Energiewende als der Ersatz des traditionellen Systems ‚hinter‘ den Steckdosen und Tankstellen (Kernenergie, fossile Kraftwerke, Raffinerien) durch eine neue Welt aus erneuerbaren Energien verstanden. Die Gesellschaft braucht unmittelbar ja weder Kraftwerke noch Solarzellen noch Hochspannungsleitungen, sondern Steckdosen und Tankstellen, aus denen sicher, verlässlich, und zu vernünftigen Preisen Energie der gewünschten Form entnommen werden kann. Die komplexen Bereitstellungssysteme sind aus Sicht von Verbrauchern meist nicht interessant: Hauptsache, sie erbringen die gewünschten Dienst- und Versorgungsleistungen störungsfrei, zuverlässig und preisgünstig (das gilt analog auch für andere Bereitstellungssysteme wie diejenigen für Lebensmittel oder Textilien). Auf die Bereitstellungs- und Verteilungstechnologien und die Infrastrukturen werden die Nutzer des Energiesystems vielfach nur dann aufmerksam, wenn sie entweder nicht funktionieren oder in irgendeiner Form ‚stören'. Wenn sich die Welt so in eine voneinander weitgehend unabhängige Bereitstellungs- und Verbraucherseite einteilen ließe, dann könnte man auf der Bereitstellungsseite massive Veränderungen vornehmen (z.B. Kernreaktoren abschalten und Windparks installieren), ohne dass dies Auswirkungen auf die Verbraucherseite hat. Und in der Tat war das ‚gefühlter‘ Teil des Konsenses zur Energiewende: im Idealfall - niemand hat das so ausgesprochen, es wurde aber so wahrgenommen - würde sich die Energiewende nur im Hintergrund abspielen. Wir als Verbraucher würden sie eigentlich gar nicht bemerken, sondern sie wäre eine Aufgabe für Ingenieure und Manager. Und die werden das, so das grundlegende Vertrauen, schon gut machen.

Energie und Gesellschaft

Es ist jedoch ein irreführendes Verständnis des Energiesystems, die Welten ‚vor' und ‚hinter' Steckdose und Tankstelle als getrennt wahrzunehmen, hier die Verbraucher- und dort die Bereitstellungsseite. Denn das Energiesystem ist keineswegs nur ein technisches System im Hintergrund, sondern auf vielfältige Weise mit der Gesellschaft in Form von Institutionen und Menschen verbunden. Das gilt schon im bisherigen System: der internationale Handel mit Öl, Gas und Kohle bedarf kooperativer vertraglicher Regelungen, ziviler politischer Rahmenbedingungen und funktionierender staatlicher Autoritäten; die energetische Nutzung der Kernkraft ist gegen den (teils erbitterten) Widerstand großer Bevölkerungsteile nicht auf Dauer möglich, wie das deutsche Beispiel zeigt; die Idee, das Kohlendioxidproblem bei Kohlekraftwerken an der Wurzel zu behandeln, also das Gas im Kraftwerk abzuscheiden und unterirdisch zu verpressen (CCS-Technologie), ist wenigstens in Deutschland vorläufig am Widerstand möglicherweise betroffener Regionen gescheitert; ein Treibstoff namens E10 führt zu kontroversen gesellschaftlichen Debatten, Wertschöpfungsketten verändern sich mit dem zunehmenden Einzug des Internet in die Energiewelt, Stadtwerke und Energieversorgungsunternehmen bieten den Verbrauchern neue Tarifmodelle an. Das Energiesystem arbeitet nicht ‚im Hintergrund‘, sondern ist grundsätzlich mit der Gesellschaft - also mit uns - vernetzt.

