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Fit for the Future?

Pharmaindustrie zwischen politischen Unwägbarkeiten, erhöhtem Margendruck und neuen strategischen Optionen

14.12.2010 -

Nach der Reform ist vor der Reform. Seit über drei Jahrzehnten ist wohl kaum ein anderer Wirtschaftsbereich in Europa derart unsteten politischen Eingriffen ausgesetzt wie das Gesundheitssystem. Das Ziel einer nachhaltigen Kostendämpfung wird dabei bis heute verfehlt, weil das Gros der Reformmaßnahmen nicht als nachhaltige Therapie angelegt ist, sondern eher einer überstürzten Notoperation gleicht.

Das hat gravierende Folgen für die Pharmaindustrie. Planungssicherheit ist hier längst zu einem Fremdwort geworden, mit der Konsequenz, dass sich die Entscheider der Branche mehr mit den Eventualitäten des Systems beschäftigen als mit ihren Märkten und Kunden. Dabei ist eine stärkere Marktorientierung gerade jetzt unabdingbar, denn die Kostenstrukturen haben sich zuletzt deutlich verschoben und die Margen spürbar verschlechtert. Hinzu kommt: Die Kompression bei Forschung und Entwicklung hat den Trichter verengt und die Pipeline verkürzt. Darunter leidet die Innovationskraft der Unternehmen und auf lange Frist auch ihre Profitabilität. So gesehen ist die europäische Pharmaindustrie derzeit „not perfectly fit for the future!"
Die Branche sieht sich zum Umdenken gefordert. Dies zeigt eine gemeinsame Umfrage von Management Engineers und der französischen Business School Insead Fontainebleau unter rund 50 Spitzenmanagern führender europäischer Pharmaunternehmen. Es haben sich dabei folgende „fitnesssteigernde Zukunftstrends" herauskristallisiert. An deren gleichzeitige Realität im Jahre 2020 glaubt zwar längst nicht jeder der Unternehmenslenker, aber auch für sich genommen bietet jede einzelne dieser Entwicklungslinien vielfältige Chancen für eine nachhaltig marktorientierte und profitable Neuausrichtung der Pharmaindustrie.

Transparenz und Mehrwert
In der klassischen Medizin stehen künftig fast ausschließlich Wirksamkeit und Kosten im Fokus der Payer. Von daher werden Generika und Biosimilars bei den meisten Indikationen zur Standardtherapie werden. Doch gerade dieses wachsende Kostenbewusstsein eröffnet auch Chancen für neue Produkte, sofern diese einen messbaren, therapeutischen Zusatznutzen bieten. Die staatlichen und privaten Krankenversicherungen werden mehr denn je einen solchen Mehrwert honorieren, wenn dieser - vor allem im Hinblick auf Wirksamkeit und Kosteneffizienz - für sie transparent und bewertbar ist.

Mehr Geld für Prävention
Gleichwohl wird sich der Margendruck zumindest bei den traditionellen Pharmaprodukten nochmals erhöhen. Umso wichtiger ist es daher, dass neue renditestarke Geschäftssegmente am Horizont erkennbar sind - sei es der Bereich der integrierten Therapiemodelle oder auch die personalisierte Medizin. Ebenfalls hoch profitabel können auch die Angebote der Präventivmedizin sein. Von ihrem Nutzen müssen allerdings gleich zwei Zielgruppen überzeugt werden. Zum einen die Krankenversicherungen, Krankenhäuser und Ärzte, die dadurch langfristig ihre Behandlungskosten senken können und andererseits die Patienten, die dann stärker als bislang privates Geld für ihre Gesundheitsvorsorge ausgeben werden.

Der selbstbestimmte Patient
Die Pharmaindustrie steht im Hinblick auf ihre Marktkommunikation vor einer komplexen Aufgabe, weil sie künftig zwei Zielgruppen synchron zu adressieren hat. Denn sie muss weiterhin die traditionelle Partnerschaft mit Ärzten und Krankenhäusern pflegen, sich aber gleichzeitig als partnerschaftlicher Anwalt eines mündigen Patienten neu positionieren. Diese Kommunikation mit dem selbstbestimmten Endverbraucher wird anders aussehen als heute: Nicht mehr nur monologisch via Werbung, sondern dialogisch via interaktivem Marketing z.B. über Social Media. Eine solche „Demokratisierung der Kommunikation" eröffnet für die Pharmaindustrie weitaus mehr Chancen als Risiken, sofern diese von Vertrauen und Verlässlichkeit geprägt ist.

Nutzen für Kranke und Gesunde
Parallel zur „Need-to-have-Pharmazie" wird sich ein Markt für „Nice-to-have-Produkte" etablieren, die auf eine Steigerung der Lebensqualität zielen. Diese „Lifestyle-Drugs" werden profitable Geschäftsfelder eröffnen, weil in unseren Wohlstandsgesellschaften immer mehr Wohlfühlbürger leben, die auch bereit sind, für das persönliche „Well-being" privates Geld auszugeben. Für diese Produktwelt sind nicht die Kranken, sondern die Gesunden die eigentliche Zielgruppe.

