Chemie & Life Sciences

CRISPR/Cas9 findet immer mehr Anwendungen

Das Gen-Bearbeitungsinstrument wird in Medizin und Biologie in zahlreichen Entwicklungsprojekten eingesetzt

11.12.2018 -

Das vor einigen Jahren entwickelte CRISPR/Cas9-System – auch „Genschere“ genannt – hat die Fachwelt in Medizin und Biologie in Begeisterung versetzt. Wissenschaftler sehen in der vielfach als Genschere bezeichneten Methode das Potenzial für revolutionäre Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten und der Optimierung von Pflanzen. Für die Industrie hat sich damit die Tür zu einem Milliardengeschäft aufgetan. Die Umsetzung in konkrete Anwendungen ist jedoch anspruchsvoller als erwartet. Zudem gibt es auf rechtlicher Ebene Zoff um die Patente.

Es war im Jahr 2011, als die französische Mikrobiologin und Biochemikerin Emmanuelle Charpentier im Fachmagazin Nature erstmals bahnbrechende Grundlagen zur CRISPR/Cas9-Methode veröffentlichte, auf deren Basis sie eine Genschere entwickelt hatte. Die Idee dazu war ihr während eines Fluges gekommen. Ein Jahr später legte sie zusammen mit der Wissenschaftlerin Jennifer Doudna von der University of California in Berkeley nach und publizierte in Science eine weitere entscheidende Forschungsarbeit zu dem Thema. Science erklärte die CRISPR-Methode daraufhin zum „Breakthrough of the Year 2015“, Experten verliehen der Technologie das Attribut revolutionär. Seitdem ist die Forschungswelt in Aufruhr. Und Charpentier, seit 2015 Direktorin des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie in Berlin, als auch Doudna avancierten zu Weltstars der CRISPR-Wissenschaft. Unverhohlen werden sie als Anwärter für den Nobelpreis gehandelt.

Punktgenaue Genbearbeitung

CRISPR/Cas steht für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats und ist eine biochemische Methode, um das Trägermaterial von Erbinformationen gezielt zu schneiden und zu verändern. Ursprünglich stammt das CRISPR/Cas-System aus Bakterien, denen es als eine Art Immunsystem dient, um Angriffe von Viren erkennen und abwehren zu können. Charpentier und Doudna hatten die Idee, daraus ein molekularbiologisches Werkzeug zu entwickeln. Mit CRISPR/Cas kann man jeden DNA-Strang an einer bestimmten Stelle durchtrennen und bei der anschließenden Reparatur einzelne DNA-Bausteine ausschneiden, austauschen oder neu einfügen. Auch Nukleotide in einem Gen, also die Bausteine von Nukleinsäuren, können geändert werden.

Bemerkenswert ist, dass das System nicht nur in Bakterien funktioniert, sondern bei allen Organismen. Und im Unterschied zu natürlichen Mutationen, die zufällig ablaufen, ist das Genome-Editing mit CRISPR/Cas gezielt. Die Bearbeitung der einzelnen DNA-Bausteine funktioniert dabei so präzise wie noch nie, unbeabsichtigte Schnitte außerhalb der Zielregion sind selten. Im Vergleich zu anderen Genome-Editing-Verfahren lässt sich das CRISPR/Cas-System zudem schneller und kostengünstiger anwenden. Doudna weist darauf hin, dass die Methode so einfach sei, „dass sie quasi jeder Wissenschaftler mit molekularbiologischem Sachverstand bedienen kann.“

Neue Therapien für Kranke

Die Fachwelt reagierte euphorisch auf die „Erfindung“: „Das Genom-Editing ist eine der größten methodischen Innovationen in der Molekularbiologie seit mehr als 20 Jahren und von großer Bedeutung für die Life-Sciences-Industrie“, stellte der Geschäftsführer der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie (DIB), Ricardo Gent, fest. In der Medizin dürfte die Methode völlig neue Therapien ermöglichen. In der Biologie erwartet man, damit Pflanzen mit neuen Eigenschaften entwickeln zu können.

Mittlerweile gilt die CRISPR/Cas9-Methode als das meistgenutzte Gentechnik-Werkzeug in den Laboren der Welt. Gab es nach Angaben des Max-Planck-Instituts 2012 noch 127 Veröffentlichungen zu CRISPR-Cas9, waren es 2013 bereits 277. Die Zahl schnellte 2015 auf beinahe 500 hoch, 2018 könnten es über 1100 Studien werden. Wissenschaftler aus aller Welt würden inzwischen CRISPR-Cas9 untersuchen und weiterentwickeln.

