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Robert Jung im Interview: Gestern Spezialchemikalie, heute Commodity

09.04.2013 -

Gestern noch Spezialchemikalie, heute schon Commodity – die Entwicklung der Chemiemärkte wird immer schnelllebiger. Was können Unternehmen dem Trend zur Commodisierung ihrer Produkte entgegen setzen? Welche Unternehmensstrategien und -modelle haben auch in Zukunft in der chemischen Industrie Erfolg? Dr. Andrea Gruß befragte dazu Robert Jung, Geschäftsführer des Bereichs Resources und Leiter der Chemicals Practice bei Accenture.

CHEManager: Herr Jung, in der kommenden Woche werden Sie auf der Euroforum-Jahrestagung Spezialchemie über erfolgreiche Geschäftsmodelle referieren. Wie definieren Sie Spezialchemie?

Robert Jung: Historisch gesehen ist der Begriff eine Produkt- oder Substanzspezifikation. Meines Erachtens ist er aber nicht mehr zeitgemäß, denn was vor einigen Jahren noch eine Spezialchemikalie war, kann heute schon Commodity sein. Wir bevorzugen daher eine Kategorisierung der chemischen Industrie in scale- driven Operators, differentiated Operators und Solution Providers.

Können Sie uns diese Begriffe weiter erläutern?

Robert Jung: Der Solution Provider liefert Lösungen auf Grundlage von Chemieprodukten, die oftmals gar nicht mehr als diese erkennbar sind. Nehmen Sie zum Beispiel das Unternehmen Ecolab: Der Spezialist für Reinigung und Desinfektion wird vom Markt nicht mehr als Chemieunternehmen wahrgenommen, denn er verfügt über einen kompletten Service-Downstream, der bis zur Lieferung des Geschirrspülers und dessen Wartung reicht.

Auf der anderen Seite des Spektrums der Chemieindustrie agieren die scale-driven Operators – Unternehmen wie Dow, BASF oder Dupont. Sie fokussieren sich auf einen effizienten Produktionsprozess und eine schlanke Supply Chain für ihre Produkte, die zu einem Großteil als Commodities eingeordnet werden können.

Dazwischen bewegen sich die differentiated Operators. In diese Kategorie fallen die meisten Spezialchemieunternehmen. Ihre Chemie ist auf den Kunden bezogen, eben spezifisch. Der Fokus liegt hier klar auf dem Käufermarkt, die Herstellung sollte effizient sein und das Produkt möglichst nicht austauschbar.

Diese Unterscheidung gilt in den seltensten Fällen für das komplette Unternehmen ...

Robert Jung: Das stimmt. Dupont zum Beispiel lässt sich weitgehend als scale-driven Operator charakterisieren. Gleichzeitig bietet das Unternehmen Produkte wie Corian an, eine modernen Acryl-Verbundwerkstoff, der als fertig geformtes Spül- oder Waschbecken ausgeliefert wird. Wichtig dabei ist, dass gerade große Unternehmen sich darüber klar werden, welche ihrer Bereiche nach welchen Marktmechanismen funktionieren. Nur dann können Solution Provider – die komplette Services anbieten und basierend auf der Wertgenerierung eines Gesamtproduktes agieren – und Hersteller von Commodities unter einem Dach erfolgreich sein.

Welche Rolle spielen Services für das Portfolio moderner Chemieunternehmen?

Robert Jung: Einige klassische Chemie- Player, wie Ciba Spezialitätenchemie, bieten bereits Services an, die dem eines idealen Solution-Providers sehr nahe kommen. Ciba verstärkt seinen Service-Bereich derzeit und will sogar eine eigene Chemieberatungssparte betreiben. Wichtig ist, dass die Unternehmen dabei ihre interne Struktur gut planen und trennen: Welche Produkte sind scale- driven, welche lösungsorientiert? Denn oft werden vergleichbare Services über eine große Produktpalette angeboten, selbst in Bereichen, wo sie der Kunde gar nicht wünscht.

Welche weiteren Kriterien machen einen erfolgreichen Solution Provider aus?

Robert Jung: Forschung und Entwicklung müssen Hand in Hand mit Marktkenntnis und Marketing gehen. Sie müssen die Märkte ihrer Kunden, oder besser noch, die der Kunden ihrer Kunden verstehen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das Start-up-Unternehmen Geohumus International wurde kürzlich mit dem Deutschen Gründerpreis ausgezeichnet. Es stellt Geohumus her. Das ist ein Bodenverbesserer, der aus Superabsorbern, Silikat und Lavagesteinsmehl besteht und als Bodenhilfsstoff und Mineralstoffspeicher eingesetzt werden kann. Das Material bindet Wasser in großen Mengen. Ganze Wüstenstaaten sind daran interessiert. Geohumus verbindet zwei innovative Entwicklungen der Chemieindustrie – Superabsorber und Nanotechnologie – und schafft dabei eine hohe Wertschöpfung. Wieder einmal ist es kein Chemieunternehmen, das die Innovation vermarktet, sondern ein Drittanbieter. Ich kann nur mutmaßen, dass in den Chemieunternehmen einmal die Nanotechnologie und einmal die Superabsorber vorangetrieben werden, aber viel zu wenig Wissen über mögliche Wertschöpfung existiert. Ich glaube, hier hat insbesondere die europäische Chemie einen hohen Nachholbedarf.

Heißt das, die Chemie muss mehr in die Forschung investieren?

