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100 % Digital in der Prozessindustrie

Tutzing-Symposion Teil 7: Bildung 4.0 – Die Bedeutung der Digitalisierung für Bildung und Lehre

02.08.2019 -

Digitalisierung und Industrie 4.0 verändern komplette Geschäftsmodelle, heben neue Effizienzpotenziale und stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Auf dem 57. Tutzing-Symposion vom 15.–18.04.2018 wurde mit Vorträgen und Kreativworkshops erkundet, welche speziellen Anforderungen die Prozessindustrie hat, welche digitalen Innovationen bereits umgesetzt wurden und wo noch Handlungsbedarf besteht. Ein Workshop befasste sich mit der Bedeutung der Digitalisierung für Bildung und Lehre.

Insgesamt wurden im Rahmen des Tutzing-­Symposions, das von der ProcessNet-Fachgemeinschaft Prozess-, Apparate- und Anlagentechnik (PAAT) organisiert wurde, 36 Thesen in sechs Workshops erarbeitet, die in der CITplus ab Juni 2018 vorgestellt wurden.

Herausforderung Bildung im Zeitalter der Digitalisierung
Das Thema Bildung klang in einigen Impulsvorträgen in ganz unterschiedlichen Facetten an. So betonte Annette Kluge, Lehrstuhlinhaberin für Wirtschaftspsychologie, Ruhr-Universität Bochum: „Wir haben eine große Verantwortung. Wir sind die Gestalter der Arbeit und Ausbildung in der digitalen Welt. Und wir gestalten auch das zugehörige Umfeld – JETZT! Mensch und Wohlbefinden müssen dabei im Fokus bleiben!“  
Wilhelm Otten, Head of Process Technology and Engineering, Evonik Industries, und Vorsitzender der NAMUR, erklärte: „Lehre ist nichts grundsätzlich Neues, Grundkenntnisse werden weiterhin benötigt. Studierende müssen im Zeitalter der Digitalisierung das Verständnis für den gesamten Wertschöpfungsprozess erlernen. Zukünftig gibt es einen großen Bedarf der Vernetzung von Prozesstechnik und Automatisierung und IT. Die Lehr- und Lernformen werden sich verändern, auch hier werden agile Methoden Einzug halten.“

Iris Wolf, Abteilungsleiterin Industriegruppen & Branchen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, verdeutlichte, wie sich Berufsbilder verändern können und fragte: „Können die Beschäftigten ihre Qualifikation schnell genug und deutlich verbessern? Können wir „Mittelqualifizierte“ nachqualifizieren? Welche Anforderungen müssen Wartungstechniker erfüllen, damit sie zukünftig Predictive Maintenance durchführen, Chemie-Laboranten im smarten Labor arbeiten und Chemikanten die Modularisierung umsetzen können?“

