Anlagenbau & Prozesstechnik

Wasserstoff-Contracting für nachhaltige Chemiestandorte

Decarbonisierungsstrategie mit dezentraler Wasserstoff- und Ammoniakproduktion

04.08.2022 - Die Chemiebranche steht vor großen Herausforderungen, um die Kohlendioxidemissionen zu reduzieren und die Produktion zu Decarbonisieren. Die Lösung liegt im Einsatz grüner Moleküle und die dafür notwendige zusätzliche „Fabrik vor der Fabrik“ wird zum entscheidenden Erfolgsfaktor für die Energiewende. Entsprechende Konzepte entstehen aktuell bei Getec in der Schweiz und in den Niederlanden

Grüner Wasserstoff wird in der Chemie der Zukunft zwei zentrale Rollen spielen: als nachhaltiger Rohstoff – häufig auch in Form von grünem Ammoniak oder Methanol – und als kohlenstofffreier Energieträger. Daraus ergeben sich große Chancen für Chemieunternehmen, die sich einerseits als Verbraucher und zugleich auch als Produzenten positionieren können. Bei der Realisierung stellt sich jedoch die Frage, wie viel Energieversorger künftig in einem Chemie­unternehmen stecken muss?

Keine Finanzierung ohne Offtake

Die grüne Wasserstoffwende bedingt je nach Standort massive Investitionen in Solar- und Windparks, Elektrolyseure, Tanklager, Synthese- und Cracker-Anlagen oder Pipelines. Um diese finanzieren und wirtschaftlich betreiben zu können, müssen belastbare Offtake-Systeme zur Abnahme des Energieträgers bestehen.

Diese werden vielerorts jedoch erst entstehen, wenn der Wasserstoff zuverlässig und preiswert lokal verfügbar ist. Die Folge ist ein lokales Huhn-Ei-Problem, das von potenziellen Geldgebern als erhebliches Risiko betrachtet wird. Eine primäre Alternative stellen Finanzierungsmodelle im Rahmen von Contracting-Lösungen dar, die Finanzierung, Realisierung und Betrieb der Anlagen im Gesamtpaket ermöglichen.

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Die grüne „Fabrik vor der Fabrik“ liegt meist außerhalb der strategischen Kernkompetenzen eines Chemieunternehmens.
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Grüner Wasserstoff: make or buy?

Die Frage des Offtake wächst mit der Distanz von den absehbaren großen europäischen Wasserstoff-Hubs und -Netzen. Ein großer Teil der chemischen Industrie auf dem Kontinent liegt tatsächlich nicht nahe der zentralen Produktions- und Anlandungspunkte für grünen Wasserstoff, z. B. an der Nordsee oder am Mittelmeer.

Bis diese Unternehmen – wenn überhaupt – an das pipelinegeführte europäische Wasserstoffnetz angebunden werden, haben sie, vereinfacht gesagt, zwei Möglichkeiten: Sie beziehen Wasserstoff in Form von grünem Ammoniak über konventionelle Lieferketten zur Direktverwertung und Aufspaltung. Oder sie bauen ein lokales Ökosystem für grünen Wasserstoff auf, in dem ein Teil aus der Industrieproduktion eingespeist und ein Teil aus kombinierten Solar- und Windparks zur Zwischenspeicherung ergänzt wird.

Beide Strategien setzen Investitionen in neue Kapazitäten und Fähigkeiten voraus, die eher zur Kernkompetenz eines Energiedienstleisters als der eines Chemieunternehmens gehören. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, sich an lokalen Wasserstoffprojekten zu beteiligen. Dies geht jedoch zu Lasten der eigenen Freiheitsgrade im strategischen Bereich der Energieversorgung.

„Fabrik vor der Fabrik“ für Power-to-X-to-Energy

Großverbraucher und Hersteller von grünem Wasserstoff – bzw. dessen Derivate – sollten daher eine Strategie entwickeln, was diese ­„Fa­brik vor der Fabrik“ leisten muss, um sie auf dem Pfad zu Netto-Null zu halten. Und sie müssen entscheiden, welchen Part sie und ihre Geldgeber in dieser Wertkette als Kernkompetenz ansehen.

Chemiestandorte, die bereits heute grauen Wasserstoff und dessen Derivate in der Produktion einsetzen, haben ein gut berechenbares Offtake-Potenzial für grüne Moleküle. Der Effekt dieser 1:1-Substitution auf die Ökobilanz ist jedoch begrenzt. Nebst der Hydrierung mit grünem Wasserstoff bietet sich insbesondere auch die Anwendungen von grünem Ammoniak an. Dieser kann bei größeren Wind-, Solar- oder Wasserkraftwerken mit fluktuierender Produktion als Energiespeicher genutzt werden (sog. Power-to-X). Da die benötigten Kapazitäten für erneuerbare Energien nicht an allen Standorten aufgebaut werden können, sind gegebenenfalls Investitionen in den Aufbau einer Ammoniak-Lieferkette notwendig.

Auch die aus gespeichertem grünem Wasserstoff bzw. Ammoniak gewonnen Energien wie Dampf und Strom sowie die Abwärme von Elektrolyseuren oder Crackern finden in chemischen Betrieben stets Abnehmer (X-to-Energy). Ein weiteres Plus der Branche gegenüber anderen Industriezweigen: Der Umgang mit Gefahrstoffen ist Tagesgeschäft.

