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CITplus-Profil: Sebastian Engell

Was Menschen bewegt, die etwas bewegen

01.04.2022 - Interview mit Sebastian Engell, Professor am Lehrstuhl für Systemdynamik und Prozessführung in der Fakultät Bio- und Chemieingenieurwesen der TU Dortmund, wurde 2021 mit der Arnold-Eucken-Medaille der GVT ausgezeichnet.

Die berufliche Seite

Wer oder was hat Sie geprägt?

Die Zeiten. Wir sind die Kinder unserer Zeit, nicht nur unserer Eltern. Aufgewachsen als Nachkriegskind von Eltern, die eine unglaubliche Zuversicht hatten und mir sehr viel Freiheit ließen, in einer Zeit, in der es bergauf ging, und in der wir dann als «Protestgeneration» die Gesellschaft nachhaltig veränderten. Das gab mir Optimismus und die Zuversicht, dass man etwas bewegen kann. Ich habe 1960 als Kind große Angst vor dem nächsten Krieg gehabt. Nun kommt das leider wieder. Das hatte ich wirklich nicht erwartet und finde es schrecklich.

Was lieben Sie an Ihrem Beruf?

Es gibt kaum etwas Schöneres als den Beruf des Hochschullehrers. Kaum spürbare Hierarchie über einem, die Freiheit, die Schwerpunkte selbst zu setzen und seine Fähigkeiten optimal zur Geltung zu bringen. Man hat immer neue junge hochbegabte Menschen um sich, darf mit ihnen etwas Neues schaffen und ihre Entwicklung fördern. Und, viele sind sich dessen nicht bewusst, wir haben eine sehr gute Finanzierung von Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Ich liebe Vielfalt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Ländern in der Gruppe, mit verschiedenen fachlichen Hintergründen und verschiedenen Stärken, ein breites Spektrum von Themen zu bearbeiten. Ich habe sehr gern EU-Projekte mitkonzipiert und zum Teil auch geleitet, weil in ihnen Partner aus verschiedenen Ländern, Industrien und manchmal Wissenschaftsgebieten zusammenkommen und Herausforderungen angehen.

Was war Ihr größter Erfolg?

Das müssen andere beurteilen. Für mich selbst vielleicht, dass ich bei meiner Berufung als Außenseiter, reiner Regelungstheoretiker bis 1986, in die Verfahrenstechnik gekommen bin und die Verbindung von Verständnis für Prozesse und Anlagen und theoretischen Methoden dann ganz gut hinbekommen habe. Das verdanke ich auch dem Umfeld einer starken und breit aufgestellten Fakultät und der Fachkultur in den GVC/ProcessNet-Fachausschüssen. Auf die Promotionen von 80+x Doktorandinnen und Doktoranden, die wichtige Beiträge zum Forschritt der Wissenschaft geleistet haben und jetzt an vielfältigsten Stellen, oft in der und um die Prozess­industrie, ihre Frau oder ihren Mann stehen, bin ich auch sehr stolz.

Was war Ihr größter Misserfolg?

Wir haben lange an dem Thema gearbeitet, wie man die korrekte Funktion des Zusammenspiels von Steuerungen und verfahrenstechnischen Anlagen rigoros nachweisen kann. Das erwies sich aufgrund der kombinierten Komplexität der Steuerungssoftware und der Anlagendynamik leider als kurz- und mittelfristig nur für Spielzeugprobleme machbar.

Was vermissen Sie in Ihrem Beruf?

Wenn überhaupt etwas, dann dass man nicht allen interessanten Themen und Ideen nachgehen kann.

Worauf würden Sie gerne verzichten?

Ideen hat man oft schnell, daraus etwas Vorzeig- oder Anwendbares zu machen, kann zäh werden, aber das gehört dazu. Man könnte sagen, Berichtspflichten in Projekten sind lästig, weg damit, aber in einem System einer kompetitiven Forschungsförderung, von der ich absolut überzeugt bin, muss das eben sein.

An welchen Prinzipien orientieren Sie sich?

Ich habe die Anwendbarkeit der Forschung immer im Blick gehabt, aber man muss das langfristig sehen. Wir können und sollten an den Universitäten auch in Kooperationen konkrete Anwendungsprobleme lösen, aber das ist nicht unsere Hauptmission. Wir müssen in erster Linie neues Wissen, neue Ideen, neue Methoden generieren. Das geht nur mit Offenheit und Breite der Herangehensweise. Aber man sollte natürlich auch die Stolpersteine im Blick haben. Man muss in gewissem Maß auf den jeweiligen Wellen surfen, sollte aber sich nicht fortspülen lassen oder bei jedem Modewort leuchtende Augen bekommen.

