Anlagenbau & Prozesstechnik

Paradigmenwechsel

Können Mikroreaktionstechnik und Flow-Chemistry den Batchprozess ersetzen?

16.03.2017 -

Ein Paradigmenwechsel in der prozesstechnischen Produktion vom Batch-Prinzip zum kontinuierlichen Flow-Prozess auf Basis von Mikro- und Millireaktoren ist nicht so leicht in den Köpfen der Produktionsverantwortlichen zu erreichen – auch wenn er in vielen Fällen große Vorteile bieten würde. CHEManager hatte zum Roundtable zur Technologieplattform Mikro- und Millireaktoren eingeladen – und viele Experten kamen.

Man kann es Flow-Chemistry oder Mikroreaktionstechnik (MRT) nennen – diese Begriffe stehen für eine Technologieplattform, die in vielen prozesstechnischen Applikationen enorme Vorteile bietet. MRT ersetzt den diskontinuierlichen Batch-Prozess durch ein kontinuierliches Verfahren, bei dem die Reaktionen in Strukturen mit extrem verkleinerter Bauweise stattfinden. Die Hauptkomponenten sind Mischer mit extrem guter Mischwirkung und Wärmeübertrager mit sehr hohem Wärmeübergang. Hinzu kommt die Infrastruktur wie z.B. Filter, Sensoren, Ventile, Pumpen, Analytik etc.

Die Übertragung vom Labor in die Produktion, also vom Mikrometer in den Millimeter-maßstab, kann in der MRT einfacher stattfinden als mit etablierten Technologien. Dabei müssen die charakteristischen Leistungsmerkmale der Laborapparate im Mikrometermaßstab mit denen der Produktion im Millimetermaßstab übereinstimmen.

Zu den Vorteilen der kontinuierlichen Betriebsweise in Mikro- und Millireaktoren gehören

  • ultraschnelles Vermischen
  • hocheffiziente Wärmeübertragung
  • kurze definierte Verweilzeiten
  • einfache Prozesssteuerung durch geringe Systemträgheit
  • hohe Betriebssicherheit durch minimalen Hold-up
  • kurze Entwicklungszeiten

Besonders bei schnellen, explosiven, giftigen oder hochexothermen Reaktionen machen sich diese Eigenschaften der kontinuierlichen Flow-Reaktoren vorteilhaft bemerkbar; wegen des hohen Sicherheitsrisikos können diese Prozesse in Batchreaktoren nicht oder oft nur schwer gehandhabt werden. Trotzdem fristet die MRT noch ein Schattendasein. Im Roundtable des CHEManager sollten die Gründe und Hintergründe dafür geklärt werden.

In der Praxis angekommen

Dass Mikro- und Millireaktoren Potenzial bieten, wenn sie in ein geeignetes Produktionskonzept und die richtige langfristige Produktionsstrategie eingebettet werden, betonte dann auch Dr. Andreas Brodhagen; Senior Manager Process Development bei der BASF in Ludwigshafen. Gute Erfahrungen stehen aber Akzeptanzprobleme und manchmal auch fehlendes Wissen um die Vorteile der Technologie in den einzelnen Betrieben gegenüber: „Wir haben keine Technikprobleme, wir beherrschen die MRT Technik, aber wir haben Akzeptanzprobleme. Wir haben zwei Pilotanlagen gebaut und haben Erfahrung vom Labor- bis in den Produktionsmaßstab.“

Ähnlich äußert sich Dr. Stefan Brand, Head of Process Innovation bei Clariant in Frankfurt, der die konkreten Verbesserungen der MRT in den vergangenen 15 Jahren lobt. In der Spezialchemie ist der Übergang von Batch zu Konti ein Thema, z.B. auch da, wo neue Produktionsprozesse erschlossen werden können, die mit normalen Batchverfahren nicht möglich sind. „Wir arbeiten in der Entwicklung von MRT Prozessen mit externen Partnern zusammen, um schneller zu sein; wir haben aber auch ein eigenes Produkt, das auf MRT basiert. Flow-Chemistry, Batch-to-Conti und MRT – wobei das „M“ ja für Mikro und für Milli stehen kann - sind wichtige Themen im Bereich der Spezialchemie“ führt Brand aus und betont die Notwendigkeit, die Alleinstellungsmerkmale von MRT in den Bereichen Forschung und Produktion flächendeckend darzustellen.