Duales Gesundheitssystem
Europa steht vor einem Wechsel von einem kollektiven hin zu einem dualen Gesundheitssystem. Ein solches System mit individueller Wahlfreiheit zielt auf einen Mix aus einer Basis- und einer Zusatzversorgung mit individuellem Upgrade bis hin zu einem Privat-Premium-Segment, das Teil des Well-Care-Marktes sein wird. Und während im Segment der Basisversorgung der Preiskampf weiter zunehmen wird, eröffnet das Premium-Segment eine differenzierte Preis-Leistungs-Entwicklung im Sinne von „High-End".

Kooperation unter Gleichen gesucht
Die Auslastung der Produktionskapazitäten aller Pharmaunternehmen ist zu gering. Daher wird der künftige Konzentrationsprozess in der europäischen Pharmaindustrie nicht die Marken im Markt reduzieren, sondern die Produktportfolios und Wertschöpfungsstufen der einzelnen Marktplayer. Schlanke Sortimente führen ihrerseits zu vielfältigen Kooperationen auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette: Die einen wollen ihre bestehenden Infra- und Organisationsstrukturen besser auslasten, die anderen wollen den Aufbau eigener Kapazitäten vermeiden. Das beginnt bei Forschung und Entwicklung und endet bei Marketing und Vertrieb.

Strategische Optionen für die Zukunft
Zusammengenommen laufen diese Trends auf eine starke Zukunftsorientierung und Selbstbestimmung der Patienten hinaus, die - in einem neuen dualen Gesundheitssystem - individuelle Schwerpunkte bei Standard-, Wohlfühl- und Präventivmedizin setzen. Sie können dabei auf die hohe Transparenz, Reputation und Innovationskraft einer in sich neu strukturierten Pharmabranche bauen. Auch wenn längst nicht jeder der befragten Top-Manager für das Jahr 2020 ein solches Zukunftsbild in voller Ausprägung erwartet, so haben doch alle ein individuelles Puzzle aus Trendbausteinen im Kopf, an dem sie ihr künftiges Handeln ausrichten werden. Dabei lassen sich grundsätzlich drei Strategietypen unterscheiden.

Harvesters
Dieser Kategorie der „skeptischen Traditionalisten" lassen sich knapp die Hälfte der befragten europäischen Pharmaunternehmen zuordnen. Sie gehen davon aus, dass sich im Gefüge der Marktakteure - und hier insbesondere in der Rolle des Patienten - kaum etwas ändert. Folgerichtig werden diese Firmen ihre Kommunikation auch weiterhin auf die Healthcare-Professionals konzentrieren. Gleichwohl erwarten aber auch die Harvesters, dass sich im Zuge des medizinischen Fortschritts Investitionen in neue Geschäftsfelder lohnen. Optimismus besteht insbesondere im Hinblick auf Biopharmazeutika, während die Chancen von Lifestyle-Medikamenten und einer personalisierten Medizin zurückhaltend bewertet werden.

Consumerists
Diese „am amerikanischen Markt orientierten Pragmatiker" kommen in der Umfrage auf einen Anteil von 20%. Sie rechnen in Zukunft mit dem mündigen Patienten, der gegenüber den Ärzten und der Pharmaindustrie eine gleichermaßen kritische wie dialogbereite Position einnimmt. Dieser Patient ist für Lifestyle-Medikamente zwar ebenso aufgeschlossen wie für die präventive und personalisierte Medizin, muss aber von ihrem Nutzen noch nachhaltig überzeugt werden. Die Consumerists werden dieses potentiell veränderte Konsumentenverhalten in ihr Geschäftsmodell integrieren und mit einer zweigleisigen Marketingstrategie offensiv verfolgen. Sie kommunizieren sowohl mit den Professionals als auch mit den Patienten, um gerade dieser Zielgruppe gegenüber Vertrauen aufzubauen.

New Golden Agers
Das sind die nahezu „grenzenlos optimistischen Visionäre", zu denen ein Drittel der befragten Manager gezählt werden können. Sie gehen davon aus, dass sich alle Trends zu einem Ideal-Szenario kumulieren, sich dabei alle Technologie-Investitionen in voller Breite auszahlen und Lifestyle-Produkte auf eine steigende Nachfrage stoßen. Dabei werden die Patienten weiterhin auf den Rat der Healthcare-Professionals hören, die ihrerseits aber der Kompetenz der Pharmaindustrie voll vertrauen. Auf dieser stabilen Basis sind die Patienten auch der präventiven und personalisierten Medizin gegenüber aufgeschlossen und leisten entsprechende Eigenbeiträge. Die New Golden Agers verfolgen konsequenterweise eine Unternehmensstrategie, die einen maximalen Mix an Produkten und Vertriebskanälen gestattet. Ihr Marketing ist entsprechen multipel und komplex.
Definiert man die drei aufgezeigten Strategietypen als Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Konfiguration des Pharmamarktes im Jahr 2020 innerhalb dieses Dreiecks zu lokalisieren sein wird. Wohl nicht exakt auf einem der Eckpunkte, aber irgendwo zwischen diesen Koordinaten. Wo genau, das ist eine Frage der individuellen Disposition und Vision. Dieser strategische Blick sollte weniger auf die politischen Eventualitäten des Gesundheitssystems als vielmehr auf die konkreten Bedürfnisse der Kunden gerichtet sein. Denn die Politik wird auch künftig kurzfristige Überraschungen für die Branche bereit halten. Wer sich aber zumindest daran orientieren kann, was der Nachfrager potentiell wünscht, macht sich ein Stück mehr „fit for the Future". 

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