Anlagenbau & Prozesstechnik

Prozessanalytik - Wettbewerbsvorteil für Hochlohnländer?

25.07.2012 -

Prozessanalytik - Wettbewerbsvorteil für Hochlohnländer?

Im vergangenen Jahrzehnt hat die Industrie in den Hochlohnländern eine beispiellose Kraftanstrengung unternommen, einerseits die Produktivität zu erhöhen und zum anderen die Fertigungskosten zu reduzieren. Oftmals wurde zudem auch die Qualität des Produktes erheblich verbessert. Dennoch konnte nur selten ein höherer Gewinn realisiert werden. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wäre eine weitere Rationalisierung der Produktion bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kapazitäten. Da jedoch einer rein auf Expansion ausgerichteten Strategie enge Grenzen gesetzt sind, wird intensiv nach neuen Wegen gesucht, einer Verringerung der Erträge entgegen zu wirken und gleichzeitig die Produktqualität weiter zu steigern. Prozessanalytische Methoden bieten dafür einen geeigneten Zugang – denn sie können von Wettbewerbern nicht rasch kopiert werden und bieten somit einen länger anhaltenden Wettbewerbsvorteil.

Die Prozessanalytik hat in den letzten Jahren ein enormes Interesse auf sich gezogen. Grund hierfür ist u. a. die Reduktion der Kosten im Bereich der komplexen Messtechnik durch die Mikrosystemtechnik sowie der Fortschritt der Informationstechnologie. Nicht zuletzt aber auch durch die Vision „Manufuture for 2020“ der Europäischen Kommission und durch die PAT-Plattform (Process Analytical Technology) der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) im Jahre 2004. Hier wurde zum ersten Male der Versuch unternommen, die Prozessanalytik als eigenständiges Konzept in den betrieblichen und regulatorischen Ablauf zu integrieren.

Die Zukunft: wissensbasierte Produkte und Verfahren

Der Gewinn in der Industrie wird durch Gestehungskosten und Wertschöpfung des erzeugten Produktes bestimmt. Bei verschiedenen Pflanzenextrakten in der Naturheilkunde zum Beispiel ist der technologische Aufwand gering, das Produkt kann jedoch trotzdem zu sehr hohen Preisen verkauft werden, weil sich Angebot und Nachfrage nicht die Waage halten und gleichzeitig ein Markenimage verkauft wird. Bei der Herstellung von Massengütern wie z. B. Papier ist dies umgekehrt. Die Abb. 1 verdeutlicht das Dilemma, in dem die industrielle Produktion steckt. Gezeigt ist hier ein Koordinatensystem, das sich aus der Kostenintensität der Technologie und der Wertschöpfung des erzeugten Produktes bestimmt.

Außer in den wenigen Fällen in denen ein Produkt mit geringen Kosten bzw. technologischem Aufwand erzeugt und dennoch zu hohen Preisen/ Wertschöpfung verkauft werden kann, muss jedoch intensiv über die Möglichkeiten zur Optimierung des Wertschöpfungs-/Technologie-Faktors nachgedacht werden. Dabei spielt die Prozessanalytik eine entscheidende Rolle.

Definitionen und Begrifflichkeiten

Der Arbeitskreis Prozessanalytik der GDCh definiert Ziel und Gegenstand der Prozessanalytik und damit sein Tätigkeitsfeld wie folgt:

  • „Gegenstand der Prozessanalytik sind chemische, physikalische, biologische und mathematische Techniken und Methoden zur zeitnahen Erfassung kritischer Parameter von chemischen, physikalischen, biologischen und Umweltprozessen“
  • „Ziel der Prozessanalytik ist die Bereitstellung von relevanten Informationen und Daten für die Prozessoptimierung, -automatisierung, -steuerung und -regelung zur Gewährleistung einer konstanten Produktqualität in sicheren, umweltverträglichen und kostengünstigen Prozessen“

Daraus ergibt sich, dass die Prozessanalytik, auch Prozessanalysentechnik genannt, eine wesentliche Informationsquelle für die Entwicklung von Expertenwissen darstellt, weil sie auch stoffliche, also chemische und morphologische Information auf molekularer Basis integriert.

Es ist somit möglich, vom reaktiven zum proaktiven Gestalten von Prozessen zu gelangen. Bei den vorwärtsgerichteten Verfahren werden bereits vor dem Eintritt der Störung Maßnahmen ergriffen, weil Planwerte mit den erwarteten Werten nicht übereinstimmen. Aufgabe der Prozessanalytik ist es in diesem Fall, die Informationen für die regelbasierte Produktion bereit zu stellen. Im Gegensatz dazu werden bei den traditionellen rückwärtsgerichteten Verfahren, feed back = reactive, die vorhandenen Fehler erst im Nachhinein korrigiert. Hier werden also die realisierten Ist-Werte mit den Planwerten verglichen.