Noch optimistischer äußert sich Dr. Bernhard Hettich, Geschäftsführer und COO bei CHT in Tübingen, einer weltweit operierenden Unternehmensgruppe für Spezialitätenchemie. Hettich bezeichnet sich selber als Fan und Förderer der MRT, die bei CHT sowohl im Labor als auch in der Fertigung eingesetzt wird. Seine Erfahrungen sind überwiegend positiv, insbesondere auch was die Kostensituation angeht: „Durchsatz, Qualität, weniger Abfall, höhere Ausbeute, kürzere Reaktionszeiten – am Ende sind das alles Fertigungskosten, die durch MRT positiv beeinflusst werden können. Heute wissen wir: Die Kosten sind niedriger – vor allem, wenn man einen Kostenvergleich anstellt auf der Basis einer Planung auf der grünen Wiese. Dann gehört auch dazu, dass man die Anlage in ein Gebäude stellen muss – und da hat von den Dimensionen her die MRT auch wieder Vorteile.“ Aber auch Hettich räumt ein: „Batch und Konti sind gleichwertige Verfahren mit klaren Vor- und Nachteilen. Die Entscheidung für das Eine oder Andere erfolgt jedoch noch häufig nach traditionellen Denkmustern.“

Unterschiedliche Dynamik in China und in Europa

Auch wenn die im Roundtable des CHEManager vertretenen Hersteller von Flow-Reaktoren respektive MRT auf etliche Erfolge und Einsatzfälle der Konti-Technologieplattform aufsetzen können, beklagen sie doch fast unisono die derzeit festzustellenden regionalen Unterschiede in der Dynamik der Umsetzung. „Die Technologieplattform nimmt in China spürbar Fahrt auf. Wird es der europäischen chemischen und pharmazeutischen Industrie gelingen, auf diesen Zug noch aufzuspringen oder wird die technologische Führerschaft nach China gehen?“ fragt Dr. Joachim Heck, Geschäftsführer von Ehrfeld Mikrotechnik BTS in Wendelsheim. Das Unternehmen hat im letzten Jahr einen Miprowa Produktionsreaktor für den chinesischen Wirkstoffhersteller Shaoxing Eastlake Biochemical für eine Produktionskapazität von bis zu 10.000 t/a geliefert, der im September 2016 erfolgreich in Betrieb genommen wurde. Der kontinuierlich betriebene Millireaktor wird für eine stark exotherme Reaktion vom Typ Alkoxylierung genutzt und ersetzt mehr als 20 Batchreaktoren. Bei der Entscheidung für MRT spielten erzielbare Produktqualitäten, signifikant verbesserte Ausbeuten, Sicherheitsaspekte und kurze Kapitalrückflusszeiten eine wichtige Rolle.

Auch Roland Guidat, Chief Reactor Engineer bei Corning Advanced-Flow Reactors in Avon, nicht weit von Paris, bringt es auf den Nenner: „Europa überlegt, China schafft die neue Industrie.“ Trotzdem kann er auf Installationen insbesondere auch in der europäischen Pharmaproduktion hinweisen, bei der mit MRT gegenüber herkömmlichen Batch-Verfahren enorme Vorteile generiert wurden: Bei der Produktion eines Arzneistoffes (API, Active Pharmaceutical Ingredient) konnte die Ausbeute verdoppelt werden, die Reinheit stieg von 95% auf 99%, die Betriebstemperatur konnte statt -700C auf -350C erhöht werden. Produziert wurden 10.000 kg API in sieben Wochen in einer cGMP Installation, die von der FDA auditiert wurde. Damit belegt Guidat die generellen Vorteile der MRT: Schnelles gutes Mischen führt zu weniger Nebenprodukten, höherer Selektivität und damit gesteigerter Ausbeute und hoher Produktgüte und der exzellente Wärmeaustausch macht die Reaktionen kontrollierbarer.

Mit der unterschiedlichen Umsetzungsdynamik in China und Europa setzt sich auch Dr. Roland Richter, Leiter Marketing und Vertrieb bei 3M Technical Ceramics in Kempten auseinander: „Die Technologie ist da – Asien hebt ab – Europa wartet ab.“ 3M setzt in der MRT auf Siliziumcarbid als Werkstoff. Siliziumcarbid wird schon seit langer Zeit in der Pumpenindustrie in Lagern und Dichtungen verwendet und hat sich dort bewährt - auch FDA approved. „Da sehe ich von der Risikoseite keinerlei Probleme – das Material wird in Pumpen in der Pharma- und Lebensmittelindustrie breit eingesetzt“ gibt sich Richter überzeugt.

