Anlagenbau & Prozesstechnik

Koexistenz von Ethernet und Feldbussen in Chemieanlagen – Praxisbeispiele und Trends

Gut angebunden

25.11.2010 -

Die chemische Industrie gehört weltweit zu den Wachstumsbranchen. Innovative Leittechnik trägt dazu bei, die Effizienz und damit die Wirtschaftlichkeit der Produktionsprozesse weiter zu steigern. Die klassische Parallelverdrahtung mit Einzeladern wird seit Anfang der 1980er Jahre durch Feldbustechnik ergänzt bzw. abgelöst. Diese Entwicklung resultiert hauptsächlich aus der zunehmenden Komplexität der Anlagen, die mit Bussystemen kostengünstiger vernetzt und gewartet werden können. Heute erleben wir, wie Ethernet von der Management- über die Leit- bis in die Sensorebene vordringt und so eine durchgängige Datenübertragung - man spricht hier auch von vertikaler Integration - mit zusätzlicher Anbindung an das Internet ermöglicht.

Ob die Prozessdaten mit einem der etablierten Feldbusse oder mit Industrial Ethernet übertragen werden, hängt von verschiedenen Gesichtspunkten ab. Die überwiegende Mehrzahl der Chemieunternehmen setzt mehr als nur ein Übertragungsprotokoll ein. Dies hängt damit zusammen, dass an die Leistungsfähigkeit der Datenverbindungen unterschiedliche Anforderungen gestellt werden: Für die prozessnahen Komponenten stehen die Zuverlässigkeit und Echtzeitfähigkeit der Datenübertragung unter rauen Betriebsbedingungen im Vordergrund. In der Leitwarte geht es hingegen um große Datenmengen und anlagenübergreifende Kommunikation unter büroähnlichen Umgebungsbedingungen.

Heterogene Netzwerke

Trotz der vielfältigen Anforderungen und der rasanten Entwicklung der technischen Möglichkeiten gilt aber nach wie vor, dass der alleinige Maßstab für jede technische Lösung der dauerhafte Nutzen für den Betreiber ist. Aus diesem Grund finden wir heute in chemischen Anlagen Datennetzwerke, die jeweils auf ihre Kommunikationsaufgaben technisch und wirtschaftlich optimiert sind. Stellt man das Netzwerk als Pyramide dar, so wird deutlich, wie von der breiten Basis mit vielen Ein- und Ausgabepunkten im Prozess die Informationen immer mehr verarbeitet und verdichtet werden (s. Abb. 1). Dies bedeutet zugleich, dass die Anforderungen an die Geräte jeder Ebene anders sind. Außerdem nimmt üblicherweise die Zahl der Kommunikationsgeräte zur Spitze der Pyramide hin ab.

Diese hierarchische Struktur hat vielfältige technische und wirtschaftliche Gründe. Die Daten der Sensorebene sind kurz - etwa bei einem Näherungsschalter nur ein Bit -, sie kommen von räumlich verteilten Stellen und sie müssen an der Steuerung sehr schnell zur Verfügung stehen. Wirtschaftlich spielt hier der Preis pro Ein/Ausgabe-Punkt aufgrund der großen Menge an Datenpunkten eine entscheidende Rolle.

In dieser Ebene bestehen zudem die höchsten Umgebungsanforderungen. Beispielsweise sind Devicenet- und Profibus PA-Geräte robust und wassergeschützt in Schutzart IP 65 oder IP 67 ausgeführt. Auch für Industrial Ethernet steht inzwischen mit M12- sowie gekapselten RJ45-Steckverbindern eine entsprechend genormte Anschlusstechnik zur Verfügung. Zudem wird an optischen und gemischt optisch-elektrischen Steckverbindern in Schutzart IP67 gearbeitet. Denn bei Ethernet sind Datenraten von 100Mbit/s Stand der Technik, und die Tendenz geht in Richtung GBit/s, wofür Lichtwellenleiter aufgrund ihrer großen Bandbreite erste Wahl sind.

Die Leitebene ist die Domäne der speicherprogrammierbaren Steuerungen. Diese kommunizieren untereinander und mit der unterlagerten Sensorebene über schnelle, echtzeitfähige Feldbusse wie Profibus DP, Geniusbus oder Controlnet. Zur Pyramidenspitze hin, wo die Übermittlungszeit der Daten für den Prozess unkritischer wird, sind die Steuerungen über Ethernet an PC-gestützte Leitwarten angebunden. Und oberhalb der Leitebene sind wegen der großen Datenmengen heute Gigabit-Backbones installiert.

Zugriff via Internet

Welche Chancen bietet das in der Managementebene dominante Ethernet für die Kommunikation in den unterlagerten Schichten? In den meisten Anlagen ist heute schon eine Ethernetinstallation vorhanden, nur ist diese gewöhnlich von den Prozessdaten getrennt. Dies schützt den Prozess zwar gegen unerwünschte Zugriffe, verhindert aber andererseits eine kostengünstige Fernwartung über das Internet. Viele speicherprogrammierbare Steuerungen verfügen bereits über einen Anschluss zur Anbindung an das Intranet des Betreibers. Über diese Schnittstelle ist in der Regel aber nur ein Beobachten und Bedienen des Prozesses möglich, die Prozessdaten selbst werden über die Feldbusanschlüsse der Steuerungen geführt.

