Anlagenbau & Prozesstechnik

So gelingt der digitale Wandel in der Chemiebranche

Strategische Erfolgskriterien für den technologischen Umbruch in der Produktion

04.11.2019 -

Angesichts stagnierender Gewinn- und Wachstumsperspektiven setzen sich immer mehr Unternehmen aus der Chemiebranche mit Digitalisierungsmaßnahmen auseinander und erwarten sich etwa in der Produktion große Effizienzsteigerungen. Um die Potenziale digitaler Technologien jedoch voll auszuschöpfen, müssen sich die Unternehmen von ihrer oftmals noch siloartigen Digitalisierungsstrategie verabschieden und den Faktor Mensch berücksichtigen.

Immer schnelllebigere Produktzyk­len bei gleichbleibend hohen Forschungs- und Entwicklungskosten, steigende regulatorische Anforderungen und Verschiebungen in den globalen Wertschöpfungsketten sind nur einige der zentralen Einflussfaktoren, die den Wachstums- und Margendruck auf die Chemiebranche in den vergangenen Jahren erhöhten. In diesem Strukturwandel ist die Digitalisierung zugleich Treiber der Umbrüche und eine Antwort auf die neuen Herausforderungen. Immer mehr Chemieunternehmen haben verstanden, dass die Integration neuer Technologien im Bereich Operations nicht nur eine Spielwiese für Experimente, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist. Potentiale warten an vielen Stellen: eine höhere Effizienz in der Produktion, mehr Transparenz in den Lieferketten oder eine aktiv verbesserte Interaktion mit den Kunden.

Effizienzsteigerungen durch Digital Operations
Schon heute haben in Europa, im Nahen Osten und in Afrika (EMEA) je 66 % der Chemieunternehmen digitale Technologien in der Produktion oder in der Produktentwicklung implementiert oder pilotiert, wie eine aktuelle Strategy&-Umfrage zeigt. Insbesondere für den Bereich Digital Operations hat die Branche hohe Erwartungen: Experten gehen über die nächsten fünf Jahre hinweg von Effizienzsteigerungen bzw. Kostenreduktionen zwischen 11 und 16% aus.
Insbesondere digitale Applikationen werden in den kommenden Jahren immer stärker in den Produktionsalltag integriert werden. Der Adaptionsgrad hängt dabei von drei wesentlichen Faktoren ab. Zum einen beeinflusst die Reife der eingesetzten Technologien deren Zuverlässigkeit sowie die Investitions- und Betriebskosten. Ein Beispiel für einen bereits fortgeschrittenen Reifegrad ist die Entwicklung der Sensortechnik in den letzten Jahren, die sich mittlerweile bereits günstig im Massenmarkt einsetzen lässt.

 „In der Chemieindustrie entsteht ein Flickenteppich aus digitalen Applikationen und Lösungen mit unterschiedlichem Umsetzungs- sowie Reifegrad."

Ein zweiter Aspekt ist der erwartete Einfluss der neuen Technologien auf Kosten, Sicherheit oder auch Zuverlässigkeit im Betrieb bzw. in der Lieferkette. Zuletzt sind auch die Skalierbarkeit und einfache Implementierung der Lösungen in den laufenden Betrieb zu berücksichtigen, ebenso wie der Roll-Out in verschiedensten Anlagen mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Während daher bspw. Produktionsleitsysteme oder Track-and-Trace-Technologien schon bei vielen Chemieunternehmen im Einsatz sind, stehen komplexere Anwendungen wie virtuelle Anlagenlayouts und Digitale Zwillinge in der Branche noch am Anfang.
Gleichzeitig lässt sich aber be­obachten, dass Chemieunternehmen digitale Technologien oft nur in isolierten Bereichen und unzureichend über Organisationsgrenzen hinweg koordiniert einsetzen. In der Folge entsteht ein Flickenteppich aus Applikationen und Lösungen mit unterschiedlichem Umsetzungs- sowie Reifegrad. Chemieunternehmen scheitern deshalb oftmals daran, die Potenziale der Digitalisierung für sich umfassend auszuschöpfen. Auf dem Weg zur volldigitalen chemischen Produktion müssen Unternehmen stets die Gesamtheit der digitalen Applikationen betrachten, gerade auch im Zusammenspiel zwischen verschiedenen Einheiten, z. B. betriebsübergreifend an einem Standort, um Synergieeffekte zu heben oder auch Inkompatibilitäten rechtzeitig aufzudecken.

Differenzierende digitale Kompetenzen erwerben
Für diese Transformation sollten Chemieunternehmen zunächst die digitalen Applikationen, Technologien und Fähigkeiten identifizieren, die bestehende Kompetenzen stärken, ausbauen oder entsprechend neue Fähigkeiten schaffen. Ziel muss es immer sein, einen agileren, kundenorientierteren Produktionsablauf zu ermöglichen oder bestehende Abläufe signifikant effizienter gestalten zu können. Abhängig davon, inwiefern die benötigten Kompetenzen bereits (in Ansätzen) intern vorhanden sind, müssen Unternehmen abwägen, ob es günstiger ist, die Fähigkeiten selbst aufzubauen, sie in Form von strategischen Partnerschaften gemeinsam zu entwickeln oder zuzukaufen. In der Diskussion steht die reine Technologiekompetenz natürlicherweise oft im Mittelpunkt, doch auch Fähigkeiten zur Integration von Prozessen, zum interdisziplinären Arbeiten oder auch im Bereich Datensicherheit sollten nicht vergessen werden.

