Anlagenbau & Prozesstechnik

Risiken und Chancen im Chemieanlagenbau

VDMA sieht weitere Entwicklung verhalten positiv, aber regional unterschiedlich

04.05.2016 -

Der Preisverfall an den Rohstoffmärkten sowie die sich deutlich abflachende Konjunkturentwicklung in China schürten weltweite Unsicherheit hinsichtlich der Entwicklung der Absatzmärkte des Großanlagenbaus. Die hieraus resultierende verhaltene Investitionstätigkeit führte im Chemieanlagenbau zu einem signifikanten Rückgang des Auftragseingangs. Während der Auftragseingang aller in der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) im VDMA organisierten Mitgliedsfirmen 2015 mit 19,5 Mrd. EUR in etwa auf dem Niveau des Vorjahres lag, sanken die Bestellungen im Segment Chemieanlagenbau 2015 um 35% auf 2,0 Mrd. EUR.

Jürgen Nowicki, Sprecher der AGAB sowie der Geschäftsleitung der Division Engineering von Linde, sieht das von niedrigen Rohstoffpreisen, einer schwachen Weltkonjunktur, starkem Wettbewerbsdruck und regionalen Konflikten geprägte volatile Umfeld als ausschlaggebend für die Entwicklung. Vor dem schwierigen Hintergrund bieten sich aber auch Chancen für den Anlagenbau.

Chemieanlagenbau im Jahr 2015

In der Eurozone bremsten hohe Energiepreise in der Eurozone die Investitionstätigkeit. Das auf dem Klimagipfel in Paris postulierte Ziel einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis zum Jahr 2100 festigte diese Zurückhaltung. Nicht nur die sich schnell verändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sondern auch die regionalen Konflikte in Russland, der Ukraine, im Irak, in Syrien und in anderen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas haben potenzielle Investoren verunsichert. Kurzfristige Lösungen zeichnen sich in den Krisenländern nicht ab.

China und der Mittlere Osten können ihre Funktion als globale Wachstumstreiber nur noch eingeschränkt wahrnehmen. Aus Schwellenländern wie etwa Indien, Brasilien, Mexiko oder der Türkei kamen ebenfalls keine nachhaltigen Wachstumsimpulse für den Chemieanlagenbau. Die unvermindert gute konjunkturelle Lage in den USA spiegelt sich auch im Chemieanlagenbau wider. Der Ölpreisverfall führte bislang noch nicht zu einem Investitionsstopp, trug aber zu einer Beruhigung des durch den Schieferöl- und Schiefergas-Boom überhitzten Marktes insbesondere für Bauleistungen bei.

Russland: Schwierige Rahmenbedingungen

Erlöse aus dem Verkauf von Erdöl und Erdgas tragen wesentlich zur Finanzierung des russischen Staatsbudgets bei. Die deutlich gesunkenen Rohstoffpreise, die auch durch Mehrproduktion nicht kompensiert werden können, treffen die russische Wirtschaft hart. Darüber hinaus belasten die westlichen Sanktionen und der Verfall des Rubel-Kurses die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Zunehmend öffnet sich Russland daher für gemeinsame Projekte mit China. Die Zusammenarbeit beider Länder basiert zum einen auf geostrategischen Überlegungen, zum anderen spielen aber auch umfangreiche Kreditzusagen Chinas eine Rolle.

Die Einfuhr dringend benötigter Investitionsgüter hat sich für Russland weiter verteuert. Die Regierung versucht diese Entwicklung durch den Aufbau einer wettbewerbsfähigen lokalen Industrie abzufedern. Ein Trend zu umweltfreundlichen Technologien ist in diesem Zusammenhang allerdings noch nicht erkennbar. Vor diesem Hintergrund geht der Internationale Währungsfonds von einer weiteren Schrumpfung der russischen Wirtschaftsleistung aus. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt 2015 um 3,7% zurückging, wird auch für 2016 mit einer Fortsetzung der Rezession gerechnet. Für den Chemieanlagenbau sind das keine guten Nachrichten. Dennoch erreichte der Auftragseingang des AGAB-Chemieanlagenbaus aus Russland nach dem Rekordjahr 2014 (1,7 Mrd. EUR) mit rund 900 Mio. EUR erneut einen hohen Wert. Verantwortlich war hierfür – wie schon im Vorjahr – ein Großauftrag zum Bau einer Erdgasaufbereitungsanlage. Solche Sondereffekte sind angesichts der geplanten Investitionen im Zuge des russischen Importsubstitutionsprogramms zwar auch zukünftig möglich. Die schwierigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen dämpfen jedoch die Hoffnungen auf einen allgemeinen Aufschwung.