Die Umsetzung der „Fabrik vor der Fabrik“ ist dennoch auch für die Chemieindustrie nicht ohne Herausforderungen. Das Zusammenfügen des technologischen Puzzles zu einem wirtschaftlichen und klimaneutralen Ganzen erfordert eine gesamtheitliche Sicht auf Engineering, Finanzierung, Technologiewahl und -integration sowie Betrieb. Um Chancen für Skaleneffekte und Sektorenkupplungen zu nutzen, sind Erfahrungstransfer und eine Vernetzung über die eigene Werksgrenze hinaus in einem zunehmend integrierten Energiesystem unabdingbar.

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Beim Wasserstoff-Contracting werden u.a. Planung, Finanzierung, Bau, Betrieb, Wartung und Instandsetzung des grünen Energie-Ökosystems integral oder teilweise an einen Dienstleister übertragen. © GETEC

 

Chemieparks als dezentrale Wasserstoff-Hubs

Dies war auch ein Grund, warum Getec sein Wasserstoff-Kompetenzzentrum im Industriepark Getec Park.Swiss in Muttenz, Schweiz, ansiedelte. In enger fachlicher Zusammenarbeit mit einem weiteren Multi-Client-Standort des Unternehmens in Emmen, Niederlande, entwickelt das Kompetenzzentrum wirtschaftliche Lösungen unter anderem für Chemieparks. Die technischen und betrieblichen Konzepte sind jedoch auch auf Einzelstandorte anwendbar.

Die beiden Parks repräsentieren zwei Anwendungsumgebungen, die in Europa vielfach vorkommen: Die eine liegt außerhalb von Basel im Zentrum des Kontinents, ist trimodal erschlossen und verfügt über begrenzte Ausbaumöglichkeiten für die erneuerbare Energieproduktion. Gerade hier bietet sich zugeführtes Ammoniak als Brückenrohstoff an. Ein Fokus liegt deshalb auf der Realisierung integrierter Lösungen zur Nutzung von grünem Ammoniak, bspw. um Ammoniak direkt in Wärme und Elektrizität umzuwandeln bzw. Ammoniak in sauberen Wasserstoff zu reformieren, um grünem Methanol zu produzieren oder zur Nutzung von Wasserstoff in Blockheizkraftwerken oder in Brennstoffzellen für Lastausgleich und -absicherung.

Die Lage des Parks in Emmen bietet ein großes Potenzial für Solar- und Windenergie zum Betrieb größerer Elektrolysekapazitäten. Ein Element ist der Bau von Wasserstoff-Elektrolyseuren durch das Konsortium GZI next, dem Getec angehört. Das parkinterne Projekt H2 ready zielt auf das schrittweise Umstellen des Standorts, um grünen Wasserstoff zu nutzen. Zur weiteren Dekarbonisierung rüstet der Betreiber die Brenner und Brennräume der Kraftwerke auf Multi-Fuel-Betrieb um. Bereits heute wird der Erdgasbedarf durch das Beimischen von Wasserstoff um knapp ein Fünftel reduziert. Das Ziel ist die komplette, für die angesiedelten Betriebe nahtlose Umstellung, die bereits im Jahr 2025 realisiert werden soll.

Im größeren Rahmen ist Emmen darüber hinaus einer von sechs Standorten des Projekts HEAVENN. Vision und Ziel der vielen beteiligten Projektpartner aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist es, grünen Wasserstoff über die gesamte Wertschöpfungskette zu nutzen und gleichzeitig anwendbare Geschäftsmodelle für den großflächigen kommerziellen Einsatz von Wasserstoff zu entwickeln.

Dazu werden die in der Küstenregion reichlich vorhandenen erneuerbaren Energiequellen integriert. Der über Elektrolyseure erzeugte Wasserstoff soll dann sowohl als Speichermedium für die spätere Rückgewinnung von Elektrizität als auch für die industrielle Wärmeerzeugung und den Verkehr zur Anwendung kommen. Außerdem geplant: Ein Gasterminal in Eemshaven, das nicht allein flüssiges Methan (LNG), sondern eben auch Wasserstoff abwickeln kann. Der Getec Park.Emmen bildet über diese Verbindung einen wichtigen Knotenpunkt in der Lieferkette des Wasserstoffs.

Wasserstoff-Contracting schützt Kerngeschäft

Solche und andere Projekte zur Nutzung von Wasserstoff werden an allen Chemiestandorten zum Thema, insbesondere solchen, die nicht bald an das europäische Wasserstoffnetz angeschlossen werden können. Sie werfen unweigerlich komplexe Fragen auf zur Sektorenkupplung, zu den Finanzierungsrisiken, zur technologischen Integration und zur Realisierung von Skaleneffekten. Für Unternehmen wird es zum Erfolgsfaktor, angesichts dieser neuen, an vielen Punkten mit dem chemischen Kerngeschäft verbundenen Wertkette den strategischen Fokus nicht zu gefährden.

Integrale Contracting-Lösungen bieten interessante Alternativen, auf dem Weg zu Netto-Null auf Wasserstoff zu setzen, die erheblichen Kapitalaufwendungen und operativen Herausforderungen jedoch gesamthaft einem Spezialisten anzuvertrauen. Ein solches Wasserstoff-Con­tracting hat den Vorteil, große Investitionen außerbilanziell zu führen. Es ermöglicht auch Skaleneffekte bei der Beschaffung und beim Offtake durch die Integration mehrere Betriebe und Standorte.

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