Logistik & Supply Chain

Forschungsprojekt: Quantitatives Supply Chain Risk Management

National University of Singapore und Bayer Technology Services identifizieren und messen Risiken in der Supply Chain

10.09.2015 -

Es ist sicher kein Geheimnis, dass die Komplexität der Lieferketten in der Prozessindustrie ständig zunimmt. So werden Teile der Wertschöpfungskette, die nicht zu den eigenen Kernkompetenzen gehören oder wenig rentabel sind, häufig ausgegliedert oder in Länder mit geringerem Lohnniveau verlegt. Endkunden erwarten personalisierte Warenlieferung bei unmittelbarer oder „Just-in-Time“ Belieferung. Die entstehenden End-to-End Supply Chains sind hochgradig vernetzte Systeme, fragmentiert und betrieben von einer Vielzahl unterschiedlichster Gesellschaften in verschiedenen Regionen und politischen Systemen.

Mit steigender Komplexität dieser Netzwerke werden aber auch die Risiken, die auf diese Lieferketten wirken, immer umfangreicher. Lieferengpässe bei Rohstoffen, Streiks, Umweltkatastrophen, regulatorischen Veränderungen oder Infrastrukturproblemen sind nur einige wenige der Risiken, die es zu beachten gilt. Auch Optimierungen, die für komplexe, globale Supply Chains immer häufiger durchgeführt werden, können unerwartete Auswirkungen auf Risiken nach sich ziehen. So haben beispielsweise Initiativen zur Bestandsreduktion zwar eine positive Auswirkung auf das Umlaufkapital, erhöhen jedoch typischerweise gleichzeitig die Risikoanfälligkeit der Supply Chains. 

Es gibt zahlreiche Beispiele, die belegen, dass diese Risiken erhebliche Auswirkungen auf Firmen dieser Lieferketten haben können. Der Brand in der Mikroprozessor-Produktionsanlage von Philips in New Mexico im Jahr 2000 ist vielleicht das bekannteste. Hier wurden u.a. die Mikroprozessoren für die Handyfirmen Nokia und Ericsson hergestellt. Ericsson hat den Prognosen vertraut, dass die Produktion der Mikroprozessoren kurzfristig wieder anlaufen wird und keine weiteren Aktionen gestartet. Das Supply Chain Konzept von Nokia hingegen war wesentlich flexibler und ermöglichte eine unmittelbare Einbeziehung eines weiteren Lieferanten. Im Ergebnis verlor Ericsson 400 Mio. USD an Umsatz, während der Profit von Nokia im gleichen Jahr um 42% gesteigert werden konnte.

Fragen und Lösungsansatz

Es gibt eine Vielzahl von Fragen, die sich aus dieser Problematik für Unternehmer und Supply Chain Verantwortliche ergeben. Welchen Risiken sind meine Lieferketten ausgesetzt? Welche dieser Risiken sind besonders kritisch für meinen geschäftlichen Erfolg? Welche Lieferketten sind besonders bedroht? Kann ich die einzelnen Risiken monetär bewerten? Kann ich die Wirkung verschiedener Verbesserungsmaßnahmen messen und die Auswirkungen auf die Supply Chain berechnen?

In einem Forschungsprojekt der National University of Singapore (NUS) und Bayer Technology Services sind wir diesen Fragen nachgegangen. Ziel war es, ein auf mathematischen Modellen basiertes Vorgehen zu finden, mit dem die Auswirkung von Risiken einer Supply Chain beschrieben und mit geeigneten Indikatoren messbar gemacht werden kann. Untersucht wurden dazu typische Lieferketten, die grundlegende Produktions- und Lieferprozesse der Pflanzenschutzherstellung beinhalten (s. Grafik 1: Netzwerk): Die Lieferketten von zwei unterschiedlichen Produkten sind verknüpft durch die gemeinsame Nutzung der gleichen Produktionsressource zur Active Ingredient Produktion. 

Im Folgenden beschreiben wir überblicksartig die Ergebnisse dieser Forschungskooperation. Weitere Forschungsaktivitäten sind notwendig, um das Vorgehen zu validieren und für breite Anwendungen nutzbar zu machen.

Identifikation und Bewertung von Risiken

Basierend auf Vorarbeiten der NUS und weiteren Literaturstudien konnten 110 verschiedene Risiken mit Relevanz für Lieferketten in der Prozessindustrie identifiziert werden. Diese Risiken können in unterschiedliche Schemata (z.B. Macro-, Industrie- und Firmenebene mit entsprechenden Unterkategorien) klassifiziert und zusammengefasst werden. Für die Untersuchungen in der Forschungskooperation wurden sieben dieser Risiken als besonders relevant ausgewählt.