Welche Trends fördern Sie?

Ich denke, die Entwicklung und Nutzung von mathematischen Modellen ist ein Megatrend der Verfahrenstechnik in den letzten Dekaden. Darauf baut dann der Einsatz von Optimierungsmethoden auf, meines Erachtens ist da noch viel Potenzial. KI und Machine Learning erweitern den Werkzeugkasten weiter, aber ob sie einen Quantensprung darstellen, bleibt abzuwarten. Wie man Modelle mit vertretbarem Aufwand entwickelt, sie up-to-date hält, wie man mit ihren Unzulänglichkeiten systematisch umgeht, wo weniger Detail mehr ist und wo nicht, das sind große Forschungsfragen für die Zukunft.

Was erhoffen Sie von der Zukunft?

Dass wir es schaffen, auch mit Hilfe von neuen Prozessmanagementkonzepten, über Unternehmensgrenzen hinweg vernetzte «atmende» Produktionen (Schlagwort «Industrial Symbiosis») und zirkuläre Stoffströme («Industrial-Urban Symbiosis») zu realisieren, was den Ressourcenverbrauch und die CO2-Emissionen deutlich senkt.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Ich werde an einem EU-Projekt namens «Hubs for Circularity» mitarbeiten, in dem die Vernetzung von Kernen für Indus­trial Symbiosis und Industrial-Urban Symbiosis unterstützt wird. Ich werde dort mitverantwortlich sein für die Analyse von Erfolgen und Hindernissen und die Entwicklung konstruktiver neuer Lösungen durch Expertengruppen. Wir betrachten die «Hubs» von allen Seiten, technisch, wirtschaftlich (Geschäftsmodelle), ökologisch und sozial. In eine ähnliche Richtung geht das Projekt «Circular Foam» zum Recycling von PUR Hartschäumen, in dem ich das Workpackage zur systemweiten Modellierung, Simulation und Optimierung leite. Außerdem möchte ich mich offenen «großen», etwas abstrakteren Fragen widmen. Wie dem Thema «Was ist Information und welche Rolle spielt sie in der Prozesssteuerung?». Das habe ich in meiner Promotion 1981 und den Jahren danach angekratzt, aber beantwortet ist die Frage seitdem noch nicht.

Die private Seite…

Wie würden Ihre Familie/Ihre Freunde Sie charakterisieren?

Ausdauernd, verlässlich, fürsorglich, da sein, wenn es brennt, ungeduldig.

Was gibt Ihnen Kunst/Kultur?

Ich mag Kunst, auch moderne. Ich bin bei vielen beruflichen Reisen zwischendurch in moderne Kunstmuseen gegangen als kleine Auszeit. Ein Takeaway fürs Leben war eine Führung durch das Centre Pompidou in Paris, von einem jungen Kunstgeschichtler und Zeitschriftenherausgeber, der sich traute, eine klare Meinungen zu haben. Man kann und darf Kunstwerke gut finden oder nichtssagend, ich finde auf einer Ausstellung fast immer etwas, das Herz oder Verstand anrührt. Ich mag Bilder, gemalte und Fotos, ob im Rahmen oder in Büchern.

Ihr Verhältnis zum Reisen?

Mein Beruf und die vielen Projekte haben mir zum Glück viel Gelegenheit zum Reisen gegeben, wobei nicht jede Reise auch ein Vergnügen war. Ich reise sehr gern, ich war viel in Asien, von Bhutan über Indien und die Andamanen bis nach Thailand, Kambodscha und Laos, liebe aber auch Brasilien und fand Mexico City eine faszinierende Stadt, besonders wegen der Museen. Auf privaten Reisen zieht es mich früher oder später stets zum Wasser.

Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Freizeit?

Die Linie zwischen Arbeit und Freizeit ist bei mir nicht so scharf. Ich brauche etwas «Ground­ing» in Aktivitäten, die direkt mit der Realität zu tun haben, wo man unmittelbar etwas verändert, Gartenarbeit, Kochen. Ich halte mich halbwegs fit mit Laufen, Sportkursen, Tanzen. Das gehe ich aber alles eher entspannt an. Ich mag Bewegung und fahre gern kurvige Straßen.