Die Energiewende wird diese engen Verflechtungen weiter intensivieren. Neue Akteure, vor allem viele kleine in das Netz einspeisende Anbieter müssen über Regeln, Verträge, Abmachungen über Rechte und Pflichten, Haftungsfragen etc. sozial und rechtlich verwoben werden. Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten müssen neu verteilt werden. Verbraucher werden zu Produzenten und speisen ins Netz ein. Sie werden vielleicht in die Steuerung des Gesamtsystems einbezogen werden und Autonomie abgeben müssen, um der fluktuierenden Angebotsseite besser begegnen zu können.
Neue Infrastrukturen verändern Landschaften. Verbraucher werden sich zwischen mehr Optionen und Modellen ihrer Energieversorgung entscheiden können (und müssen!). Eine starke Expansion der Elektromobilität würde neue Handlungsmuster im Alltag bedingen, da E-Mobile auch bei weiterem Fortschritt der Speichertechnologien sich nicht in wenigen Minuten betanken lassen und auch vollgetankt nicht 600 oder 1000 km weit fahren können. Wenn Autobatterien als Zwischenspeicher genutzt werden (Vehicle to Grid) könnten Autobesitzer - gegen Geld - ihre Batterie zur Verfügung stellen, müssten aber auch auf ein Stück Autonomie verzichten. An ganz vielen Stellen werden die Karten neu gemischt - und zwar eben nicht nur auf der technischen Seite, sondern auch auf Seiten der Verbraucher, der Bürger und der Anwohner an neu entstehenden Infrastrukturen.

Energiewende als Gemeinschaftswerk

Das Energiesystem als ein rein technisches System zu verstehen heißt, alle diese Zusammenhänge zu ignorieren. Das ist eine grobe, zu grobe Vereinfachung der Verhältnisse. Sie ist sicher für manche Zwecke zulässig, z.B. wenn es um technische Systemoptimierungen geht. Sie greift aber angesichts der Herausforderungen der Energiewende deutlich zu kurz. Diese Verkürzung des Energiesystems auf seine technische Seite, dieses falsche Bild verdeckt den Blick auf die eigentlichen Schwierigkeiten der Energiewende. Zwar sind die technischen Herausforderungen enorm und sollen hier nicht klein geredet werden. Aber die Energiewende ist vor allem deswegen so schwer, weil sie weit über das Technische hinaus reicht. Mit der Transformation des Energiesystems werden sich auch gesellschaftliche Regeln und Gesetze, Machtverhältnisse und Einflussmöglichkeiten, Gewohnheiten und Lebenswelten, Landschaften und lieb gewordene Annehmlichkeiten verändern müssen. Die Energiewende ist keine Aufgabe allein für Ingenieure und Manager, sondern ein Gemeinschaftswerk. Sie erfordert, dass wir uns mit ändern - und das ist erheblich schwerer als der Ersatz traditioneller durch neue Technologien.

Dass uns dies allmählich bewusst wird, dürfte die Hauptursache für den erwähnten Katzenjammer in der öffentlichen Debatte zur Energiewende sein. Wir merken, dass die Energiewende uns selbst betrifft. Und uns schwant allmählich, dass uns dies nicht angenehm ist. In Deutschland sind hohe Standards der Energieversorgung erreicht, woran sich die Gesellschaft seit Jahrzehnten gewöhnt hat. Ausfälle im Stromnetz kommen praktisch nicht vor. Strom kann dem Netz jederzeit in (praktisch) beliebiger Menge in gleich bleibender Qualität entnommen werden. Unterschiedliche Lastgänge, die vom Verbraucherverhalten verursacht werden, werden vom System gepuffert. Übertragen auf Treibstoffe für Mobilität gilt ähnliches. Dass einmal eine Tankstelle ‚ausverkauft' ist, dürfte man in Deutschland in den letzten Jahrzehnten kaum je erlebt haben. Energieverbraucher haben eine hohe individuelle Autonomie in der Nutzung von Energie. Dies erleichtert nicht gerade die Bereitschaft zur Transformation. Veränderungen an einem als angenehm und komfortabel empfundenen Zustand stoßen auch dann nicht auf Gegenliebe, wenn die hinter diesen Veränderungen stehenden Entscheidungen großenteils und grundsätzlich einer breiten Mehrheitsmeinung entsprechen, wie dies für die grundlegenden Ziele der Energiewende weiterhin gilt.

Uns diese Widersprüche bei uns selbst offen einzugestehen und zum Thema zu machen, dass wir teils aktiver, teils vielleicht auch nur passiver Teil der Transformation sind und diese nicht an wen oder was (Technik) auch immer delegieren können, dürfte der erste Schritt zu einem realistischen Blick auf die Energiewende und zu einer Überwindung des ‚Katzenjammers‘ sein.

 

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