Chemie & Life Sciences

Zukunftsszenarien für die chemische Industrie in den USA

Neue Globalisierung

24.11.2010 -

Die Zeiten, in denen einige wenige Industrienationen die Weltmärkte dominierten, gehen zu Ende. Mit der Entwicklung einer Vielzahl neuer Wirtschaftszentren in China, Indien, Brasilien und Russland aber auch Mexiko, Südkorea oder Osteuropa tritt die Globalisierung in eine neue Phase, so ergaben Trendforschungen von Accenture. Eine„multi-polare Welt" entsteht und entwickelt Dynamiken, denen sich auch die chemische Industrie stellen muss. Welche Effekte werden schon heute sichtbar und was tun führende Chemieunternehmen, um dem neuen globalen Konkurrenzkampf um qualifizierte Arbeitskräfte und Ressourcen sowie einem hohen Innovationsdruck zu begegnen?

Die US-amerikanische chemische Industrie spürt bereits seit langem die Auswirkungen der Globalisierung. So hat sich die Manufaktur arbeitsintensiver Industrien schon vor Jahren immer stärker in Niedriglohngebiete verlagert. Das klassische Beispiel ist die Textilindustrie, die als eine der ersten Branchen damit begann, ihre Produktionsstätten nach Fernost zu verlagern. In Asien werden heute mehr als 50% der weltweit produzierten Chemie-Textilfasern hergestellt, die Hälfte hiervon in China. Diese Produktionsverlagerung hat deutliche Konsequenzen für die heimische Wirtschaft. In den USA ist die Zahl der Arbeitsplätze in der Textil- und Bekleidungsindustrie von über 1 Million im Jahr 1994 auf nur 463.000 im Jahr 2004 gesunken. Besonders dramatisch war der Einbruch zwischen 2000 und 2004: In diesem Zeitraum gingen die Beschäftigungszahlen um jährlich 15%, die Umsätze um jährlich knapp 9% zurück. Die Zulieferer, in diesem Fall die Hersteller von Textilchemikalien, waren in Folge gezwungen, auf die rückläufige Nachfrage in den bisherigen Kernmärkten zu reagieren. So schloss z.B. Dystar bereits 2001/2002 seine Produktionsstätten für Textilchemikalien in den USA.

Lost Manufacturing

Die Textilindustrie ist lediglich das bekannteste Beispiel für den Fortzug von Abnehmerindustrien und den damit verbundenen Nachzug der Zulieferer aus der chemischen Industrie. Tatsächlich trifft diese Entwicklung für eine Vielzahl von Branchen zu - und sie kostet die „klassischen" Märkte Milliardenumsätze und -investitionen. Das Problem: Bei einer zwar moderat aber doch wachsenden heimischen Wirtschaft steigen die US-Importe von Fertigerzeugnissen schneller als die heimische Produktion. In Folge verlieren US-Produzenten Marktanteile - und die heimische Chemieindustrie erleidet Verluste durch die sinkende Inlandsnachfrage (sog. „lost manufacturing").

Im Auftrag des American Chemistry Council schätzte Accenture jetzt das „Lost Manufacturing"-Volumen für die US-Chemiewirtschaft. Ihr entgehen demnach durch den Wegzug von Produktions- und Forschungsstätten über zehn Jahre (2005 bis 2015) Umsätze in Höhe von 188 Mrd. US-$. Außerdem entfallen Anlageninvestitionen in Höhe von 40 Mrd. US-$ sowie Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Höhe von 30 Mrd. US-$. Dem US-Fiskus entgehen dadurch Steuereinnahmen in Höhe von 43 Mrd. US-$ aus der chemischen Industrie. Über den gleichen Zeitraum werden 157.000 Arbeitsplätze in der chemischen Industrie verloren gehen.

Das übersehene Potential der US-Märkte

Die Fokussierung von Anlagen- und Entwicklungsinvestitionen auf die neuen, riesigen und wachstumsstarken Märkte führt in den „traditionellen" Industrienationen wie den USA zu einem weiteren Problem: Attraktive kleinere Segmente in der heimischen Chemieproduktion bleiben unbearbeitet und werden dem US-amerikanischen Markt schwer zu schaffen machen. Die Nachfrage nach Polymeren in den USA konzentriert sich auf Märkte für hochwertige Produkte. Das Wachstum wird hier vor allem durch die Nachfrage nach Produkten in den Bereichen Medizintechnik oder Lebensmittelverpackungen getrieben. Außerdem werden Polymerprodukte für das Baugewerbe, Lebensmittelverpackungen sowie für den Transportsektor nachgefragt. Diese Segmente weisen hier und weltweit starkes Wachstum aus. Sie böten also nicht nur interessante Chancen im Inlandsmarkt, sondern - als Sektoren, in denen die USA netto exportiert - auch wettbewerbsfähiges Ausbaupotential in der multipolaren Welt. Mangels Engagement bleibt es möglicherweise ungenutzt, Angebotsdefizite sind die Folge.

