Anlagenbau & Prozesstechnik

Produktlebensdaten für eine textile Kreislaufwirtschaft

Wie textile Wertketten von einem unternehmensübergreifenden Management des Lebenszyklus ihrer Produkte profitieren

03.02.2022 - Um eine nachhaltige Wertschöpfung textiler Erzeugnisse zu realisieren, bietet das Produktlebenszyklusmanagement (PLM) ein umfassendes Gestaltungskonzept für die Integration und Steuerung von Daten, Methoden und Prozessen entlang des gesamten Lebenszyklus des Produkts. Das schafft Transparenz – auch gegenüber den Nutzern.

Fehlende Autoteile, Elektronikkomponenten bis hin zu Sondertrikots der ersten Bundesliga – die weitreichenden Folgen der Blockade des Suezkanals durch die Havarie der Ever Given sind ein Sinnbild für die Komplexität und Anfälligkeit globaler Wertschöpfungsketten, die sich vor allem in den hochvernetzten Strukturen der Textil- und Bekleidungsindustrie wiederfinden. Diese sieht sich in nahezu allen Sektoren vor der Herausforderung eines grundlegenden Kurswechsels. Nicht nur die kurzfristigen Folgen der Pandemie, wie unverkäufliche Lagerbestände, Umsatzeinbrüche oder Ausfälle in der Lieferkette, setzen die gesamte Branche weiterhin unter Druck. Auch ein größeres Nutzerinteresse in Fragen der Nachhaltigkeit und der Fertigungsbedingungen in Niedriglohnländern stellen Textilproduzenten vor die Aufgabe, von den billigen Massenwaren der „Fast Fashion“ abzukehren und den Umschwung zu einem transparenten, umweltverträglichen Produktportfolio einzuleiten. Regulatorische Eingriffe, wie der Aktionsplan der europäischen Union zur Kreislaufwirtschaft, sowie die digitale Transformation von Produktion und Vertriebskanälen befeuern den Zwang zu einer strategischen Neuausrichtung zusätzlich. [8]

Das Produktlebenszyklusmanagement

Um den Wandel zu einer nachhaltigen und nutzerorientierten Wertschöpfung textiler Erzeugnisse zu realisieren, bietet das Produktlebenszyklusmanagement (PLM) ein ganzheitliches Gestaltungskonzept für die Integration und Steuerung von Daten, Methoden und Prozessen entlang des gesamten Lebenszyklus des Produkts. Das strukturierte Verknüpfen aller Produktphasen, von der ersten Idee über die Nutzung und Instandhaltung bis hin zur Verwertung, resultiert unter anderem in einer erhöhten Transparenz in der Wertschöpfungskette und ermöglicht eine gezielte schnittstellenübergreifende Informationsdistribution. Auf diese Weise generiert der PLM-Ansatz Potenziale im gesamten Unternehmensnetzwerk, die vor allem Vorteile für eine Effizienz- und Qualitätssteigerung in der Innovationsproduktivität und im Produktentstehungsprozess bieten. So können ganzheitlichen PLM-Lösung die Anforderungen der Fertigung sowie erfolgreiche Komponenten aus vorherigen Produktkampagnen unmittelbar in den Entwicklungsprozess einbeziehen.

Dieser Gedanke wird durch die umfassenden Möglichkeiten des Internet of Things (IoT) und der Industrie 4.0 erweitert, um Produkte auch nach der Übergabe an den Anwender während der Nutzung bis hin zur Verwertung, den sogenannten Phasen des Middle of Life und End of Life, engmaschig informationstechnisch zu begleiten. Im Hinblick auf die wachsende Bedeutung geschlossener Wertstoffkreisläufe bedeuten das methodische Generieren, Verarbeiten und Verteilen produktbezogener Informationen durch den Hersteller auch eine Verbesserung der Datengrundlage für Erzeuger von Ausgangsstoffen sowie Recycling­unternehmen. Somit kann der Schritt zu einem geschlossenen PLM die hohe Emissionen der Bekleidungsbranche senken, in dem die Recyclingquote von Textilien gesteigert wird. Erleichtert wird dies durch die Datentransparenz über die Materialzusammensetzungen der Textilien, die bisher nicht systematisch an die Verwertung überliefert werden und damit nur in wenigen Pilotverfahren wirtschaftlich für eine stoffliche Rückführung aufbereitet werden können. [5]

PLM in der industriellen Praxis

Im Vergleich zu den typischen Anwendern aus Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik oder Luft- und Raumfahrt, die klassischerweise eine starke Ausprägung in ihren Entwicklungsaktivitäten aufweisen, findet PLM in der Textilbranche nur langsam Verbreitung. In den vergangenen Jahren investieren jedoch vor allem Bekleidungsunternehmen in die Etablierung entsprechender Lösungen. Ziel ist es, Potenziale wie die Effizienzsteigerung in Entwicklung und Markteinführung sowie die Umsatzoptimierung und höhere Planungssicherheit zu nutzen. Abbildung 1 bietet eine Übersicht über die beobachteten Verbesserungen, die Textilunternehmen durch die Einführung von PLM erzielen konnten. Im Vordergrund steht hierbei eine Standardisierung von Prozessen, gefolgt von einer erhöhten Entwicklungsproduktivität und schnelleren Time-to-Market. [1]