Batch to Conti – Disruptive Lösungen

Die Veränderung der Produktportfolios weg von Massenprodukten hin zu kundenorientierten Spezialitäten stellt eine Herausforderung für die Spezialitätenchemie und die pharmazeutische Industrie dar. Auf die besonderen Anforderungen insbesondere der Pharmaindustrie ging Dr. Stéphane Varray, Associate Director Pharma & Biotech bei Lonza in Visp in der Schweiz ein mit einem provozierenden Statement: „Die Pharmaproduktion braucht disruptive Lösungen für die Herstellung von neuen API.“ Die etablierte Fertigung von API steht unter erheblichem Druck durch Regulierung, Kosten, Qualität, Sicherheit und Time to Market. Auf dem Weg zu einer neuen Generation der chemischen Produktion ist für Lonza die Prozessintensivierung von großer Bedeutung. Hier bietet MRT neue Möglichkeiten, die intensiver genutzt werden müssen.

Das bestätigt Christoph Höver, Geschäftsführer der BAM Apparatebau in Kürten: „In MRT steckt viel Potenzial – nur ohne Mut zu einer Entscheidung für den Kontiprozess kann man das Potenzial nicht heben.“ Höver konzipiert, dass MRT ein Nischen- und Spezialitätenprodukt ist, das aber mit großen Vorteilen aufwartet, zu denen besonders auch der geringe Energieverbrauch und die hohe Implementierungsgeschwindigkeit vom Labormaßstab bis in den Betrieb zählen. Da für MRT bei den potenziellen Anwendern oft Erfahrungswerte, wie aus den klassischen Betrieben üblich, fehlen, werden Risiken oft überbewertet. Eine Möglichkeit, Bedenken zu überwinden sieht Höver durch ein Konsortium, das ein Demo-Projekt durchzieht und öffentlich dokumentiert.

Um den Paradigmenwechsel von Batch zu Konti in den dafür sinnvollen Prozessen schneller zu vollziehen, fordert Brand von den Lieferanten von Flow Technologie, sowohl die technischen Vorteile wie z.B. Ausbeute oder Reinheit der Produkte stärker als bisher deutlich zu machen, als auch Hilfestellung für die Bewertung von CAPEX und OPEX zu geben. Dass dies kein einfaches Unterfangen ist, wissen beide Seiten: „Argumentationshilfe bei finanziellen Aspekten bedeutet, dass man die Karten auf den Tisch legen muss, was durch Geheimhaltungsverpflichtungen oft nicht möglich ist“, stellt Richter fest. Brand bestätigt, dass dies besonders bei Spezialprozessen eine Herausforderung bleibt und schlägt vor, sich zunächst auf veröffentlichte Herstellkosten von Standardprozessen zu fokussieren. Außerdem könnten neue und innovative Produkte interessant sein, wobei hier allerdings dem Thema Geheimhaltungsvereinbarung eine noch größere Bedeutung zukommt.

Erfolgsfaktor Grundlagenwissen

Das fehlende Wissen um MRT und Flow Chemistry bei vielen Chemikern und Verfahrenstechnikern beklagt Marc Winter, Senior Application Engineer bei Corning Advanced-Flow Reactors in Avon. Eine grundlegende Ursache dafür wird bereits in der Ausbildung gesehen, ist doch das typische Produktionswerkzeug eines Chemikers in der Ausbildung ein Batchreaktor in Form eines Rundkolbens. Generell sehen die Diskussionsteilnehmer die Notwendigkeit, den Bereich „Produktionstechnik“ in der Ingenieurausbildung zu stärken sowie MRT und Flow Chemistry in den Studiengängen zu behandeln. Auch in der betrieblichen Weiterbildung sollten alternative Denkweisen stärker gefördert werden.

Mit Akzeptanz in die Zukunft

Die MRT ermöglicht die schnelle Entwicklung ausgewählter chemischer Prozesse– darin sind sich die Teilnehmer einig: „Wir haben keine Technikprobleme, wir beherrschen die MRT Technik, aber wir haben Akzeptanzprobleme“ sagt Brodhagen. Die Technologieplattform bietet Potenzial in viele Richtungen:

  • sie dient als Labortool sowohl für die effiziente Entwicklung neuer Moleküle als auch der zugehörigen Synthesewege
  • sie bietet der Produktion neue Optimierungswege, die letztlich alle signifikant kostensenkend wirksam werden – begonnen von der Energieeinsparung über höhere Ausbeute bis hin zu attraktiverer Produktqualität
  • sie ist eine ausgezeichnete Basis für Modularisierung und hat Enabling-Charakter für Industrie 4.0.

Insbesondere die Pharmaindustrie hat in den letzten Jahren die Technologieplattform Mikro- und Millireaktoren im Forschungsbereich intensiv aufgegriffen – vielleicht der Beginn einer großen Zukunft für MRT und Flow Chemistry auch in Europa.

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