Und während die Genschere anfangs vor allem in der Grundlagenforschung genutzt wurde, testen Wissenschaftler sie mittlerweile in immer mehr konkreten Anwendungen. So haben nach einem Bericht von Nature im November 2016 Wissenschaftler die CRISPR-Methode erstmals im Menschen eingesetzt. Ein Forscherteam der Sichuan University in China habe demnach die Immunzellen eines Patienten mit aggressivem Lungenkrebs genetisch verändert und sie ihm dann wieder injiziert. Das Ziel sei gewesen, die bearbeiteten Zellen dazu zu bringen, gegen den Krebs zu kämpfen.

Im Sommer 2018 startete eine erste von US-Unternehmen geförderte klinische Studie mit CRISPR-Cas9, bei der die Genom-Editing-Technik bei Patienten mit der Blutstörung Beta-Thalassämie getestet werden soll. Das Projekt mit einer experimentellen CRISPR-Behandlung wird in einem Regensburger Krankenhaus durchgeführt.

Erste Tests am Menschen

An chinesischen Forschungszentren läuft gleich eine Handvoll CRISPR-Studien. So hat man dort eine Genom-Editierung der nächsten Generation verwendet, um eine krankheitsverursachende Mutation in menschlichen Embryonen zu reparieren. Eine von der University of Pennsylvania geführte Untersuchung testet den Einsatz der Gen-Editing-Technologie bei verschiedenen Krebsarten. Anfang 2018 wurde zudem bekannt, dass Wissenschaftler das Genomprogramm dazu gebracht haben, drei neue Anwendungen zu beherrschen, denen man witzige Abkürzungen gab: DETECTR jagt DNA-Sequenzen, die einzigartig für menschliche Gebärmutterhalskrebs verursachende Papillomaviren sind. SHERLOCK wiederum ist ein genetischer Spürsinn, der bestimmte Sequenzen von DNA und RNA in einer Probe nachweist, wenn diese zum Beispiel das Zika- oder Denguevirus enthält. Die Erfinder dieser Anwendungen hoffen, dass die Werkzeuge bei Krankheitsausbrüchen zur schnellen Diagnose beitragen können. Eine dritte Anwendung namens CAMERA nutzt die Fähigkeit von CRISPR um festzustellen, ob eine Zelle ein bestimmtes Ereignis erlebt hat - ob sie beispielsweise einem Medikament ausgesetzt gewesen war.

Auch in der Pflanzenzüchtung hat der Einsatz von CRISPR/Cas9 eine Welle neuer Entwicklungen ausgelöst, oftmals mit dem Ziel, sie gegen Schädlinge, Krankheitserreger oder Wetterextreme zu schützen. So konnten mit Hilfe der Technologie mehltauresistente Tomaten und Weizenpflanzen hergestellt werden. US-Forscher arbeiten daran, durch CRISPR den Ertrag von sogenanntem Wachsmais zu steigern. Dieser Mais mit einer besonderen Stärkezusammensetzung kommt vor allem bei industriellen Anwendungen zum Einsatz. Und das dürfte erst der Anfang sein: Nach einem Bericht in Biologie unserer Zeit sehen Fachleute durch weitere, neu charakterisierte CRISPR/Cas9-Systeme „ein noch nie da gewesenes Spektrum an zusätzlichen Einsatzmöglichkeiten“.

Patentstreit um CRISPR

Allerdings verläuft der Umgang mit dieser Technologie nicht so reibungslos, wie man angesichts der vielfältigen Anwendungen vermuten könnte. Aufgrund der Bedeutung von CRISPR und der milliardenschweren Umsatzmöglichkeiten, die diese Technologie bietet, tobt seit Jahren ein heftiger Streit um die Patente.

Obwohl Charpentier und Doudna im Mai 2012 Ihre „Erfindung“ öffentlich beschrieben hatten und die University of California in dem Jahr einen Patentantrag bei der US-Patentbehörde eingereicht hatte, wurde 2014 nicht den beiden Frauen das Patent allein zuerkannt, sondern auch Feng Zhang vom Broad Institut des MIT (Massachusetts Institute of Technology) sowie der Harvard-Universität. Zhang hatte mit seinem Team 2013 ebenfalls zu CRISPR publiziert und einen Patentantrag gestellt – allerdings später als Charpentier und Doudna. Zhang hatte erstmals CRISPR bei Maus- und menschlichen Zellen angewandt. Für die wirtschaftlich besonders lukrativen Anwendungen an „höheren“ Zellen bekam das Broad Institut das CRISPR-Patent zugesprochen, für das Verfahren „an sich“ die University of California. Geklärt war damit nichts. „Die anderen haben das Patent für grüne Tennisbälle“, so Doudna, „wir dagegen haben das Patent auf alle Tennisbälle“, zitiert sie das Online-Fachportal Transgen.