Zu den zentralen Herausforderungen des Produktlebenszyklusmanagements in der Textilbranche zählen die in der Grafik skizzierte hochfragmentierte Lieferkette, da sich bspw. durch kurzlebige und intransparente Lieferantenverhältnisse Brüche im Informationsfluss ergeben. Zusätzlich sind Informationen über die tatsächliche Nutzung und die Verwertung bisher nur eingeschränkt für den Produktentstehungsprozess verfügbar. Dies ist nicht nur auf die aufwändige Gestaltung der Nachverfolgung von textilen Produkten nach Übergabe an den Kunden zurückzuführen. Auch das Fehlen von Kompetenzen und Mitteln erschwert in vielen Textilunternehmen die Einführung der notwendigen digitalen Systeme. Damit bleiben essenzielle Informationen aus der Nutzungsphase für die Verbesserung von Maschinen oder der Entwicklung von maßgeschneiderten Dienstleistungen ungenutzt. [3]

Lösungsansätze für die Textilindustrie

Für die Bewältigung der beschriebenen Hemmnisse ist eine branchenspezifische Erforschung von Technologien und Prozessstrukturen erforderlich, um Lösungsansätze für einen geschlossenen Produktlebenszyklus zu schaffen, der alle relevanten Informationen aus den Phasen des Middle of Life und des End of Life nutzbar macht. Einen Schwerpunkt der Forschungsarbeit bildet die Entwicklung von Textilien mit integrierter Elektronik. Diese auch als Smart Textiles bezeichneten Textilien können über geeignete Komponenten Umgebungsdaten erfassen und austauschen, um mit Schnittstellen zu kommunizieren und die Analyse des Nutzungsverhaltens zu unterstützen. So können bspw. eingewebte RFID-Tags dazu genutzt werden, Informationen über die Materialzusammensetzung bis zum Verwertungsschritt weiterzuleiten und auf diese Weise eine kosteneffiziente Wiederverwertung erst zu ermöglichen. Auch in der Zustandsüberwachung von textilen Bauteilen eröffnen „smart Textiles“ neue Möglichkeiten der Online-Datenerfassung im laufenden Betrieb – darunter eine Identifikation von Ermüdungspunkten als Input für neue Entwicklungszyklen und eine optimale Ausnutzung der Produktlebenszeit erlauben. Darüber hinaus fokussieren Forschungsprojekte wie „VerTex 4.0“ oder „Qualifix“ der RWTH Aachen die sensorische Ausstattung von Textilmaschinen und die analytische Verwertung von Maschinendaten, die eine Quantifizierung von Fehler­ursachen sowie die Unterstützung von Entscheidungsprozessen in Echtzeit erlauben. Die Integration der generierten Maschinendaten in eine übergeordnete IT-Struktur und die damit verknüpfte Prozessgestaltung ist langfristiger Gegenstand der Forschung in der Modellfa­brik des Digital Capability Centers Aachen (DCC) und wird inhaltlich durch das Exzellenzcluster Internet of Production unterstützt.

 

Literaturverzeichnis


[1] Conlon, Jo (2020): From PLM 1.0 to PLM 2.0: the evolving role of product lifecycle management (PLM) in the textile and apparel industries. In: JFMM 24 (4), S. 533–553. DOI: 10.1108/JFMM-12-2017-0143.

[2] European Commission (11.03.2020): Neuer Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft. Online verfügbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_420, zuletzt geprüft am 11.08.2021.

[3] Fromhold-Eisebith, Martina; Marschall, Philip; Peters, Robert; Thomes, Paul (2021): Torn between digitized future and context dependent past – How implementing ‘Industry 4.0’ production technologies could transform the German textile industry. In: Technological Forecasting and Social Change 166, S. 120620. DOI: 10.1016/j.techfore.2021.120620.

[4] Gloy, Yves-Simon (2020): Industrie 4.0 in der Textilproduktion. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

[5] Hadaya, Pierre; Marchildon, Philippe (2012): Understanding product lifecycle management and suppor­t-ing systems. In: Industr Mngmnt & Data Systems 112 (4), S. 559–583. DOI: 10.1108/02635571211225486.

[6] Kubler, Sylvain; Derigent, William; Främling, Kary; Thomas, André; Rondeau, Éric (2015): Enhanced Product Lifecycle Information Management using “communicating materials”. In: Computer-Aided Design 59, S. 192–200. DOI: 10.1016/j.cad.2013.08.009.

[7] Küsters, Dennis; Praß, Nicolina; Gloy, Yves-Simon (2017): Textile Learning Factory 4.0 – Preparing Germany‘s Textile Industry for the Digital Future. In: Procedia Manufacturing 9, S. 214–221. DOI: 10.1016/j.promfg.2017.04.035.

[8] McKinsey & Company (Hg.) (2021): The State of Fashion 2021. Online verfügbar unter https://www.mckinsey.com/industries/retail/our-insights/state-of-fashion.

[9] Schuh, Günther (2012): Innovationsmanagement. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

[10] Vezzetti, Enrico; Alemanni, Marco; Macheda, Javier (2015): Supporting product development in the textile industry through the use of a product lifecycle management approach: a preliminary set of guidelines. In: Int J Adv Manuf Technol 79 (9-12), S. 1493–1504. DOI: 10.1007/s00170-015-6926-4.

Autoren

Kai Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Unternehmensentwicklung & Kommunikation, Abteilung Wertschöpfungsmanagement, ITA der RWTH Aachen

Philipp Hartmann, Wissenschaftliche Hilfskraft im Bereich Unternehmensentwicklung & Kommunikation, Abteilung Wertschöpfungsmanagement, ITA der RWTH Aachen

Dr.-Ing. Inga Gehrke, Beratung (Operations Specialist), McKinsey & Company

Professor h. c. (MGU) Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Thomas Gries, Institutsleitung, Lehrstuhl für Textilmaschinenbau, ITA der RWTH Aachen

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