Märkte & Unternehmen

Willkürliche Stigmatisierung eines Stoffes

Die Diskussion um Titandioxid könnte zu einem Präzedenzfall für das europäische Chemikalienrecht werden

21.02.2018 -

Im Juni 2017 hat der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) der Europäischen Chemikalienbehörde ECHA empfohlen, das Weißpigment Titandioxid als einen Stoff „mit Verdacht auf krebserzeugende Wirkung beim Menschen“ durch Einatmen einzustufen. Die Farbenindustrie zeigte sich bestürzt über diese Empfehlung. Der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VDL) kritisiert gemeinsam mit dem Verband der chemischen Industrie (VCI) und dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) – den Einstufungsprozess für das weltweit am meisten eingesetzte Weißpigment. Martin Engelmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VDL), erläutert die Gründe und die bei einer Einstufung zu erwartenden Konsequenzen.

CHEManager: Herr Engelmann, der VDL setzt sich derzeit auf allen Ebenen in Berlin und Brüssel dafür ein, dass der Vorschlag zur Einstufung von TiO2 revidiert wird. Warum?

M. Engelmann: Der Vorschlag, das seit über 100 Jahren für die Herstellung von weißen und bunten Farben eingesetzte Pigment als „vermutlich krebserzeugend“ durch Einatmen einzustufen, zeigt exemplarisch die Schwächen der europäischen Chemikalienregulierung. Sollte der Vorschlag tatsächlich Gesetz werden, hätte dies dramatische Folgen für Wirtschaft und Verbraucher. Für viele mittelständische Hersteller von Lacken und Farben würde dies das Aus bedeuten. Titandioxid ist bei der Herstellung von weißer Wandfarbe und Buntfarbtönen unverzichtbar. Wir sind uns sicher, dass Titandioxid in Lacken, Farben und Druckfarben für den Menschen sicher ist. Gleichwertige Alternativen gibt es nicht, zumal nicht annähernd in der erforderlichen Menge.

Welche Folgen hätte eine Einstufung von Titandioxid?

M. Engelmann: Zunächst einmal müssten Farben und Lacke mit dem Hinweis „Kann vermutlich Krebs erzeugen“ und einem entsprechenden Gefahrensymbol gekennzeichnet werden, was eine erhebliche Verunsicherung von Handel und Verbrauchern zur Folge hätte. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Fall erheblicher Druck auf die Hersteller ausgeübt werden würde, die Farbrezepturen zu ändern und ohne Titandioxid zu formulieren. Dies ist, wie gesagt, in vergleichbarer Qualität nicht möglich. Etwa 570.000 Rezepturen basieren auf Titandioxid und müssten geändert werden. Dies betrifft 1,89 Mio. t Farben und Lacke im Wert von 4,8 Mrd. EUR.

Eine solche Reformulierung – in einer niedrigeren Qualität – würde insbesondere die über 200 kleinen und mittleren Hersteller von Lacken, Farben und Druckfarben in Deutschland überfordern. Ihr Überleben am Markt wäre akut gefährdet. Aber die Folgen reichen noch viel weiter: Aufgrund der automatischen Rechtsfolgen einer solchen Einstufung gäbe es erhebliche Auswirkungen in vielen anderen Bereichen, insbesondere im Abfallrecht: Bei einer Einstufung von Titandioxid müssten beispielsweise Kunststoffabfälle, Bauabfälle wie Farbreste, Tapetenreste und Kunststofffensterrahmen, aber auch hochwertige Papiere, Möbel, Keramik, Medikamente und Kosmetika als Sondermüll bzw. „gefährlicher Abfall“ eingestuft und gesondert entsorgt werden.

Wie geht es weiter?

M. Engelmann: Wir haben die Hoffnung, dass unsere Argumente bei den deutschen Behörden und Ministerien, und auch in Brüssel und den anderen EU-Mitgliedstaaten gehört werden. Dafür gibt es erste positive Zeichen. Anfang Februar haben sich die von einem Einstufungsverfahren am stärksten betroffenen deutschen Industrieverbände und Unternehmen bei einem vom BDI und VCI organisierten Treffen über die weitere Vorgehensweise abgestimmt und Positionspapiere vorgelegt. Dabei ging es auch um die Situation in der CARACAL-Gruppe, die Anfang März erneut tagen wird. In dieser Gruppe sind Experten und Repräsentanten der staatlichen Fachbehörden und Ministerien vertreten, die sich mit REACH und CLP-Verfahren beschäftigen. Zuletzt waren unter den Experten Zweifel an dem Einstufungsvorschlag aufgekommen. Einige EU-Mitgliedstaaten hatten eine Aussetzung des Verfahrens, andere sogar einen Stopp des Einstufungsprozesses gefordert.

Wir wollen nichts unversucht lassen, um diese willkürliche Stigmatisierung eines seit Jahrzehnten ohne Probleme genutzten Stoffes zu verhindern. Der Fall Titandioxid ist ein Präzedenzfall für das europäische Chemikalienrecht. Denn hier droht ein Dominoeffekt: Wenn Titandioxid eingestuft würde, könnte das Gleiche auch über 350 anderen pulverförmigen Stoffen passieren. Europa muss zeigen, dass die Regeln des Chemikalienrechts mit Sinn und Verstand angewendet werden.

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