Chinesische Anlagenbauer bauen Präsenz weiter aus

Das Wirtschaftswachstum in China ist 2015 mit 6,9% auf den niedrigsten Stand seit 1990 gefallen. Während die Investitionen ausländischer Unternehmen verhalten ausfielen, verschärfte sich der inländische Wettbewerb massiv. Immer häufiger werden Aufträge an chinesische Anlagenbauer mit Eigentechnologien vergeben. Darüber hinaus engagieren sich chinesische Chemieanlagenbauer verstärkt außerhalb Chinas, etwa in Südostasien, im Mittleren Osten, in Brasilien, Südafrika und Indien. Diese Aktivitäten sind häufig auch mit finanziellen Beteiligungen an ausländischen Unternehmen verknüpft. Konsequent sichert sich China dadurch den für seine Versorgung unentbehrlichen Zugang zu strategischen Rohstoffquellen, wie zum Beispiel Erzen aus Brasilien, Kupfer aus Peru und Rohöl aus Afrika. Im Gegenzug erfolgt der Ausbau der lokalen Infrastruktur – z.B. Eisenbahnlinien, Häfen und Kanäle –, der letztlich auch der Ausfuhr von Rohstoffen nach China dient.

USA: EPC-Geschäft auf dem Vormarsch

Der Ölpreisverfall stellt die Rentabilität alternativer Fördermethoden wie etwa die Ölsandgewinnung in Kanada und die Schieferölförderung in den USA zunehmend in Frage. So schätzen Marktbeobachter, dass Fracking-Unternehmen trotz deutlicher Produktivitätssteigerungen noch immer Ölpreise von 50 bis 60 USD je Fass benötigen, um wirtschaftlich tragfähig zu sein. Folglich mussten in den vergangenen Monaten immer mehr Öl- und Gasfirmen Insolvenz anmelden; die Schieferölförderung ist seit ihrem Höhepunkt im März 2015 um rund 20% gesunken (Stand: März 2016). Am Anlagenbau („downstream“) geht diese Entwicklung nicht spurlos vorbei, auch wenn die Konsequenzen hier deutlich weniger spürbar sind als im Explorationsgeschäft („upstream“). Die Projektpipeline vieler Chemieanlagenbauer ist noch immer gut gefüllt und auch Neuprojekte werden weiterhin vergeben. So erhielten die AGAB-Chemieanlagenbauer 2015 Aufträge im Wert von 310 Mio. EUR (2014: 350 Mio. EUR) aus den USA – womit die Vereinigten Staaten hinter Russland der zweitwichtigste Markt für die Branche waren. Allerdings unterliegen die Vorhaben im Chemieanlagenbau inzwischen sehr anspruchsvollen Finanzierungskriterien und sind durch einen harten Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern gekennzeichnet.

Deutsche Anlagenbauunternehmen bauen Ihre Präsenz im US-Markt dennoch weiter aus. Neben der Anlagentechnik, der Planung und dem Einkauf geht es dabei auch darum, die dortigen Regionalgesellschaften in die Lage zu versetzen, das Bau- und Montagegeschäft und damit letztlich die gesamte EPC-Kette lokal anbieten zu können, von der Planung bis zur Montage.

Wachsende Konkurrenz im Mittleren Osten

Der Preisverfall bei Öl und Gas verschlechtert die Absatzchancen des Chemieanlagenbaus und belastet gleichzeitig die Staatsfinanzen vieler Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Zahlreiche Projekte in der chemischen und petrochemischen Industrie liegen auf Eis oder wurden sogar storniert. Bereits gestartete inländische Investitionsprogramme geraten zunehmend ins Stocken. Darüber hinaus stoßen die deutschen Chemieanlagenbauer insbesondere bei Projekten am Persischen Golf auf große Konkurrenz durch Wettbewerber aus Asien. Dieses schwierige Umfeld spiegelt sich auch in den Auftragseingangszahlen des AGAB-Chemieanlagenbaus, der 2015 einen Rückgang der Bestellungen aus dem Mittleren Osten um 30% auf 108 Mio. EUR (2014: 157 Mio. EUR) verzeichnen musste. Solange der Weltmarktpreis für Erdöl auf dem derzeit niedrigen Niveau von rund 40 USD pro Fass verharrt, ist nicht mit einer spürbaren Änderung dieser Situation zu rechnen. Vielmehr könnte sich die Nachfrage sogar weiter reduzieren.

Europa: Investitionsklima getrübt

Die Investitionen in Industrieanlagen in Europa sind rückläufig bzw. stagnieren und das Wachstumspotenzial der Europäischen Union entwickelt sich insgesamt langsamer als das von wichtigen Handelspartnern. Aufgrund der globalen Wettbewerbssituation gibt es weiterhin Verlagerungen von Produktionskapazitäten in das außereuropäische Ausland, die insbesondere bei energieintensiven Produktionsprozessen deutlich wahrnehmbar sind. Nach Angaben des Verbandes der chemischen Industrie investieren die deutschen Chemieunternehmen bereits seit 2012 stärker im Ausland als im Inland. Im Jahr 2015 betrugen die Auslandsinvestitionen insgesamt 8,2 Mrd. EUR, verglichen mit 7,2 Mrd. EUR im Inland. In Brüssel hofft man, dass das aktuell günstige makroökonomische Umfeld, das von niedrigen Zinsen, einem schwachen Euro und günstigem Öl geprägt ist, Impulse für eine nachhaltige Belebung der Investitionsaktivitäten in Europa liefert. Sollte sich diese Hoffnung bestätigen, könnte der westeuropäische Markt wieder stärker in den Fokus des AGAB-Chemieanlagenbaus rücken.