Im Spätsommer 2018 entschied schließlich ein US-Berufungsgericht, die Patentansprüche des Broad Instituts seien „hinreichend eigenständig“ und könnten neben denen von Doudna und Charpentier bestehen. Das wohl nicht mehr anfechtbare Urteil könnte beide Seiten dazu bringen, ihren Streit beizulegen. In Europa ist der Konflikt dagegen noch nicht entschieden. Das Europäische Patentamt hat zwar die Ansprüche von Doudna und Charpentier anerkannt, aber auch Zhang für einige seiner CRISPR-Anwendungen Patentrechte zugestanden. Mittlerweile mischen weitere Parteien bei diesem Thema mit. So hat der Darmstädter Merck-Konzern für eine eigene CRISPR-Technologie Patente in zahlreichen Ländern erhalten.

Ethik und Zweifel

Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch darüber, inwieweit die CRISPR-Technologie ethische Fragen berührt. Einen Sturm der Entrüstung löste kürzlich die Nachricht aus, der chinesische Forscher He Jiankui von der Southern University of Science and Technology in Shenzhen habe das Erbgut von zwei Embryonen mittels CRISPR gentechnisch verändert. Wissenschaftler aus aller Welt reagierten entsetzt: Die Universität distanzierte sich von der bis dato nicht bestätigten Arbeit des Wissenschaftlers und teilte mit, man sei „zutiefst schockiert“. He habe „ernsthaft gegen die akademische Ethik und Normen“ verstoßen. Andere chinesische Forscher schrieben in einem Protestbrief, dass Versuche am Menschen „nur als verrückt beschrieben werden“ könnten. Die potenziellen Risiken und Schäden für die gesamte Menschheit, die durch einen ungerechtfertigten Einsatz des Verfahrens entstehen können, seien unermesslich.

Bei Pflanzen dreht sich die Diskussion hingegen darum, ob sie nach einer CRISPR-Behandlung als „gentechnisch verändert“ anzusehen sind oder natürlichen Mutationen gleichen. Auch die Sicherheit spielt laut Transgen in den Diskussionen eine Rolle. Wenngleich CRISPR mehr Sicherheit durch mehr Präzision bietet, sei es das Ziel der Wissenschaften, unbeabsichtigte Mutationen zu vermeiden. Insbesondere im medizinischen Bereich könnten „Fehlschnitte“ gravierende Folgen haben.

Inzwischen sind die molekularen Werkzeuge weiterentwickelt und ihre Zielgenauigkeit noch einmal deutlich verbessert worden. So werden die für das Editieren erforderlichen CRISPR-Werkzeuge meist mit gentechnischen Verfahren in eine Zelle eingeführt. Wenn sie ihren Zweck erfüllt und die gewünschte Mutation ausgelöst haben, werden die Werkzeuge aus der Zelle „entsorgt“. Das eingeführte Genkonstrukt mit der „Bauanleitung“ für die CRISPR-Werkzeuge unterliegt dabei den Vererbungsgesetzen: Nach der Vermehrung soll es bei vielen Nachkommen nicht mehr vorhanden sein.

Mittlerweile melden sich auch kritische Stimmen hinsichtlich des Einsatzes von CRISPR an menschlichen Genen zu Wort. So wollen Wissenschaftler festgestellt haben, dass CRISPR unter bestimmten Umständen ein Risiko für Patienten darstellen könnte. Nach einem Bericht des Pharma-Onlineportals Stat sind die möglichen DNA-Schäden durch CRISPR „stark unterschätzt“ worden. Zwei Studien hätten ergeben, dass einigen CRISPR-Zellen möglicherweise ein wichtiger Antikrebsmechanismus fehle und daher Tumore auslösen könnten. „Das DNA-Chaos durch CRISPR wurde ernsthaft unterschätzt“, zitiert Stat den Genetiker und Studienleiter Allan Bradley vom englischen Wellcome Sanger Center.

Asien läuft den Rang ab

Viele Fachleute gehen allerdings davon aus, dass diese Herausforderungen zu meistern sind und glauben weiter an das Potenzial der Technologie. So stellt die Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie fest, dass eine „pauschale und naturwissenschaftlich unbegründete Ablehnung“ der medizinischen und industriellen Biotechnologie schade. Vielmehr sollte das Genom-Editing von Unternehmen der Life-Sciences-Industrie genutzt werden. Für forschungsintensive Produkte und Verfahren sei es wichtig, dass diese nicht nur in Deutschland entwickelt werden, sondern hier auch angewendet werden, so in der Bioökonomie und in der Medizin.

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