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Quo Vadis Chemieindustrie?

Ein Dreiklang zwischen Produzenten, Dienstleistern und Standortbetreibern sichert die Zukunft der deutschen Chemie

30.06.2010 -

Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise stieg der Konsolidierungsdruck in der Chemieindustrie. Wie kann die deutsche Chemie ihre Vorreiterrolle nachhaltig verteidigen? Dr. Andrea Gruß befragte dazu Dr. Wolfgang Falter, Managing Director bei AlixPartners und Referent der Handelsblatt-Jahrestagung Chemie 2010.


CHEManager: Jede Krise ist auch eine Chance. Welche Chance birgt Ihrer Meinung nach die Wirtschaftskrise für die Chemiebranche?

W. Falter: Die Finanzkrise hat die Strukturveränderung in der weltweiten Chemie beschleunigt und führt dazu, dass sich das Gleichgewicht am Markt schneller einstellen wird. Viele Unternehmen haben im vergangenen Jahr umgesetzt, was sie mit ein paar Jahren Zeitverzug ohnehin getan hätten.

Wo wird sich das neue Gleichgewicht am Markt einpendeln?

W. Falter: Wir werden eine Verlagerung von den weltweit führenden Triade-Märkten - Nordamerika, Westeuropa, Japan - hin zu dem Wachstums-Duo Mittlerer Osten und Asien beobachten. Ein Beispiel dafür ist die Automobilbranche, eine wichtige Kundenindustrie der Chemie. Die Nachfrage nach neuen Autos in Westeuropa stagniert derzeit, gleichzeitig beobachten wir eine stark steigende Nachfrage in China und Indien. Das führt strukturell dazu, dass neue Produktionslinien eher in Asien als in Westeuropa errichtet werden.

Welche Herausforderungen birgt dies für europäische Chemieunternehmen?

W. Falter: Noch wachsen viele deutsche und europäische Unternehmen stärker und profitabler als ihre internationalen Wettbewerber, aber der strukturelle Anpassungsdruck wird die Landschaft der Chemieindustrie in den kommenden Jahren deutlich verändern.

Die Herausforderung durch Unternehmen aus dem Mittleren Osten ist noch unbeantwortet. Sabic beispielsweise profitiert seit dem Ansteigen der Rohölpreise im Jahr 2001 von seiner günstigen und sicheren Rohstoffversorgung. Dieser immense Wettbewerbsvorteil verleiht dem Unternehmen eine hohe Finanzkraft für Akquisitionen, um weiter profitabel zu wachsen.

Auch das indische Unternehmen Reliance ist auf starkem Wachstumskurs und steht kurz davor in die Top 3 der Chemieindustrie aufzusteigen. Dies verdeutlicht der jüngste Versuch, LyondellBasell zu übernehmen, sowie der Bau der weltweit größten Raffinerie in Indien mit einer Kapazität von 66 Mio. t/a.

Demnach ist es nur eine Frage der Zeit, dass die Cracker aus Europa verschwinden?

W. Falter: Derzeit zählen wir 42 Cracker-Anlagen in Europa. Es gibt Studien, die besagen, bis 2015 werden es 13 oder 14 Anlagen weniger sein. Das halte ich für übertrieben. Natürlich können Sie an einem Standort mit Ethan-Cracker in Saudi-Arabien kostengünstiger Hochdruck-Polyethylen produzieren als an jedem anderen Ort in Westeuropa. Und dennoch hat auch die Krise nicht bewirkt, dass europäische Anlagen, die am Ende der Kostenkurve sind und international nicht wettbewerbsfähig, vom Markt verschwunden sind. Die Austrittsbarrieren sind einfach zu hoch.

Selbst wenn durch die Schließung einer Anlage das EBITDA eines Unternehmens um mehrere Mio. € steigt, so ist dies relativ wenig im Vergleich zu den einmaligen Restrukturierungskosten, die dabei entstehen.

Nach meiner Einschätzung werden sogar die Anlagen mit den teuersten Herstellkosten pro Tonne nicht geschlossen werden, denn sie werden von südeuropäischen Staatsunternehmen betrieben, die große Gas- und Ölaktivitäten haben. Bevor diese in Sardinien oder Sizilien beispielsweise eine Polymeranlage schließen, werden sie Verluste hinnehmen, um den sozialen Frieden in der Region zu sichern. Ich glaube daher nicht, dass kurzfristig 25% der Kapazitäten in Europa wegfallen werden. Wir werden jedoch eine schleichende Erosion beobachten. Es wird sich langsam ein neues Gleichgewicht einstellen.

Wohin wird sich die Chemieproduktion verlagern, zu den Rohstoffen oder zu den wachsenden Märkten?

W. Falter: Das hängt davon ab, wo sich ein Unternehmen in der Wertschöpfungskette positioniert. Shell spricht hierbei von der Cracker-plus-x-Strategie. Ein C2-Cracker ist beispielsweise besonders wettbewerbsfähig an einem rohstoffbasierten Standort im Mittleren Osten. Je mehr Verarbeitungsschritte sich dem Crackprozess anschließen - Cracker plus 2, 3 etc. - desto geringer ist der Vorteil.