Prozessanalytik als Werkzeug für die Industrie

Dies trifft besonders für komplexe, neue Produkte zu, bei denen die Herstellverfahren häufig noch nicht vollständig verstanden sind. Diese Produkte sind jedoch wirtschaftlich besonders interessant, weil sie eine hohe Wertschöpfung haben, von mittelständischen Unternehmen hergestellt werden und/oder noch Standardprodukte sind, die jedoch in Zukunft kundenspezifisch hergestellt werden.

Hier besteht für die mittelständisch geprägte deutsche Industrie eine sehr gute Chance im Wettbewerb, weil vor Ort Markt-Know-how und Flexibilität vorhanden sind. Benötigt werden flexible Werkzeuge, um das Optimum zwischen Produktanpassung und Prozessoptimierung zu finden. Die Prozessanalytik ist ein solches leistungsfähiges Werkzeug, das für einen integrierten systematischen Ansatz zur Prozesssteuerung unerlässlich ist. Damit ergeben sich wesentliche Vorteile:

  • Erhöhung der Produktivität,
  • Minimierung von Sicherheitszuschlägen,
  • weniger Reklamationen,
  • höhere operative Flexibilität,
  • optimierter Wartungsaufwand
  • 100 %-konstante und zertifizierte Qualität.

Im Vergleich dazu sind Kostensenkungs- und Rationalisierungsprogramme alleine immer nur kurzfristig erfolgreich. Sie werden von der Konkurrenz schnell kopiert und der Wettbewerbsvorteil ist dahin. Im Gegensatz dazu spielt die Prozessanalytik eine wichtige langfristige Rolle und kann als Bestandteil einer Toolbox zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit betrachtet werden, da sie Expertenwissen generiert und für weitere Optimierungen bereit stellt. Eine solche Tool-Box könnte z. B. aus den folgenden Elementen bestehen:

  • Prozess- und Produktdesign durch Integration von Expertenwissen z. B. Entwicklung von Modellen auf Basis der Statistischen Versuchsplanung (Design of Experiments, DoE)
  • Prozess- und Produktdesign durch Modellierung mit Daten aus dem Prozessleitsystem, z. B. sog. Softsensormodelle mit Neuronalen Netzen, Multivariate Regression usw.
  • Prozess- und Produktdesign durch 100 % Kontrolle während der Fertigung z. B. Entwicklung von Modellen basierend auf molekularer Information aus spektroskopischen oder chromatographischen Informationen

Ein solcher Ansatz ist auch in KMUs handhabbar. Ziel muss es aber langfristig bleiben, einfacher handhabbare Methoden für die Praxis tauglicher zu machen. Die notwendigen Schlüsselqualifikationen für die Prozessoptimierung und für die Produktentwicklung sind in Abb. 1 gezeigt. Diese Abbildung zeigt sehr deutlich, dass sich die Methoden mit nur geringen Modifikationen sowohl für die Prozessoptimierung als auch für die Produktentwicklung nutzen lassen und sich gegenseitig ergänzen.

Ein interessantes Tätigkeitsfeld für viele KMU´s hat sich in den vergangenen Jahren durch die Globalisierung eröffnet. Da sich viele große Unternehmen sehr stark auf ihre Kernaufgaben fokussiert haben, sind unter anderem auch Bereiche abgebaut worden, in denen sich Spezialwissen etabliert hatte, das für die Entwicklung neuer Produkte notwendig war. Daraus ergibt sich für Spezialisten eine enorme Chance, sich als Kompetenzpartner solch meist global agierender Unternehmen zu etablieren. Die Herausforderung besteht dabei in der Entwicklung von Systemlösungen, die an die Anforderungen der global agierenden Produzenten anpassbar sind. Hierzu wird in Bezug auf die Prozessanalytik die Vernetzung von Kompetenzen der KMU‘s mit den Kompetenzen der Hochschulen zum unerlässlichen Bestandteil des Entwicklungsprozesses. Die „MET“ („most effective technology) wird dann dort akquiriert, wo sie zum günstigsten Preis und vor allem unmittelbar zur Verfügung steht.

Aus den verschiedenen Perspektiven kann sehr deutlich gezeigt werden, wie die Prozessanalytik als Werkzeug in der Industrie eingesetzt werden kann. In den USA wurde dies schon vor mehr als 20 Jahren erkannt und es entstand dort das CPAC („Center for Process Analytical Chemistry“). Die Tagung International Forum Process Analytical Technology (IFPAC) in den USA blickt auf eine mehr als 20jährige Tradition zurück. Vor mehr als 10 Jahren wurde das Centre for Process Analytics and Control Technology (CPACT) in Großbritannien als Zusammenschluss von Universitäten und Industrieunternehmen gegründet. In Deutschland gibt es derzeit keine vergleichbare Institution. Es ist deshalb notwendig, mittelfristig die Kompetenzen zu bündeln und effiziente Forschungsstrukturen zu schaffen. Die interdisziplinäre Arbeitsweise erfordert neue Lehr- und Lernformen an den Hochschulen.