Wie groß die Herausforderung einer zeitgemäßen Bildung in Zeiten der Digitalisierung ist, zeigt auch die aktuelle VDI-Studie „Ingenieur­ausbildung für die Digitale Transformation – Zukunft durch Veränderung“ von April 2019 [http://www.vdi.de/studie-ingenieurausbildung]: Studierende und Berufseinsteiger fühlen sich nicht ausreichend durch digitale Fachinhalte auf die Arbeitswelt vorbereitet. Zum Thema Informatik (z. B. IT-Landschaften, Informations- und Datenbank-Management) fühlen sich nur 11 % der Studierenden der befragten technischen Studiengänge gut vorbereitet. 56 % sagen das Gegenteil. Bei den Berufseinsteigern fühlen sich sogar nur 9 % gut vorbereitet und 61 % eher nicht bis gar nicht. Dieser Trend zeichnete sich bereits 2016 ab. Damals beurteilten über 85 % der Befragten die Ausbildung in der Verfahrenstechnik mit gut bis sehr gut, im Hinblick auf die Digitalisierung lag der Anteil aber nur knapp über 30 %. Ein heikles Ergebnis angesichts des Fachkräftemangels und der zunehmenden Bedeutung von Schnittstellenkompetenzen im Bereich IT, Kommunikation und Technik auf dem Arbeitsmarkt. Unbefriedigend und bedenklich ist außerdem die konstatierte mangelnde Bereitschaft (oder Kompetenz) der Professoren, sich an die Anforderungen der Digitalen Transformation anzupassen. 56 % der Studierenden geben an, dass ihre Professoren das Hemmnis an den Hochschulen sind. Dies kann man als Generationenkonflikt abtun, aber auch die Einschätzung der Hochschulprofessoren untereinander ist nicht schmeichelhaft: Der Aussage „Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen unterstützen die digitale Transformation in unserem Studiengang“ stimmt keiner der befragten Professoren „vollkommen zu“. 41 % der Professoren schätzen ihre Kollegen als „wenig unterstützend“ ein und nur ca. 10 % der Befragten stimmen voll zu, dass ihre Kollegen bereit seien, ihre Lehrveranstaltungen anzupassen. Im zunehmenden Wettbewerb der Hochschulen untereinander, aber auch der unterschiedlichen Bildungsformen wird die Entwicklung einer „agilen Hochschule“ zunehmend wichtiger. In der VDI-Studie 2019 wurde der Stellenwert der Digitalen Transformation, die Einbindung der digitalen Fachinhalte und die Bereitschaft, die Lehre im Zuge der Digitalen Transformation anzupassen, bei den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften signifikant besser bewertet als bei den Universitäten.

Umfragen und Statistiken lassen sich damit überwiegend so interpretieren, dass jede Universität und Hochschule, alle Professoren und Studierende aufgefordert sind, die Gestaltung der Digitalen Transformation aktiv voranzutreiben. Beispielhaft seien hier die Studiengänge des Bio- und Chemieingenieurwesens an der TU Dortmund genannt, die aktuell umgestaltet werden. Elemente mit projektbasiertem Lernen werden verstärkt und Programmierfähigkeiten in verschiedenen Veranstaltungen mit unterschiedlichen Anwendungen trainiert. Die Kompetenz, kreativ neu, aber auch kritisch zu denken und Lösungen und Antworten zu finden, die über das hinausgehen, was üblich, rollen- oder regelbasiert ist, soll dadurch weiterentwickelt werden. Zudem muss die Bereitschaft gefördert werden, die neuen Lösungen auch umzusetzen. Dafür bedarf es einer ­„Design-Mentalität“, um die gewünschten Ergebnisse zu entwickeln und darzustellen. Sensoren, Kommunikationswerkzeuge und höhere Rechenleistung der Computerwelt bieten neue Möglichkeiten, einen gestalterischen Ansatz für die Ingenieursarbeit zu finden. Wir werden in die Lage versetzt, unsere Umgebungen so zu planen, dass sie für das Erreichen von Ergebnissen, an denen wir am meisten interessiert sind, förderlich sind. Die virtuelle Zusammenarbeit wird zunehmen, daher müssen wir lernen, als Mitglied eines virtuellen Teams produktiv und engagiert zu arbeiten und präsent zu sein.
Neben der starken Betonung der Fähigkeiten wie kritisches Denken, tiefergehende Einsicht oder Analysefähigkeiten wird das erfahrungsbasierte Lernen, das Soft Skills in den Vordergrund stellt – wie z. B. die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zur Arbeit in Gruppen, zum Erkennen gesellschaftlicher Signale und zur adaptiven Reaktion – immer wichtiger.

Chancen und Herausforderungen für Studierende
Die interdisziplinäre Ausbildung nimmt an Bedeutung zu. Ingenieure arbeiten nicht nur mit Ingenieuren, Chemikern oder anderen Wissenschaftlern zusammen, sondern auch mit Sozial-, Wirtschafts-, Arbeits- oder Kommunikationswissenschaftlern. Zu den gemischten Teams können auch „Spieler“ gehören, die bspw. wertvolle Beiträge für Trainingssimulationen oder adaptives Lernen liefern können. Das ist eine spannende und innovative Entwicklung, die insbesondere in konservativen Branchen auch Toleranz und Verständnis erfordert.

