Chemie & Life Sciences

Rudolf Jerrentrup: Zukunftsszenarien der chemischen Industrie

Fünf Trends, die den Weg der chemischen Industrie aufzeigen

24.11.2010 -

Allen Erfolgsmeldungen und positiven Aussagen zur Zukunft zum Trotz, in der chemischen Industrie stehen die Zeichen auch weiterhin auf dramatischem Wandel. Die Ressourcenkosten scheinen sich auf hohem Niveau einzupendeln, die Konkurrenz aus den Schwellenländern wächst, die Globalisierung gewinnt weiter an Bedeutung und die Produkt- und Technologiezyklen werden sich weiterhin verkürzen. Auch die Unternehmenslebenszyklen werden immer kürzer, nicht zuletzt bedingt durch die Tatsache, dass weltweit eine wachsende Menge an Kapital zur Verfügung steht, das investiert werden will und dadurch zum Entstehen neuer Unternehmensstrukturen beiträgt. Angesichts dieser Szenarien könnte der Weltmarktanteil der europäischen Chemieindustrie im Jahr 2015 nach Meinung von Brancheninsidern von heute 30 auf nur noch 15% sinken. Kein Wunder, dass derzeit viele Konzerne dabei sind, ihre Konzernstrukturen neu zu ordnen.

Trend 1: Flexibilität und Kundenorientierung

Wir werden künftig vermehrt sehen, dass technologische Vorteile zunehmend gemeinsam mit dem Endkunden erzielt werden. Dies ist insbesondere notwendig, da der relative Anteil der Aufwendungen für Forschung, Entwicklung und Marketing sowie für den Zugang zum Endkunden stetig steigt und es gilt, diesen Effekt zu neutralisieren. Zugleich werden die Kunden der Chemieindustrie immer internationaler und es gilt, den Kunden in die entsprechenden Länder zu folgen, um sie vor Ort adäquat bedienen zu können: Anwendungs-Know-how und flexibles Asset Management sind hier die Stichworte, die die Rahmenbedingungen schaffen. Unter diesen Bedingungen werden wir künftig mehr informelle Netzwerke sehen, die es ermöglichen, die Arbeit an verschiedenen Orten dieser Welt gemeinsam zu erledigen.

Für Unternehmen der chemischen Industrie wird es daher künftig zusehends wichtiger werden, auch das Asset „Humankapital" zu steuern. Denn in internationalen Teams sind neben rein technischen Schlüsselskills vor allem Soft Skills gefragt.

Trend 2: Schlüssel Innovationsmanagement

Auch in der Chemieindustrie sind Innovationen in der Vergangenheit häufig eher zufällig entstanden. Doch in Zukunft wird hier vermehrt der Fokus auf Effizienz und Effektivität liegen. Time-to-Market wird eine Schlüssel zum Erfolg sein - doch der Weg dahin ist kein einfacher. So bedarf es dazu entsprechender Strukturen und Prozesse in den Forschungsabteilungen und darüber hinaus ein marktorientiertes Denken bei den Mitarbeitern. Auch bei einem Unternehmen wie Evonik, das in dieser Hinsicht bereits mit einem Stage-Gate-Prozess und der Organisationsform der Projekthäuser gut positioniert ist, wird man weitere Anstrengungen unternehmen, die F&E Organisation zu optimieren; ein Trend, den wir im Übrigen derzeit in fast der gesamten Industrie sehen.

Trend 3: Aktive Globalisierung

Die Produktion von Commodity-Produkten steht aufgrund der hohen Ressourcenkosten und des Wettbewerbs mit Produkten aus Entwicklungs- und Schwellenländern unter erheblichem Kostendruck. Hochlohnländer werden sich deshalb mehr und mehr zu Produzenten von Produkten für höchste Ansprüche entwickeln müssen. Hier gilt es, durch Innovation den wissenschaftlichen Vorsprung nicht nur zu halten, sondern auszubauen; insbesondere auch angesichts der Anstrengungen von Schwellenländern wie z.B. China und Indien, deren führende Chemiefirmen versuchen, in die westlichen Länder vorzustoßen und entsprechende Lücken zu besetzen. Gleichzeitig gilt es für die westlichen Firmen, die Position in diesen Schwellenländern mit einem hohen Marktpotential auszubauen und einen substantiellen Marktanteil zu gewinnen. So verfolgt beispielsweise die BASF seit einigen Jahren einen gezielten Kurs der Ansiedlung eigener Produktionsstätten in Asien und wird in den nächsten Jahren 20 bis 25% ihres Investitionsvolumens insgesamt im Ausland ausgeben. Von chinesischer Seite selbst wird der Aufbau der Spezialchemie forciert.

Doch auch hier gelingt dies nicht nur mit einer agilen und schlanken Organisation, sondern es bedarf motivierter Mitarbeiter, die diesen Prozess aktiv begleiten und vorantreiben können. Technologieschübe allein reichen nicht aus, die mit diesen Veränderungsprozessen verbundenen notwendigen Ergebnisverbesserungen zu realisieren.

Trend 4: Konsolidierung und Spezialisierung

Im Bereich der Spezialitätenchemie sehen wir derzeit den Trend, dass Unternehmen aufgrund der zunehmenden Wettbewerbsintensität und der hohen Rohstoffpreise laufend überprüfen, wo noch Kostensenkungs- und Erlössteigerungspotentiale bestehen. Damit verbunden ist eine Portfoliooptimierung und entsprechendes Abstoßen von Unternehmensteilen, die nicht mehr dem Profitabilitätsanspruch genügen. Dieses Profitabilitäts-Screening wird auch künftig weitergehen.