Erst die vertikale Integration macht auch diese Daten mittels Web-Technologien für das Internet zugänglich. Fernwartung ohne den Umweg über langsame Modems wird so wesentlich effizienter und komfortabler. Kostenvorteile entstehen zudem aus der Durchgängigkeit der Daten. Die Kopplung zu überlagerten Manufacturing Execution-Systemen (MES) und Enterprise Resource Planning-Systemen (ERP) ermöglicht etwa dem Einkauf, aus aktuellen Füllstands- und Verbrauchsinformationen von Tanks die optimalen Bestelldaten von Rohstoffen zu ermitteln. Zudem ermöglicht Ethernet auch den Einsatz standardisierter Wireless-Technologien, über die Produktionsanlagen flexibel und kostengünstig an das Datennetz angebunden werden können (s. Abb. 2).

Die Vorteile, die eine vertikale Integration mit Industrial Ethernet bietet, erkauft sich der Anlagenbetreiber allerdings mit der Notwendigkeit, seinen Produktionsbereich nach außen abzuschotten. Gerade hier bestehen bei manchen Anlagenverantwortlichen Bedenken, denn Internet wird mit Viren und anderen Risiken in Verbindung gebracht. Diesen Gefahren kann man jedoch mit Firewalls und speziell für den Einsatz im industriellen Umfeld ausgelegten Security-Systemen erfolgreich begegnen (s. Abb. 3).

Prüfstein Echtzeit

Klassische Feldbusse benötigen grundsätzlich keine Firewalls oder ähnliche Sicherheitsvorkehrungen. Ebenso wenig erfordern sie spezielle Maßnahmen für die Echtzeitfähigkeit. An den bei Ethernet hierfür notwendigen standardisierten Protokollen wird zurzeit von verschiedenen Organisationen gearbeitet. Hierzu zählen beispielsweise die Profibus Nutzer Organisation (PNO), die Open DeviceNet Vendor Association (ODVA), die Ethernet Powerlink Specification Group (EPSG), die Ethercat Technology Group (ETG) und die Interest Group Sercos Interface (IGS).

Mit der Echtzeitthematik ist auch die Ausfallsicherheit des Datennetzes verknüpft. Feldbusse sind für kritische Prozesse redundant ausgelegt, und die Busteilnehmer schalten im Fehlerfall sehr schnell, d.h. für die Applikation unbemerkt auf eine Ersatzverbindung um (s. Abb. 4). Bei Ethernet erreichen selbst Rapid Spanning Tree oder schnelle Ringstrukturen solche Rekonfigurationszeiten noch nicht. Für einen unterbrechungsfreien Betrieb der Anlage streben die Hersteller von Ethernet-Switchen Zeiten von unter 10 ms an. Welche Standards sich im Industriebereich letztlich durchsetzen, wird vermutlich nicht durch technische Eigenschaften, sondern vielmehr durch das Marketing der großen Automatisierungshersteller entschieden. Gute Chancen haben das von Siemens und der PNO unterstützte Profinet sowie das von der ODVA forcierte Ethernet/IP in Verbindung mit dem Common Industrial Protocoll (CIP) von Rockwell Automation.

Netzkomponenten für die Ex-Zone

Zu den Betriebsbedingungen der Chemieindustrie gehört oftmals auch der Explosionsschutz. Netzwerkkomponenten müssen deshalb über Zulassungen für die entsprechenden Explosionsschutzzonen nach ATEX RL 96/9 EU (Atmosphère Explosible / ATEX), UL 1604 (Underwriters Laboratories), FM (Factory Mutual) oder NEPSI (National Supervision and Inspection Center for Explosion Protection and Safety of Instrumentation) verfügen. Zur Datenanbindung der Switche oder Feldbus-Repeater eignen sich am besten Lichtwellenleiter, da diese keine Funken erzeugen können. Ethernet-Switche und Feldbus-Repeater mit Zulassungen bis Zone 1 für Gasatmosphären und Zone 21 für explosive Stäube werden heute bereits von verschiedenen Herstellern angeboten (s. Abb. 5).

Hirschmann Automation and Control hat bereits mehrere große Chemieanlagen mit heterogenen Datennetzwerken ausgestattet: In einer der weltweit modernsten Kokereien wird prozessnah Profibus mit Lichtwellenleiterkabeln eingesetzt. Der Übergang auf 100Mbit/s Ethernet erfolgt in der Leitebene, während im Backbone GBit/s Ethernet-Ringe liegen. Eine vergleichbare Netzwerkstruktur weist eine große Low Density Poly-Ethylene-Anlage in Südfrankreich auf. Dort kommunizieren Remote I/Os via Profibus und Lichtwellenleitern mit den Leitstationen, die wiederum in das Ethernet-Netzwerk eingebunden sind. Und auf hochseetauglichen Ölbohrinseln besteht das Steuerungsnetz aus hierarchisch strukturierten redundanten Feldbussystemen mit Lichtwellenleiterringen und Ethernet-Anbindung zur Managementebene.

Fazit

Ethernet dringt rasant in die Leittechnik von Anlagen der Chemieindustrie vor. Die wesentliche Triebkraft ist die Durchgängigkeit der Datenkommunikation und damit die Transparenz der Prozesse bis hin zum Internet. Dies bewirkt zugleich einen Schub für die Automatisierungstechnik insgesamt. Ethernet wächst zwar doppelt so schnell wie die klassischen Bussysteme, dennoch haben Profibus und DeviceNet die bei weitem größte installierte Basis und ihre Verbreitung wird weiter zunehmen. Eine Marktsättigung ist nach Einschätzung von Experten in den nächsten Jahren nicht zu erwarten.

Bei dieser Meldung handelt es sich um eine Archiv-Meldung, bei der die Abbildungen entfernt wurden.

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