Ein Hersteller von nicht-ionischen Tenside für Wasch- und Reinigungsmittel oder Shampoos wird von der anderen Seite der Wertschöpfungskette rechnen: Flaschenrohstoff minus 1, 2 oder 3.

In der Mitte der Kette, bei den Zwischenprodukten und Industriechemikalien, wird es eine Überlappung geben. Hier werden Chinesen und Inder auf die Idee kommen, rückwärts integriert vom Kunden, diese Produktionen aufzubauen. Auf der anderen Seite wird der Mittlere Osten von der Rohstoffseite aus eine Vorwärtsintegration anstreben, um zusätzliche Wertschöpfung zu erzielen.

Wie ist es vor diesem Hintergrund um die deutsche Chemieindustrie bestellt?

W. Falter: Die deutschen Chemieunternehmen sind fit für den globalen Wettbewerb.

Die Ölkrise in den 1970er Jahren hat bewirkt, dass sich die ehemals traditionellen Chemiekonzerne mit starken Wurzeln im Heimatmarkt, spezialisiert und zu globalen Segmentführern entwickelten haben. Sie haben sich schon früh gefragt: Was ist unser Kerngeschäft, was gehört nicht dazu? Müssen wir unsere Instandhaltung und die gesamte Logistikkette selbst betreiben? Bin ich der bessere Betreiber einer Kantine, eines Kindergartens oder einer Bank? In vielen Fällen wurde entschieden, dass Dienstleister diese Aufgaben besser erledigen können und es kam neben einer horizontalen Spezialisierung zu einer vertikalen Dekonstruktion der „Chemiekombinate".

Paradebeispiel für diese Entwicklung ist der ehemalige Hoechst-Konzern, ein hoch integrierter Konzern mit Pharma-, Chemie- und Spezialchemieaktivitäten, mit eigenem Anlagenbau bis hin zu chemiefernen Geschäften wie Faxgeräte und Kopierservices. Ein Unternehmen mit breitem Portfolio, das hoher Investitionen bedarf und zugleich über eine geringe Rückwärtsintegration verfügte - sozusagen ein großer Baum ohne starke Wurzeln. Der Schock der Ölkrise und der Druck der Finanzmärkte bewirkten, dass sich Hoechst voll auf ein Geschäft konzentrierte, von dem es sich ein überdurchschnittliches und profitables Wachstum versprach. In diesem Fall war es das Pharmageschäft.

Insgesamt hat die deutsche Chemieindustrie in den vergangenen 20 Jahren sich konsequent wettbewerbsfähigere Ertrags- und Kostenstrukturen geschaffen. Seit 1995 steigerte sie ihren Umsatz um 61% auf 180 Mrd. € im Jahr 2008, die Zahl der Beschäftigten ging um 18% zurück und der Energieverbrauch sank über diesen Zeitraum um 35%.

Sehen Sie auch Schwachpunkte am deutschen Chemiestandort?

W. Falter: Ja, beim Fundament, den deutschen Chemiestandorten. In Deutschland gibt es zu viele, nicht ausgelastete und bezüglich der Kosten nicht wettbewerbsfähige Chemiestandorte. In der Summe sind es 62 Standorte und 38 Chemieparks in fünf Regionen. Es haben sich Betreibergesellschaften gebildet, die eine Standortsicherung und standortübergreifende Optimierung erschweren. Notwendige Investitionen und Restrukturierungen werden oft aufgrund mangelnder Anreize nicht durchgeführt. So erschwert beispielsweise eine Vermischung der Produzenten- und Chemieparkeigentümerrolle die Entscheidung bei Investitionen und Stilllegungen. Es gibt aber auch einige positive Beispiele, z.B. Infraserv Höchst. Dort gibt es heute im Übrigen 12% mehr Beschäftigte als 1995, zu Zeiten des Hoechst-Konzerns.

Was können deutsche Chemieparks tun, um wettbewerbsfähiger im globalen Markt zu werden?

W. Falter: Einen Königsweg sehe ich hier leider nicht. Eine erste Entlastung wäre es, wenn sich einige der Chemiestandorte zusammenschließen und die internen Effizienzpotentiale gemeinsam heben würden. Die Zukunftssicherung der deutschen Chemiestandorte bedarf jedoch mehr. Es muss einen Dreiklang geben zwischen Produzenten, chemienahen Dienstleistern und Standortbetreibern. Die Dienstleister sollten standortübergreifende Synergien realisieren; es sollte neutrale Standortbetreibergesellschaften als Servicecenter für die Produzenten geben. Und alle drei Akteure sollten ihre Kräfte bündeln, um auf politischer Ebene regulatorische, energie-, klima- und steuerpolitische Nachteile des Standorts Deutschlands zu verringern. 

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