Einzelmaßnahmen in Produktionsstrategie integrieren
Essenziell für die Transformation ist, dass Chemieunternehmen alle nützlichen digitalen Technologien, Applikationen und Initiativen sinnvoll in ihre übergeordnete Produktionsstrategie einbinden. Eine übergreifende Koordination ist sinnvoll, um Investitionen zielgerecht zu steuern und Dopplungen zu vermeiden, Erfolgsmodelle sowie nicht erfolgsversprechende Themen klar zu identifizieren und für deren weitere Anwendung im Unternehmen zu bewerten.
Bei bereits implementierten Technologien ist zu prüfen, ob diese den erhofften relevanten Mehrwert generieren und bereit für einen Roll-Out im größeren Stil sein könnten. Wenn die Voraussetzungen zutreffen, müssen diese Anwendungen aus ihren Silos geholt und über alle Produktionsstandorte des Unternehmens hinweg genutzt werden. In der Planung neuer Digitalinitiativen ist Wildwuchs zu vermeiden: Während einzelne Piloten durchaus isoliert in bestimmten Geschäftsbereichen oder Betrieben entwickelt werden können, sollten sie aber immer im Kontext der Gesamtinitiative koordiniert und bewertet werden.

 „Auf dem Weg zur volldigitalen chemischen Produktion müssen Unternehmen stets die Gesamtheit der digitalen Applikationen betrachten."

Unternehmenskultur berücksichtigen
Besonders im Produktionsumfeld von Chemieunternehmen trifft man häufig auf eine starke naturwissenschaftliche und ingenieurtechnische Prägung. Daher stehen Technologie und die technische Integration oft im Mittelpunkt von Digitalisierungsbemühungen im Bereich Operations. Dies ist sicherlich notwendig, jedoch für deren Erfolg bei weitem nicht ausreichend. Vor allem eine innovationsfördernde Unternehmenskultur, die auch Ideen von außen begrüßt und aufnehmen kann, ist unerlässlich, um den digitalen Wandel erfolgreich zu meistern.
Unternehmen sollten sicherstellen, dass Fortschritt und Neuerungen an allen Stellen und von verschiedensten Impulsgebern willkommen geheißen und offen diskutiert werden. Was selbstverständlich klingt, ist in den gewachsenen Strukturen mit starr geregelten Innovationsprozessen vieler Organisationen eine echte Herausforderung. Allein die Bedenken der Branche rund um geistiges Eigentum oder Datensicherheit ersticken neue Ansätze oft schon im Keim.
Zu dieser Kultur zählt auch die Fähigkeit, unfruchtbare Ideen schnell zu verwerfen und Scheitern als Möglichkeit auf dem Weg zu Produktinnovationen zu akzeptieren – und dies in signifikant höherer Frequenz und Geschwindigkeit als in den klassischen Innovationsprozessen. Ein interdisziplinärer Austausch, agile Arbeitsmethoden, strukturiertes Wissensmanagement (und Teilen von Wissen) sowie eine offene Fehlerkultur sind nur einige zentrale Elemente in diesem Handlungsfeld. Hierdurch steigen auch die Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung des bestehenden Personals, und das Anforderungsprofil an neues Personal im Recruiting wandelt sich deutlich.

Mitarbeiter einbinden
Um die eigenen Mitarbeiter auf die Umbrüche vorzubereiten, sollten Chemieunternehmen Änderungen anhand ihres konkreten Einflusses auf das persönliche Arbeitsumfeld transparent erklären sowie individuelle Fortbildungen oder Trainings anbieten. Bei der Rekrutierung passender Kandidaten für neue Jobprofile können spezielle digitalorientierte Programme oder auch Partnerschaften mit Universitäten und Start-ups helfen, um dem drohenden Fachkräftemangel vorzubeugen. Um nicht abgehängt zu werden, müssen sich alle Mitarbeiter mit dem digitalen Wandel auseinandersetzen – dies schließt das Management explizit genauso ein wie den Schichtmitarbeiter. Speziell ausgebildete Change Management Coaches sowie idealerweise Multi­plikatoren aus dem eigenen Kollegenkreis können die Mitarbeiter während der digitalen Transformation unterstützen.

Auf dem Weg zum digitalen Champion
Nur mit konkreten und konsequenten Maßnahmen für digitale Applikationen, stringenter Steuerung des Digitalisierungsprogrammes und der gleichzeitigen aktiven Einbindung des eigenen Personals werden es Chemieunternehmen schaffen, auf dem Weg zu digitaler Stärke im Produktionsumfeld nicht auf der Strecke zu bleiben. Heute gelten 16 % der Chemieunternehmen in der EMEA-Region als digitale Champions – wenn die Branche sich gegenüber neuen Tech-Playern behaupten möchte, muss dieser Anteil bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre deutlich steigen.

Zur Person

Iris Herrmann ist Partnerin bei Strategy& Deutschland, der Strategieberatung von PWC, und leitet die Beratungspraxis für die Chemieindustrie in der DACH-Region. Sie berät weltweit Klienten in den Bereichen Spezialchemie, Life Science und Prozessindustrie. Ihr Fokus liegt auf der Strategieentwicklung und -umsetzung sowie auf großen Transformationsprogrammen. Sie besitzt mehr als 15 Jahre kombinierte Erfahrung in der Industrie und in der Strategieberatung.

Zur Person

Marc Münch ist Manager bei Strategy& Deutschland, der Strategieberatung von PWC, und berät weltweit Klienten in der gesamten Prozess- und Chemieindustrie. Im Bereich Digital Operations unterstützt er Unternehmen bei ihrer digitalen Transformation mit dem Fokus auf innovative digitale End-to-End-Lieferketten sowie Fertigungslösungen.

 

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PwC Strategy& (Germany) GmbH

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