Irans Öffnung bietet Chancen

Der Iran ist seit jeher ein Kernmarkt für den deutschen chemischen Großanlagenbau im Nahen und Mittleren Osten. Bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren gab es dort zahlreiche Großaufträge, von 2000 bis 2009 war der Iran mit Bestellungen im Wert von 6,2 Mrd. EUR sogar der fünftwichtigste Kundenmarkt weltweit. Neben Kraftwerken waren vor allem große Petrochemie-Anlagen und Raffinerien gefragt. Die Branche hofft nach der Aussetzung der Sanktionen rasch wieder an diese Erfolge anknüpfen zu können. Vor allem die vergangenen Projekte und Erfahrungen könnten es den in Deutschland ansässigen Unternehmen ermöglichen, den Fuß in die sich nun öffnende Tür zu den iranischen Großinvestitionen zu bekommen. Denn zahlreiche von Deutschen gebaute Anlagen im Iran sind noch immer in Betrieb, sodass nach wie vor Kundenkontakte bestehen und grundsätzlich deutsche Qualität hoch im Kurs steht. Insofern sollten in einer ersten Phase Chancen vor allem bei Instandsetzungs- und Ertüchtigungsprojekten bestehen. Wie die Perspektiven hingegen bei Greenfield-Projekten im Wettbewerb zu europäischen und asiatischen Wettbewerbern zu sehen sind, ist derzeit noch nicht klar. Immerhin gab es schon vielfältige vorbereitende Gespräche sowohl auf politischer als auch auf unternehmerischer Ebene und erste Kooperationen mit iranischen Ingenieurfirmen wurden aufgenommen. Dabei gilt es, weiterhin geltende Sanktionsvorschriften der UN, der EU und der USA einzuhalten. Überdies müssen Banken wieder am internationalen Zahlungsverkehr teilnehmen dürfen, damit Großprojekte auch finanziell sicher abgewickelt werden können.

Innovation, Technologieführerschaft und Service

Die Fähigkeit zu Innovation und kontinuierlicher Weiterentwicklung bestehender Technologien ist ein starkes Differenzierungsmerkmal des deutschen und europäischen Anlagenbaus gegenüber der abwicklungsgetriebenen Konkurrenz aus Nordamerika und Fernost. Gleichzeitig bedeutet Technologieführerschaft aber immer seltener automatisch auch Marktführerschaft. Vielmehr stehen Anlagen im Fokus, die die vielfältigen Kundenbedürfnisse umfassend erfüllen. Argumente wie die im Vergleich zur Konkurrenz niedrigeren Betriebskosten, die besseren Verfügbarkeitszeiten und der geringere Wartungs- und Reparaturbedarf deutscher Anlagen spielen eine wesentliche Rolle bei der Auftragsvergabe.

Auch die Bedeutung von Serviceleistungen wächst im Anlagenbau stark, denn die Unternehmen haben die vielfältigen Chancen des Servicegeschäfts erkannt und nutzen das Potenzial konsequent. Nowicki: „Neben der Stabilisierung der Umsätze und einer Verbesserung der Marge sind es vor allem die direkten Kundenkontakte und der damit verbundene Einblick in die konkreten Bedürfnisse der Anlagenbetreiber, die das Servicegeschäft für den Großanlagenbau so attraktiv machen.“ Von den Erfahrungen aus den anlagennahen Serviceaktivitäten profitieren letztendlich auch die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der AGAB-Unternehmen.

Ausblick: Vorsichtiger Optimismus

Festzuhalten bleibt, dass die derzeit schwierigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Nachfrage nach Chemieanlagen beeinträchtigen. Gleichzeitig ergeben sich aber auch vielfältige Chancen: So stärkt die Abwertung des Euro-Wechselkurses im Vergleich zu wichtigen Leitwährungen die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter gegenüber der US-amerikanischen und asiatischen Konkurrenz. Insbesondere im sich wieder öffnenden iranischen Markt könnte dies eine wichtige Rolle spielen. Aber auch die Digitalisierung und Automatisierung der Anlagen sowie die sich aus dem Thema Industrie 4.0 ergebenden Anforderungen werden vom Chemieanlagenbau konsequent angegangen und neue Lösungen für den Kunden entwickelt.

Die deutschen Chemieanlagenbauer setzen bei der Projektabwicklung nach wie vor auf individuelle Lösungen. Gleichzeitig gewinnen der Einsatz von Modulen und die Integration ganzer Systeme weiter an Bedeutung. Die sich daraus ergebenden Produktivitätszuwächse sind beachtlich, sie bewegen sich laut einer VDMA-Studie aus dem Jahr 2014 in Größenordnungen von 10% bis 15% in Bezug auf Preis und Abwicklungszeit. Insgesamt sind die Aussichten für den AGAB-Chemieanlagenbau somit verhalten positiv einzuschätzen. Leicht steigende Auftragseingänge stellen für 2016 insofern ein realistisches Szenario dar.