Natürlich bleiben die technischen Grundlagen nach wie vor das elementar wichtige Fundament der Hochschulausbildung. Die Studierenden müssen wissen, wie man eine Massen- oder Energiebilanz erstellt; sie müssen wissen, wie man einen Reaktor für den sicheren Betrieb auslegt oder wie man den chemischen Umsatz oder die Trennleistung bestimmt. Dennoch müssen sich die Studierenden darüber im Klaren sein, dass es mehr als einen Rührkessel mit chemischen Reaktionen und einer Destillationskolonne gibt. Beispielsweise sollten die Studierenden kleine intelligente Systeme mit integrierter Regelung in Laborkursen programmieren, unterstützt durch Open-Source-Software oder Online-Hilfen von spezialisierten Communities.
Als „Digital Natives“ haben Studierende oft eine hohe Affinität für digitale Anwendungen und sind aktive Treiber, um neue Konzepte in bestehenden Unterrichtsformaten umzusetzen. Die jungen kreativen Verfahrensingenieure des VDI, die kjVIs, haben z. B. 2018 den chemPLANT-Wettbewerb [www.vdi.de/chemplant] gestartet. Studierendenteams müssen in kurzer Zeit Konzepte für eine moderne Anlage für unterschiedlichste Anforderungen erstellen. 2018 bestand die Aufgabe darin, Methanol als (bio-)chemisches Speichermedium für überschüssige elektrische Energie aus einem Windpark herzustellen. Im Wettbewerb 2019, der ganz im Zeichen des VDI-Fokusthemas „Circular Economy“ steht, soll ein Smartphone recycelt werden, das fiktiv aus den wichtigen drei Stoffgruppen Metalle, Polymere und Anorganika zusammengesetzt ist. Es besteht u. a. aus 0,037 g Gold, 39 g Polycarbonat und 23 g Glas. Im Vordergrund der Konzept- und Verfahrensentwicklung stehen Innovation und Nachhaltigkeit sowie Wirtschaftlichkeit, der Massenanteil verwerteter Komponenten bezogen auf ein Smartphone und die CO2-Bilanz. Der bundesweite Wettbewerb hat im zweiten Jahr einen unverändert hohen Zuspruch. Die Studierenden sind begeistert von der offenen Aufgabenstellung, dem kreativen Spielraum bei Prozessplanung und Konzeption neuer Anlagen und werden ermutigt, über den Tellerrand hinauszuschauen.

Hochschule 4.0: Wie schaffen wir die agile Hochschule?
Es gibt zahlreiche Hinweise, dass an den Hochschulen und Universitäten viel in Bewegung geraten ist. Der Wandel wird auch durch neue Möglichkeiten getrieben: Sensoren und Open-Source-Mikrocontroller sind nicht mehr teuer. Viele Sensoren kommen aus dem Automobilbereich und können auch für chemische Anwendungen eingesetzt werden. So können bspw. Miniaturkameras eingesetzt werden, um zu erfassen, wo sich eine Phasengrenze bewegt. In ihren Laborkursen sowie während ihrer Projekt- oder Abschlussarbeit können die Studierenden mit den neuen Möglichkeiten lernen, moderne kreative Ansätze für prozesstechnische Fragestellungen zu finden.