Robert Jung: Nicht unbedingt. Die Möglichkeiten, die Effizienz in die Forschung zu steigern, sind enorm. Viele Unternehmen forschen heute noch zu wenig zielgerichtet. Es werden Produkte entwickelt, die kurze Zeit, nachdem sie auf dem Markt kommen, bereits kostengünstiger in Indien oder China produziert werden können. Hinzu kommt, dass sich die chemische Forschung zu wenig an den Bedürfnissen des Markts orientiert.

Es gibt nur wenige Chemieunternehmen, die Statistiken herausgeben, welchen Umsatz und welche Margen sie mit neuen Produkten erzielen. Ein positives Beispiel ist Rohm and Haas. Das Unternehmen kontrolliert zum Beispiel seine fünf bis sechs am schnellsten wachsenden Projekte ganz genau, um den Return auf seine F&E-Kosten zu verbessern. Im Jahr 2004 erzielte Rohm and Haas 30 % seines Umsatzes mit Produkten jünger als fünf Jahren und erwirtschaftete dabei eine EBITDA-Marge von durchschnittlich 18 % – und das bei F&E-Investitionen von 4% des Umsatzes.

Was muss die Chemische Industrie noch verbessern, um die Früchte ihrer Innovationen zu ernten?

Robert Jung: Pricing ist ein heißes Thema. Es gibt kaum ein Unternehmen der Spezialchemie, das sich derzeit nicht damit auseinander setzt. Die Chemieunternehmen müssen bei ihrer Preisfindung wegkommen vom Modell „Preis pro Kilo“ und hingehen zu „Preis pro generiertem Wert“. Das Marketing muss herausfinden: Was will Endkäufer? Wofür ist er bereit, Geld zu bezahlen? Und dies in die Forschung zurück koppeln.

Superabsorber sind ein klassisches Negativbeispiel für das kostenorientierte Preismodell: Die Chemieindustrie erzielt mit Superabsorbern geringe Kilopreise, ihre Kunden jedoch hohe Margen, indem sie, profan gesagt, das Ganze noch in Papier packen und für teures Geld verkaufen.

Oder nehmen Sie die Textilchemie. Sie sollte nicht mit den Färbereien oder den Stoffherstellern reden, sondern direkt mit Adidas, um ein Verständnis dafür zu bekommen, welche Produkte zukünftig einen Markt haben. Das eröffnet ihr ein völlig anderes Margenpotential.

Nicht nur die Preismodelle, die gesamte Chemieindustrie befindet sich derzeit im Umbruch. Worauf führen Sie die steigende Zahl an Fusionen und Akquisitionen zurück?

Robert Jung: Die Private-Equity-Unternehmen verfügen derzeit über hohes Kapital. Dazu kommt das konjunkturelle Hoch am europäischen Chemiemarkt. Die Firmen haben Geld und geben dieses Geld auch aus. In Europa gelingt dies noch etwas besser als in den USA. Denn wir erfreuen uns einer noch höheren Nachfrage durch den schnell wachsenden osteuropäischen und asiatischen Markt. Aber das ist eine endliche Geschichte, das wird sich bald ändern.

Wie bald?

Robert Jung: Ich schätze bis zum Jahr 2010 bis 2015. Bis dahin wird China zweitgrößter Chemieproduzent weltweit nach den USA sein. Folglich werden die Importe aus Europa abnehmen und China wird noch mehr Chemikalien in unsere Region exportieren.

Schon beim nächsten Konjunkturzyklus werden sich die Mengen- oder Machtverhältnisse verschieben. Daher sollten die westlichen Unternehmen sich schon heute sehr stark auf ihre Kernkompetenzen und auf ihre Geschäftsmodelle fokussieren und diese durch bewusste strategische Zukäufe oder Verkäufe optimieren. Es gibt noch viele unterbewertete Bereiche und Unternehmen in der Chemie, die hinter ihren Möglichkeiten zurück bleiben.

An welche Bereiche denken Sie hier?

Robert Jung: Viele Spezialchemieunternehmen bzw. -unternehmensteile haben das Potential zum Solution Provider und damit die Chance, Margen zu erzielen, die an die der Pharmaindustrie heranreichen. Ein anschauliches Bespiel dafür ist der ehemalige Clariant-Geschäftsbereich AZ Electronic Materials, der im Jahr 2004 von dem Private-Equity- Investor Carlyle übernommen wurde. Mit Hilfe des Investors entwickelte sich das Geschäft mit Chemikalien für die Waferund Flachbildschirmproduktion, das hoher Investitionen bedarf, deutlich besser als innerhalb eines diversifizierten Unternehmens.

Sind denn kleine Spezialchemieunternehmen, die sich auf einen zyklischen Markt konzentrieren, überhaupt überlebensfähig?

Robert Jung: Sie müssen ihre Risiken und Zyklen streuen, dann können auch kleine Unternehmen hochgradig profitabel sein. Dabei sind sie derzeit jedoch einem erhöhten Risiko ausgesetzt, übernommen zu werden. Nehmen Sie zum Beispiel die Engelhard-Akquisition der BASF. Auch ein exzellenter Nischenspieler braucht daher eine gewisse Größe, um unabhängig am Markt überleben zu können.

Kontakt:
Robert Jung
Accenture GmbH, Kronberg
Tel.: 0211/9120-64928
Fax: 06173/9444928
robert.jung@accenture.com
www.accenture.de

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