Logistik & Supply Chain

Was Blockchain in der Logistik künftig leisten kann

Michael Henke, Fraunhofer IML im Interview: “Blockchain hat großes Potential”

20.09.2018 -

Künftige Auswirkungen von Blockchains auf das Supply Chain Management werden immer noch unterschätzt. Wie bei Zukunftsthemen fast üblich, mag es daran liegen, dass es noch nicht wirklich gelungen ist, die bahnbrechenden Möglichkeiten der Blockchain-Technologie aus dem virtuellen Raum in die Realwirtschaft zu übertragen. Sonja Andres, CHEManager, befragte Michael Henke, Institutsleiter am Fraunhofer IML, zum Wesen, zum Nutzen und zur Zukunft der Blockchain für die chemische und pharmazeutische Industrie.

CHEManager: Herr Henke, um den Begriff Blockchain herrscht zurzeit ein ziemlicher Hype. Wo würden Sie die passendsten Möglichkeiten der Blockchain im Bereich Logistik sehen?

Michael Henke: Am Fraunhofer IML definieren wir Blockchain als eine gemeinsam genutzte, vertrauenswürdige, validierte Transaktionsaufzeichnung, die von jedem Netzwerkmitglied eingesehen, aber von niemandem beeinflusst werden kann - eine verschlüsselte, geschützte, manipulationssichere, dezentralisierte Datenbank und damit der perfekte Speicherort für Werte, Identitäten, Übereinkünfte, Eigentumsrechte oder auch Berechtigungsnachweise. Ist ein Wert wie z.B. ein Bitcoin einmal eingetragen, bleibt er für immer dort. Es ist also im Kern eine dezentralisierte Datenbank.

Das Supply Chain Management im Allgemeinen und die Logistik im Besonderen eignen sich deshalb besonders gut als Anwendungsfeld, weil wir es entlang einer Supply Chain mit verteilten Entitäten zu tun haben, die Daten untereinander austauschen. Ein konkretes Anwendungsfeld in der Logistik ist Supply Chain Finance, da sich beispielsweise Trade Finance Lösungen mit Hilfe einer Blockchain besser realisieren lassen. Noch werden nicht alle Potenziale der Supply Chain Finance Programme genutzt, weil wir mangels Transparenz gar nicht in der Lage sind, alle Lieferanten eines Wertschöpfungsnetzwerkes miteinander in einem Programm zu verbinden. Eine Blockchain aber erzeugt nicht nur Vertrauen, sondern schafft auch Transparenz, und mit mehr Transparenz können auch mehr Lieferanten von einem Supply Chain Finance Programm profitieren.

Mittlerweile lassen sich auch sogenannte cyberphysische Systeme, die autonom miteinander interagieren, im Asset Management auf einer Blockchain orchestrieren. Das ist dann letztendlich die Verbindung zwischen der Blockchain-Technologie und dem Internet der Dinge, wo ja irgendwann einmal alles autonom funktionieren soll, auch die Finanzflüsse. Diese autonomisierten Finanzflüsse brauchen autonome Verträge, die sogenannten Smart Contracts, die auf einer Blockchain laufen, und damit ist die Blockchain das letzte Glied zur Realisierung der Vision der Industrie 4.0 oder des Internets der Dinge.

Ist aber die Transparenz nicht auch für einige Unternehmen ein Problem?

M. Henke: Das ist schon richtig – wenn der Lieferant plötzlich genauso viel weiß wie das einkaufende Unternehmen, dann ist das keine gute Voraussetzung für Verhandlungen alter Prägung. Die Frage ist aber nicht, ob die Unternehmen es wollen, sondern ob sie es brauchen, um im Internet der Dinge an autonomen Prozessen tatsächlich teilhaben zu können, denn für das Zusammenspiel aus Material-, Informations- und Finanzfluss brauchen sie die Blockchain.

Und irgendwann werden auch die Kunden nur noch Produkte kaufen, bei denen der Erstellungsprozess vollkommen transparent ist. Der Kundenwunsch wird zum Treiber der Entwicklung werden und am Ende stellt sich dann nicht mehr die Frage, ob ein Unternehmen die Blockchain-Technologie will oder nicht.

Ist das Thema, einmal über seinen Einsatz in der Sicherung der Kryptowährungen – zum Beispiel Bitcoin – hinaus betrachtet, bereits „reif“ für andere Bereiche?

M. Henke: Ja, wenn es gelingt, dass Wirtschaft, Wissenschaft und Politik gemeinsam für konkrete Anwendungsfälle sorgen, die zeigen, was eine Blockchain kann und auch, was sie nicht kann. Derzeit lassen sich auf Basis der Blockchain-Technologie erste Anwendungsfälle aufbauen, die oft noch nicht das komplette und komplexe Blockchainpotential adressieren können. Das kann auch nicht in einem Pilotprojekt von jetzt auf gleich erzeugt werden, sondern es müssen viele kleine Projekte entlang von Wertschöpfungsprozessen miteinander verbunden werden.

Wenn das in den nächsten zwölf bis 18 Monaten nicht gelingt, dann besteht berechtigter Grund zur Sorge, dass das Thema genauso schnell wieder verschwinden wird wie viele andere gehypte Themen in der Vergangenheit auch schon. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Blockchain ein großes Potenzial hat, weil sie in die Grundsätze des Wirtschaftens und des Zusammenarbeitens zwischen Unternehmen eingreift und diese substantiell verändert.

Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Pharmalogistik? Sind diese bereits praxisreif?