Zugleich ist die Globalisierung noch längst nicht abgeschlossen. Bei diesem Konsolidierungsprozess stellt sich natürlich immer wieder die Frage der richtigen Größe. So entstehen laufend neue Unternehmensstrukturen und es bieten sich immer wieder Lücken für kleine Spezialanbieter, die in diese Nischen dringen - die ab einer bestimmten Größe, Profitabilität und nicht zuletzt interessanter Kapitalisierung wiederum Ziel für eine Übernahme im Rahmen des oben beschriebenen Konsolidierungsprozesses werden - gegenwärtig ist diesbezüglich eine hohe Dynamik zu verzeichnen.

Hinzu kommt, dass die Globalisierung es notwendig macht, dass Unternehmen in den Märkten vor Ort präsent sind. Daher sind sie permanent auf der Suche nach der richtigen Positionierung, um diese Märkte abzudecken: Dies bedeutet zum einen eine Konzentration auf Kernsegmente, um diese dann weltweit wiederum so zu stärken, dass man sich gegenüber dem Wettbewerb absetzen kann. Zum anderen steht es für eine entsprechende Flexibilität und Marktanpassungsfähigkeit. So hat z.B. das Beipiel Lanxess gezeigt, dass durch eine Portfoliooptimierung, die sicher noch nicht abgeschlossen ist und eine Stärkung dezentraler Führungsstrukturen deutliche Profitabilitätsverbesserungen zu erreichen sind.

Es gilt sich allerdings ständig die Frage zu stellen, wie die richtige Organisationsstruktur für ein Unternehmen aussieht. Eine Fokussierung auf schlagkräftige strategische Business Units führt zur geforderten Flexibilität und Marktnähe. Auf der anderen Seite ist es wichtig, Business Unitübergreifend insbesondere in großen Wachstumsregionen wie China oder Indien das Geschäft voranzutreiben. Dadurch wird die Tendenz gemildert, dass Business Units sich naturgemäß auf starke Märkte fokussieren und gleichzeitig auch der Ressourceneinsatz durch Vermeidung von Doppelaktivitäten optimiert. Dies führt zu einer Matrixorganisation mit den entsprechenden Herausforderungen für das Management.

Trend 5: Kontinuierliche Prozessoptimierung und Kostenreduktion

Der kontinuierliche Blick auf die Supply Chain ist auch in der Chemieindustrie längst kein Fremdwort mehr. Wurde allerdings bisher häufig auf der Ebene der Business Units die Prozessoptimierung im Sinne von Supply Chain vorangetrieben, gilt es nun verstärkt die Potentiale, die unternehmensübergreifend zu heben sind, zu realisieren. Im Dienstleistungsbereich, den administrativen wie den technischen und sonstigen Bereichen, stellt sich die Frage der optimalen Organisationsstruktur. Im Rahmen einer heterogenen internationalen Produktions- und Geschäftsstruktur ist genau zu prüfen, welche Aktivitäten zentralisiert und welche dezentral anzusiedeln sind. Zudem stellt sich die Frage, welches Modell das richtige ist. Profit Center, Cost Plus oder Cost Center? In welchem Umfang misst man sich am Markt bzw. stellt die Organisation am Markt auf? Hier zeigen sich nur in Ansätzen die Komplexität und die Herausforderungen, die hinter dem pauschalierenden Begriff „Shared Services" versteckt sind.

Im Rahmen dieser Betrachtungen noch ein abschließendes Wort zum Thema Outsourcing: In den vergangenen Jahren hat die chemische Industrie große Schritte in Richtung Outsourcing gemacht. Allerdings stellt sich hier die Frage, inwieweit die jeweils optimalen Ansätze gefunden worden sind. Die Praxis zeigt: Outsourcing ist nicht ein „All-Heilmittel". In manchen Fällen hat sich gezeigt, dass es durchaus elegante In-House-Lösungen gibt, die auch gegenüber dem Outsourcing zu einer Qualitäts- und Leistungsverbesserung führen.

Aufgrund der allgemeinen Wettbewerbssituation, des Wachstums und der zunehmenden Bedeutung der Schwellenländer, die zu einer anhaltenden Ressourcenanspannung auf der Rohstoff- und Energieseite beiträgt, wird der Kostendruck weiterhin anhalten und die Optimierung der Produktivität auch künftig ein Thema sein. Die Suche nach Kostensenkungs- und Prozessoptimierungspotentialen bei gleichzeitiger Entwicklung von Erlössteigerungsmöglichkeiten werden auch zukünftig das Management in der Chemieindustrie herausfordern.

Es deutete sich in diesem Kommentar bereits an einigen Stellen an: Am besten werden in der chemischen Industrie diejenigen Unternehmen all diese Wandlungen meistern können, die nicht nur ihre Prozesse, sondern auch ihre Mitarbeiter perfekt auf diese Situation des permanenten Wandels vorbereitet haben. Denn in einer Welt, in der in jeder Branche diese Gesetze des permanenten Wandels gelten, kommt den Mitarbeitern eine entscheidende Schlüsselrolle zu. Sie sind mehr als bloßer Kostenfaktor, nämlich elementarer Mosaikstein auf dem Weg des Unternehmens zum Erfolg.