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Chemiekonjunktur - Ölmärkte unter Schock

Hohes Angebot und geringe Nachfrage während des Lockdowns setzt Ölpreis unter Druck

14.05.2020 - Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind krisenanfällig. Der Industriesektor ist zu klein und zu wenig diversifiziert.

Der 20. April 2020 hat das Potenzial in die Geschichtsbücher der Wirtschaftshistorie einzugehen. An diesem Tag rutschte der Preis für US-amerikanisches Öl der Sorte WTI – erstmal seit Beginn des Handels mit Future-Kontrakten im Jahr 1983 – ins Negative. Konkret handelte es sich hierbei um einen Vertrag, der eine Lieferung von Öl im Mai vorsah und der 20. April war der letzte Tag, an dem diese Kontrakte noch gehandelt werden konnten. Bereits in den Tagen zuvor hatten die Preise deutlich nachgegeben. Spekulanten bekamen nun kalte Füße, da sie keine Verwendung für physische Öllieferungen hatten. Daher waren sie bereit, jemanden dafür zu bezahlen die Öllieferung zu übernehmen. Am Ende des Tages wurde ein Barrel Öl mit Liefertermin Mai für -37,63 USD gehandelt. Dieser, vor allem technisch getriebene, Preisverfall spiegelt nicht den Normalzustand wider. Allerdings gibt er Hinweise auf einen deutlichen Angebotsüberhang auf den Ölmärkten.

Die Ölpreise waren bereits seit mehreren Wochen auf Talfahrt. Das hatte zwei Gründe: Einerseits lief die Produktion in den OPEC-Ländern, wie auch in den USA, auf Hochtouren. Mehrere wichtige Produktionsländer wie Saudi-Arabien, Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate drehten im April den Ölhahn noch einmal kräftig auf. Nach zähem Ringen hatte man sich auf Produktionskürzungen ab Anfang Mai geeinigt. Dem vorausgegangen war Ende März ein Preiskampf zwischen Russland und Saudi-Arabien, der die Preise zusätzlich unter Druck setzte.
Parallel zum wachsenden Ölangebot kam die Corona-Pandemie hinzu. Der Lockdown in knapp 190 Ländern ließ die Weltwirtschaft und damit die Nachfrage nach Öl drastisch einbrechen. Neben dem Transport- und Verkehrssektor fragte auch die Industrie deutlich weniger Öl nach. Die Internationale Energie Agentur (IEA) schätzt, dass im April die tägliche globale Nachfrage nach Öl rund 29 Mio. Barrel unter dem Niveau des Vorjahres lag. Zuletzt wurde eine so geringe Nachfrage nach Öl im Jahr 1995 verzeichnet.
In Kombination führten diese beiden Effekte zu einem drastischen Angebotsüberhang und damit zu einem kräftigen Preisverfall. Die Ölpreise waren bereits seit Ende Dezember 2019 unter Druck (Grafik 1).

Klassische Wirkungsmechanismen außer Kraft
Unter „normalen Umständen“ würden die niedrigen Ölpreise zumindest in den Öl importierenden Ländern wie ein Konjunkturpaket wirken. Denn die Importe verbilligen sich und die Kaufkraft der Verbraucher steigt. Aktuell ist dies nicht der Fall. Die günstigen Benzinpreise kommen beim Verbraucher nicht an, da die Mobilität weiterhin stark eingeschränkt ist und somit kein Bedarf besteht, das Auto vollzutanken. Die Heizölpreise haben gegenüber März kaum noch nachgegeben, zumal es mittlerweile auch hier Lieferengpässe gibt. Das wenige, was der Bürger bei Heizöl und Benzin einsparte, konnte den Konsum nicht beleben, denn Restaurants, der Einzelhandel, die Tourismusbranche und Freizeitaktivitäten waren komplett im Shutdown.
Zudem wirkte sich der niedrige Ölpreis nicht dämpfend auf die Energiekosten der Industrie aus. Denn diese setzt überwiegend Strom und Gas ein und diese Energieträger folgten nicht dem Preistrend des Rohöls. Etwas anders sieht die ­Situation im Raffineriegeschäft und in der Chemieindustrie aus. Hier führen sinkende Ölpreise zu einer kräftigen Senkung der Rohstoffkosten. Um organische Grundstoffe, Zwischenprodukte oder Kunststoffe herzustellen, benötigt die Branche jedes Jahr rund 15 Mio. t Rohbenzin (Grafik 2). Im Jahr 2018 gab die Branche dafür knapp 8 Mrd. EUR aus. Jeder Dollar, den ein Fass Öl weniger kostet, spart der Chemie bares Geld. In der Petrochemie steigt zudem die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu den gasbasierten Chemieanlagen im Nahen Osten oder den USA. Allerdings hilft das billige Öl den deutschen und europäische Unternehmen in der aktuellen Situation nur wenig. Denn sowohl das Raffineriegeschäft als auch das Chemiegeschäft leiden stark unter der Coronakrise. Die Nachfrage im In- und Ausland ist kräftig zurückgegangen und die Kunden erwarten rasch deutliche Preissenkungen. Darüber hinaus erhöhen stark schwankende Ölpreise die bereits bestehende Unsicherheit. Dies ist zusätzliches Gift für Investitions- und Portfolioentscheidungen.