Für die wichtigsten Thermoplaste hat Accenture die Angebotsdefizite beispielhaft untersucht. Unter der Annahme, dass alle zum Zeitpunkt der Studie (Mitte 2006) für die USA geplanten Kapazitätserweiterungen durchgeführt werden, die Auslastung dem Durchschnittswert für 2003-2005 entspricht und keine weiteren Fertigungskapazitäten entstehen, ergeben die Schätzungen Folgendes: Im Jahr 2015 wird in den USA ein HDPE Defizit von etwa zwei Mio. Tonnen bestehen. Dies entspräche einem jährlichen Umsatzvolumen von 3 Mrd. US-$ und böte ausreichend Nachfrage für etwa vier HDPE Großanlagen - bei 1,2 Mrd. US-$ Investitionssumme. Bei Polypropylen werden schätzungsweise zwei Mio. Tonnen Kapazität fehlen, also etwa sieben Anlagen mit insgesamt 3,6 Mrd. US-$ jährlichem Umsatz und einem Investitionsvolumen von 1,5 Mrd. US-$. Beeindruckend auch die Daten für LLDPE: Hier werden im Jahr 2015 etwa 2,8 Mio. Tonnen fehlen. Dies entspräche etwa neun Anlagen und einem entgangenen Umsatz in Höhe von 4,5 Mrd. US-$. Entsprechend könnte man die für PVC, PET und PS fortfahren. Hier könnten, um den Bedarf der USA zu decken, 14 Anlagen errichtet und über 5 Mrd. US-$ jährlich erzielt werden.

Ob diese Produktionskapazitäten in den USA oder in anderen Teilen der Welt gebaut werden, ist allerdings nicht nur eine Frage günstigerer Energie-, Rohstoff- und Personalkosten. Es gilt auch, zwischen Umsatzwachstum und Umsatzrendite abzuwägen. Häufig investieren Unternehmen z.B. in China, um Umsatzwachstum zu erzielen. Andererseits werden ihre Umsatzrenditen geschwächt, weil sich ein größerer Anteil des Vermögens dem Wettbewerb in den dortigen Niedrigpreis- und Niedrigkostenmärkten stellen muss. Im Gegensatz dazu bieten die entwickelten Regionen wie die USA ein langsameres Umsatzwachstum, jedoch höhere Umsatzrenditen. Dies werden Unternehmen in ihre Überlegungen und Geschäftspläne einrechnen müssen.

Naher Osten - China: Die Handelsachse der Zukunft

Auch wenn sich in den USA zahlreiche Investitionsmöglichkeiten bieten: Der große Trend in der multipolaren Welt zieht die Masse des Investitionskapitals in die aufstrebenden, volumenstarken und kostengünstigen Verbrauchermärkte. Eine kürzlich durchgeführte Studie schätzt, dass der Nahe Osten bis zum Jahr 2016 der größte Exporteur von Polymeren sein wird, mit erwarteten Exporten (netto) in Höhe von 25 Mio. Tonnen. Diese Mengen werden hauptsächlich für die Bedarfsdeckung Chinas bestimmt sein, das 2016 mit Netto-Einfuhren von knapp 16 Mio. Tonnen Abnehmer für petrochemische Grundstoffe sein wird. Die Achse Naher Osten - China wird somit die zentrale Handelsachse für polymere Grundstoffe sein.

Anders stellt sich die Situation für den Handel mit in-situ Polymeren (in Fertigerzeugnissen enthaltene Polymere) dar. Hier wird der Löwenanteil aus China kommen, so die Accenture Modellrechnung. Mehr als 30 Mio. Tonnen in-situ-Polymere werden - zum großen Teil in Form von Textilien und Möbeln - in die westlichen Märkte verschifft. Die USA werden demnach im Jahr 2016 über 20 Mio. Tonnen
in-situ-Polymere importieren.

Innovationskraft und inländische Potentiale

Der Verbrauch an Chemikalien, Polymeren und in-situ-Polymeren wird bis 2016 in sämtlichen Regionen weltweit wachsen. Investitionen erfolgen dagegen hauptsächlich in risikoreicheren Märkten, während die Chancen, die der US-Markt bietet, Gefahr laufen, ungenutzt zu bleiben.

Wichtig ist bei Investitionsentscheidungen, die Struktur des heimischen Abnehmermarktes und den Produktmix in Verbindung mit dem politischen Umfeld und Faktoren wie Lohnkosten und Rohstoffbasis zu sehen. So kann es sich für Produzenten lohnen, Neuinvestitionen - je nach Produkt und Endverbrauchermarkt - selektiv in industrialisierten Regionen wie den USA vorzunehmen.

US-Unternehmen können zusätzlich über die Steigerung des Mehrwerts Wettbewerbsvorteile erzielen. Dazu ist es z.B. notwendig, mehr Produkte, Dienstleistungen oder Systeme an die bestehende Kundengruppe zu verkaufen. Durch die Stützung des heimischen Marktes entstehen somit spezielle Dienstleistungen und Produkte, die auch auf dem globalen Markt bestehen. Auch internationale Fusionen oder Partnerschaften können strategisch genutzt werden, um Wert zu schaffen. Sie helfen beispielsweise, neue Kunden-Accounts aufzubauen und über die lokale Präsenz oder ein angepasstes Produkt- und Serviceportfolio den Kundenanforderungen unterschiedlicher Märkte optimal gerecht zu werden.

Eine wichtige Strategie, den heimischen Standort zu stärken, ist der konsequente Ausbau von Forschungs- und Entwicklungskompetenz: Wer im Spiel um die Innovationsfähigkeit die Führungsrolle behalten möchte, sollte sich deutlich gegenüber aufstrebenden Forschungsnationen wie China oder Indien positionieren. Jene sind nämlich schon jetzt dabei, sich mit enormen Investitionsvolumina als Innovationstreiber zu etablieren und diese Rolle den traditionell führenden Industrieländern streitig zu machen. Eine starke Innovationskultur alleine reicht jedoch noch nicht. Nur, wenn Innovationen auch erfolgreich vermarktet werden, kann konsequent neues Geschäft angesiedelt werden und so ein Strukturwandel mit Aufbau neuer Geschäftsfelder erreicht werden.

Gelingt dies, so werden klassische Industriestaaten wie die USA weiterhin große Produktionszentren bleiben und ihre innovative und wertschöpfungsstarke Dominanz behalten. Der Ausbau von inländischen Kapazitäten gilt daher als echte Chance.