Was lesen Sie gerade? / Ihr Buchtip:

Ich lese zu wenig und  produziere selbst zu viele Texte. Wenn, dann Krimis, am liebsten solche mit Hintergrund, politisch, kulturell, historisch. Zum Beispiel Bottini. Oder wenn jemand nach Südostasien reisen will: «Stunde Null in Phnom Penh». Den «Club der Auslandskorrespondenten» habe ich dann später selbst besucht.

Ihre Lieblingsmusik?

Ich mag ein breites Spektrum von Musik. Ich bin mit Rockmusik groß geworden, Bruce Spring­steen brachte meine Gefühle zum Ausdruck, als ich um meinen Platz in der Welt kämpfte (meine Töchter und die Band der einen Tochter haben auf der Feier zu meinem 60sten «Racing in the Street und Badlands« gespielt, das war auf den Punkt). Frank Zappa, «The Yellow Shark», aber auch Paula Fernandez auf dem Nachtflug von Sao Paulo nach Paris.

Was wären Sie auch gern geworden?

Nach der Promotion habe ich überlegt, in die mathematische Volkswirtschaftslehre zu wechseln, Mathematik konnte ich anwenden, ich bin sprachlich halbwegs begabt und liebe gute Abstraktionen. Aber ich habe mich dann doch nicht getraut, sondern die erreichbaren Trauben gepflückt.

Was schätzen Sie an Ihren Freunden?

Lebensklugheit, Ausdauer in persönlichen Beziehungen.

Was möchten Sie in Ihrem Ruhestand machen?

Ich befinde mich jetzt in einem langsamen Übergang dahin. Ich werde die angefangenen Projekte zu Ende führen, hoffentlich etwas freier über grundlegende Probleme nachdenken, und mich langsam wieder mit anderen Aspekten des Lebens beschäftigen. Die übernächste Generation betritt die Welt und braucht Großeltern.

Lebenslauf von Sebastian Engell

Privat

  • Geboren:  27. Februar 1954
  • Eltern: Johanna und Prof. Dr. Hans-Jürgen Engell
  • Verheiratet mit: Maria Engell
  • Kinder: Drei Töchter (32, 35, 37),
  • zwei Enkeltöchter

Beruflich
Schule: diverse Schulen in Düsseldorf, Clausthal-Zellerfeld, Leonberg (Württ.) und Ratingen. Abitur 1972,
Studium: 1972–1973 und 1974–1978 an der Ruhr-Universität Bochum,
Abschluss als Dipl.-Ing. Elektrotechnik.

Berufslaufbahn:

  • 1978–1979 wiss. Hilfskraft an der Ruhr-Universität Bochum, davon zwei Monate am Control Systems Centre, UMIST Manchester.
  • 1979–1982 wiss. Mitarbeiter an der Universität Duisburg bei Prof. Helmut Schwarz, Promotion 1981 Mit Auszeichnung.
  • 1982–1986 PostDoc mit diversen Finanzierungen (vorwiegend Stipendien), hiervon ein Jahr an der McGill Unversitäy, Montréal Kanada. Habilitation an der Universität Duisburg 1987.
  • 1986–1990 Gruppenleiter am Fraunhofer-In­stitut IITB (heute IOBS) Karlsruhe für Prozess­automatisierung und Fertigungssteuerung.
  • 1990–2022 Professor für Systemdynamik und Prozessführung an der TU Dortmund, Fakultät Bio- und Chemieingenieurwesen.
  • 2002–2006 Prorektor für Forschung, wiss. Nachwuchs und internationale Beziehungen der Universität Dortmund.
  • 2008 Distinguished Visiting Professor, Carnegie-Mellon University, USA.
  • 2013–2020 Beauftragter der Rektorin der
  • TU Dortmund für Internationalisierung.
  • Seit 2016 Mitglied des Forschungsrats der Universitätsallianz Ruhr.
  • Seit 1.3. 2022 Seniorprofessor an der TU Dortmund.

Ehrungen: Joseph von Fraunhofer-Preis 1992, Fellow of the International Federation of Automatic Control 2006, ERC Advanced Investigator Grant 2011, Roger Sargent Lecture Imperial College London 2012, Arnold-Eucken Medaille der GVT 2021.
Mehrere Best Paper Awards.

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