Preisstabilisierung durch Produktionskürzungen
Zuletzt haben sich die Ölmärkte etwas beruhigt. Die Preise zogen wieder leicht an, liegen aber mit rund 30 USD immer noch deutlich unter dem Vorjahr (-57 %). Zur Stabilisierung dürften auch die vereinbarten Produktionskürzungen von 9,7 Mio. Barrel pro Tag der OPEC+ Länder (23 Öl produzierende Länder und Russland) beigetragen haben. Ebenso haben die USA die Produktion kräftig gedrosselt (von 13 Mio. Barrel pro Tag auf 10 Mio. Barrel pro Tag). Auch Norwegen kündigte an, seine Produktion zu reduzieren. Bis das bestehende Überangebot bei anhaltend schwacher Nachfrage vom Markt absorbiert ist, wird es allerdings noch einige Zeit dauern. Die US-Rohölläger sind gut gefüllt und wurden zuletzt sogar noch voller. So lagerten Anfang April bereits 55 Mio. Barrel Öl in Cushing, einem wichtigen Umschlagplatz in den USA. Das entspricht knapp 70 % der Maximalkapazität. Zeitweise stiegen die Lagerbestände im April mit einer Rate von 6-7 Mio. Barrel pro Woche. Zusätzlich nutzten die USA die günstigen Konditionen, um die strategischen Reserven aufzufüllen. Hinzu kommen Logistikprobleme. Tankkapazitäten sind knapp. Zuletzt wurden Tankschiffe zu schwimmenden Tankplattformen umfunktioniert. Diese Kapazitäten fehlen nun zum Transport. Ein Indiz für die Lage liefern die Preise für Supertankerkapazitäten. Diese haben sich seit Februar mehr als verdoppelt.

Verhaltene Perspektiven am Ölmarkt
Die Ölpreise werden erst wieder anziehen, wenn die Weltwirtschaft wieder in Gang kommt. Wann das der Fall sein wird ist schwer absehbar. Die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Wirtschaftskrise werden uns mind. noch bis ins kommende Jahr hinein beschäftigen. Die globale Ölnachfrage wird daher auf längere Zeit schwach bleiben Die IEA schätzt, dass im Gesamtjahr 2020 die globale tägliche Nachfrage nach Öl rund 9,3 Mio. Barrel unter dem Niveau des Vorjahres liegen wird. Vor diesem Hintergrund sind die Perspektiven für den Ölmarkt verhalten. Die niedrigen Ölpreise werden uns noch einige Zeit erhalten bleiben. Zudem dürfte den Spekulanten nach den Erfahrungen des 20. Aprils die Lust vergangen sein, im Termingeschäft auf steigende Ölpreise zu wetten.

ZUR PERSON
Henrik Meincke ist Chefvolkswirt beim Verband der Chemischen Industrie. Er ist seit dem Jahr 2000 für den Branchenverband tätig. Meincke begann seine berufliche Laufbahn am Freiburger Materialforschungszentrum. Der promovierte Chemiker und Diplom-Volkswirt studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
 

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