Der Umgang mit einer Vielzahl an Daten, die auch mit Unsicherheiten behaftet sein können, benötigt die Fähigkeit, Informationen und Wissen aus diesen Daten zu gewinnen, zu selektieren und somit diese nach Wichtigkeit zu unterscheiden, zu filtern und zu verstehen, wie die eigenen Erkenntnisse mit einer Vielzahl von Werkzeugen und Techniken maximiert werden können. Ebenso muss computergestütztes, datenbasiertes Denken im Studium gefördert und im beruflichen Umfeld verstärkt werden, um aus großen Datenmengen Informationen zu gewinnen und das neugewonnene Wissen in verständliche Konzepte zu übersetzen. Junge Menschen bringen zwar eine hohe Kompetenz im Umgang mit neuen Medien mit, jedoch muss die Fähigkeit weiterentwickelt werden, Inhalte aus dem Medien-Überangebot zu hinterfragen und kritisch zu bewerten, um diese Medien für eine überzeugende Kommunikation und abgesicherte Informationsgewinnung zu nutzen. Die Gefahr von „Fake News“ ist auch im wissenschaftlichen Bereich nicht zu unterschätzen, wodurch eine Plausibilitätsprüfung immer angebracht ist. Die dazu notwendige Beurteilungskompetenz wird ganz wesentlich durch das Erlernen der ingenieurtechnischen Grundlagen gebildet, was ein Grund mehr ist, diesen „Engineering-Core“ auch in digitalen Zeiten keinesfalls zu vernachlässigen.

Der Fortschritt in der Digitalisierung erfordert eine häufigere Überprüfung und angemessene Überarbeitung der Lehrpläne. Das Tutzing-Symposion sah darüber hinaus auch die Gesellschaft als Ganzes in der Pflicht, Mitarbeiter – nicht nur Akademiker – aus- und weiterzubilden und eine zukunftsfähige Bildungsinfrastruktur zu schaffen. Generell nimmt die Bedeutung des lebenslangen Lernens aufgrund der Digitalisierung zu, weil Veränderungsprozesse schneller werden und sich der Wissenszuwachs weiter beschleunigt.

Berufliche Fortbildung 4.0 – Lebenslanges Lernen
Die Arbeitswelt der Zukunft wird sich deutlich verändern, was sich auch in erheblich veränderten Anforderungen für das lebenslange Lernen niederschlägt. Sechs Treiber des Wandels sind laut dem Institut für die Zukunft [www.iftf.org] wichtig für die digitale Arbeitswelt: intelligente Maschinen, rechnergestützte Welt, neue Medienökologie, superstrukturierte Organisationen, global vernetzte Welt und Lebenszeitverlängerung. Dazu kommt die bereits erwähnte Beschleunigung des Wissenszuwachses, was u. a. bedeutet, dass Arbeitgeber und Mitarbeiter erheblich mehr in den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit investieren müssen. Neben der Förderung wichtiger Schlüsselkompetenzen im überfachlichen Bereich ist auch die fachliche Weiterbildung während der Berufsphase deutlich zu stärken. Dazu wird es nötig sein, den Hochschulen und Universitäten entsprechende Freiräume und Geschäftsmodelle zu ermöglichen, damit sie als kompetente Bildungsanbieter in diesem Bereich tätig werden können. Mitarbeiter in der Berufsphase müssen in die Lage versetzt werden, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, die tiefere Bedeutung von Ereignissen und Tatsachen einzuschätzen und das Handeln danach auszurichten. Die Arbeit in zunehmend globalen, virtuellen Teams benötigt Interdisziplinarität, um Konzepte über mehrere Disziplinen hinweg zu verstehen. Eine hohe interkulturelle Kompetenz ist notwendig, um in verschiedenen Umgebungen angemessen zu agieren. Zudem hilft eine gute Portion sozialer Intelligenz, um sich tief und direkt mit anderen zu verbinden und gewünschte Interaktionen zu spüren, aufzugreifen oder selbst zu initiieren. Der Grundstein für diese Persönlichkeitsbildung sowie für ausgeprägte Selbstmanagement-­Fähigkeiten wird im anspruchsvollen Studium gelegt, muss aber in der Berufsphase weiter ausgebaut werden. Selbstorganisiertes Lernen in Gruppen, in nicht-technischen Fächern oder in projektbasierten Veranstaltungen trainiert diese Fähigkeiten. Dazu müssen Freiräume in den aktuellen Curricula und in der Berufspraxis genutzt oder gezielt neu vorgesehen werden.