M. Henke: Eine Blockchain ist ideal, um den komplexen Pharmalogistikprozess im Tracking and Tracing transparent zu machen. Angenommen, ein Container mit Medikamenten fällt während des Transports beim Zwischenstopp auf dem Weg nach Asien von der Rampe oder bleibt zu lange ungekühlt in der Sonne stehen. Den daraus resultierenden Schaden erkennt der Empfänger im Zweifel nicht erst Wochen später, sondern in Echtzeit, weil es ihm der Sensor im Container, der ins Blockchain-basierte Netzwerk eingebunden ist, im Moment der Schädigung meldet.

Der zugrunde liegende Smart Contract läuft auf einer Blockchain, die permanent alle Daten-Blöcke, die in der Lieferkette unterwegs sind, auf Übereinstimmung und Nachverfolgbarkeit überprüft. Der Container sendet so in Echtzeit die Informationen über alles, was in der Lieferkette passiert. Standen nun die Medikamente eine Stunde lang ungekühlt in der Sonne, dann weiß er auch, dass zumindest ein Teil der Fracht unbrauchbar geworden ist. Beim Zahlungsprozess wird dann der zerstörte Anteil automatisch abgezogen.

Ein anderes Problem, mit dem sich Pharmaunternehmen auseinandersetzen müssen, ist das der Rückverfolgbarkeit. Wenn Produktpiraten ihre Placebos an den Mann bringen wollen, besteht oft nicht die Möglichkeit zu identifizieren, woher deren Inhaltsstoffe kommen. Wird dagegen ein Echtheitszertifikat auf Basis einer Blockchain eingesetzt, dann kann der Hersteller genau sehen, wo die Rohstoffe herkommen, und so eventuell noch rechtzeitig Fälschungen verhindern.

Wie könnte die chemische Supply Chain davon profitieren?

M. Henke: Auch da spielt die Rückverfolgbarkeit eine große Rolle. Wenn in der chemischen Prozessindustrie bestimmte Rohstoffe miteinander vermischt werden, ist es ja wichtig zu wissen, woher die Rohstoffe kommen, und diese hundertprozentige Rückverfolgbarkeit ist durch den Einsatz einer Blockchain garantiert.

Welche tatsächlichen Vorteile hätte die Abwicklung über eine Blockchain?

M. Henke: Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es oft noch keinen direkten Vorteil einer dezentralen Blockchain-Organisation im Vergleich zu den zentral gesteuerten Systemen, die derzeit im Einsatz sind. Diese zentral gesteuerten Systeme werden aber angesichts der zunehmenden Komplexität im Internet der Dinge irgendwann – eher früher als später – nicht mehr ausreichen. Und dann ist die Blockchain als dezentrale Peer-to-Peer-Struktur, die das Verbinden und den Austausch von Daten zwischen diesen Dingen erst sicher macht und dabei gleichzeitig die Mikro-Transaktionen mit Micro-Payments versehen kann, alternativlos.

Aktuell stehen viele Unternehmen auch aus der Pharmaindustrie und der chemischen Industrie noch vor dem Henne-Ei-Problem: Sie haben solch einen Grad der Autonomisierung noch gar nicht erreicht und beschäftigen sich deshalb auch noch gar nicht mit der Frage der Blockchain-Technologie. Ohne die Blockchain gelingt aber auch die Autonomisierung nicht. Noch schlimmer wird es für den Mittelstand, der sich in Deutschland über volle Auftragsbücher freut und den Einsatz von Blockchain gegebenenfalls für überflüssig hält. Dabei tut wirklich jedes Unternehmen gut daran, sich bereits heute damit, genauso wie mit der Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge auseinanderzusetzen.

Wie muss man sich in diesem Zusammenhang eine Smart Contracting Plattform vorstellen und welche Beteiligten wären dort eingebunden?

M. Henke: Eine Smart Contracting Plattform stellt auf Basis einer Blockchain Smart Contracts zur Verfügung: In Zukunft können so alle Leistungen innerhalb eines Vertragsverhältnisses in einem autonomen Miteinander und in einer autonomen Abwicklung von Geschäftsvorfällen revisionssicher, nicht veränderbar und in Echtzeit gebucht werden.

Jeder Geschäftsvorfall und jede Transaktion wird sofort in der Blockchain festgeschrieben und direkt mit dem Materialfluss, dem Informationsfluss und dem Finanzfluss verbunden – der Smart Contract schließt den Missing Link zur Business-Logik. Die Plattform bindet dabei alle Akteure entlang der Supply Chain ein.

Ein immer wieder diskutiertes Thema beim „Bitcoin“ ist der immense Energieverbrauch zum Beispiel durch die „Beglaubigung“ der Transaktionen. Würde dies beim Einsatz von Blockchains ebenfalls zu einem kritischen Thema werden?

M. Henke: Die zunehmende Rechnerkapazität, die uns zur Verfügung steht, wird das Thema Blockchain auch in Zukunft weiter vorantreiben. Im Moment ist die Frage des Energieverbrauchs für bestimmte Unternehmen mit Sicherheit eine Herausforderung, aber mit mehr Rechnerkapazitäten wird das kein Problem mehr sein. Auch die Blockchain-Technologie entwickelt sich weiter.

Eine Möglichkeit bietet zum Beispiel IOTA, ein Anbieter einer Distributed Ledger Technologie, dessen Technologie nach eigenen Angaben weniger Energie verbrauchen soll. Es wird in Zukunft sicher auch Lösungen geben, die diese Probleme eventuell anders adressieren. Vielleicht wird auch der Begriff Blockchain irgendwann in der Versenkung verschwinden – aber das, was die Blockchain liefert, nämlich das eingebaute, verteilte Vertrauen in die Daten und ein auf dieser Basis viel vernünftigeres und gerechteres Handeln als vorher, das wird sicher bestehen bleiben.

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