Es gibt eine Vielzahl etablierter Vorgehensweisen, um Risiken zu bewerten. Typischerweise werden dabei Aussagen über die Häufigkeit des Eintritts und die Schwere der Auswirkungen gemacht. FMEA (Failure Modes and Effects Analysis) ist sicherlich die am häufigsten in der Praxis eingesetzte Methode. Hier schätzen Experten für jedes Risiko Maßzahlen für die Wahrscheinlichkeit, die Schwere und die Erkennung des Eintretens ab. Diese Abschätzung ist naturgemäß grob und subjektiv. Um die Vorgehensweise zu objektivieren, wurde im Rahmen der Forschungskooperation ein verbesserter FMEA-Prozess (durch Nutzung von Fuzzy Set Theory) entwickelt. Doch auch dieser Ansatz bleibt ungenau, nur beschränkt auf den betrachteten Teil der Lieferkette und kann die Auswirkung auf die gesamte Lieferkette und die damit verbundenen monetären Risiken nicht ausreichend abbilden.

Simulation von Supply Chain Risiken

Um tatsächlich quantitative Aussagen über die monetären Auswirkungen von Risiken auf die gesamte Lieferkette abzuleiten, wurden im Forschungsprojekt Simulationsverfahren auf Basis statistischer Modelle entwickelt und an den Netzwerkbeispielen erfolgreich überprüft.

Hierzu wird zunächst das Eintreten der betrachteten Risiken durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen abgebildet. Es stehen Dutzende von statistischen Funktionen (wie etwa: Exponential-, Gauß- oder Weilbullverteilung) zur Verfügung, um die Größen der Eintrittshäufigkeit (TTF = Time to Failure) und der Wiederherstellung (TTR = Time to Recovery) der Risiken zu beschreiben. Mit historischen Daten aus den beteiligten Firmen (z. B. Ausfallstatistiken von Anlagenteilen, Lieferzuverlässigkeit der Lieferanten) oder aus öffentlichen Datenbanken (z.B. für Umweltkatastrophen oder Streiks) können diese Parameter meist gut abgebildet oder geschätzt werden.

Mithilfe von Softwarewerkzeugen zur Simulation von Produktions- und Logistiknetzwerken kann nun die Auswirkung dieser Risiken auf die gesamte Lieferkette berechnet werden. Als Ergebnis entstehen so Wahrscheinlichkeitsverteilungen für alle Zustandsgrößen innerhalb der Supply Chain. Diese Verteilungen werden schließlich mit statistischen Indikatoren wie Mittelwert, Varianz oder Schiefe ausgewertet. Auch der aus der Finanzwelt bekannte Ansatz „Value at Risk“ (VaR) ist ein solcher Indikator. VaR beschreibt den maximalen monetären Verlust unter Annahme einer Wahrscheinlichkeit (z.B. nicht mehr als 100 Mio. USD Verlust in 95% aller Fälle). Derzeit wird noch untersucht, ob und wie sich dieses Konzept auf Lieferketten der Prozessindustrie übertragen lässt.

Ein exemplarisches Ergebnis für das Netzwerk in Grafik 1 zeigt Grafik 2. In diesem Fall wurden der Mittelwert der Anzahl an verkauften Produkten und die daraus abgeleiteten mittleren Stückkosten ausgewertet. Die Grafik zeigt, dass bei dem betrachteten Fallbeispiel Streiks oder Maschinenausfälle vernachlässigbar sind im Vergleich zu Transportverzögerungen.

Risk Mitigation

Um die Risiken dieses speziellen Netzwerkes signifikant zu reduzieren, sollte man sich also Gedanken machen, z. B. über redundante Logistikdienstleister und/oder einen Aufbau von Lagermengen. Sofort eröffnen sich damit aber weitere Fragen: Welche der denkbaren Maßnahmen sind die wirkungsvollsten? Kann ich eine Kosten-Nutzen-Betrachtung erstellen, um die Wirkung der verschiedenen Maßnahmen zu belegen? Und wie müssen diese Maßnahmen im Detail ausgestaltet werden? Welche Lagerstandorte beispielsweise müssten vergrößert werden? Und um welche Mengen? Gibt es vielleicht auch Lagerstandorte, an denen ich Bestand reduzieren kann, ohne das Risiko der Lieferkette zu verschlechtern?

Auf Basis der beschriebenen quantitativen Vorgehensweise lassen sich diese Fragen an Hand von Szenariobetrachtungen beantworten. Ideale Mitigationsstrategien können so abgeleitet und monetär bewertet werden.

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