Anlagenbau & Prozesstechnik

Reinigen und Desinfizieren – ein Verfahren in einem oder zwei Schritten oder wissenschaftlich begründet?

29.05.2019 -

Der Entwurf für den EU-GMP-Leitfaden zur Guten Herstellungspraxis, Anhang 1, wird aktuell breit diskutiert. In vielerlei Hinsicht ist dies begrüßenswert, da so Interesse, Engagement und Einbindung entstehen. Nachteilig ist allerdings die Tatsache, dass so auch unrichtige Informationen verbreitet werden könnten. Daher sollten Arzneimittelhersteller gebührende Sorgfalt walten lassen, bevor sie Verfahren ändern.

Regulatorische Leitlinien haben das Ziel, Normen für grundlegende Anforderungen zu setzen, und nicht, Verfahren zu definieren. Daher können Hersteller Verfahren entwickeln und implementieren, die ganz auf ihre jeweiligen Anlagen und Prozesse zugeschnitten sind. Die Entwicklung dieser Verfahren muss auf den individuellen Prozessen der einzelnen Hersteller beruhen; es geht also nicht darum, sich einfach an den behördlichen Mindeststandard zu halten, der in manchen Fällen angemessen sein mag, in anderen jedoch ungeeignete Verfahren zur Folge haben kann. Effektive Verfahren können nur mithilfe eines wissenschaftlichen Ansatzes entwickelt werden, der an den regulatorischen Anforderungen ausgerichtet ist.
Dieser Artikel möchte herausarbeiten, in welchen Fällen ein Reinigungs- und Desinfektionsverfahren in einem bzw. in zwei Schritten (für Reinräume und Oberflächen ohne Produktkontakt) implementiert werden sollte. Er befasst sich mit der Frage, ob vor der Desinfektion stets ein separater, eigenständiger Reinigungsschritt erforderlich ist.

Ein- oder zweistufiges Reinigungs- und Desinfektionsverfahren
„Vor der Desinfektion reinigen“ ist die allseits bekannte goldene Regel. Sie wurde aus dem Gesundheitswesen und der Lebensmittelindustrie übernommen (1,2), wo häufig Bleichmittel zum Einsatz kommen; diese sind für hohe Verunreinigungsgrade ungeeignet und nur begrenzt stabil. Außerdem können in der Lebensmittelindustrie große Mengen an organischen und anorganischen Rückständen (1) entstehen, welche Produkte rasch verbrauchen, die nicht für die Bewältigung derartiger Verunreinigungen ausgelegt sind. In derartigen Fällen zielt der Reinigungsschritt darauf ab, vor der Desinfek­tion sichtbare Verschmutzungen von den Oberflächen zu entfernen, um die Wirksamkeit des Desinfektionsmittels sicherzustellen (1). Aus diesem Grund ist eine Reinigung vor der Desinfektion bei Fertigungsprozessen nötig, die große Mengen sichtbarer Rückstände erzeugen.
Große Rückstandsmengen können bei der Produktion von pharmazeutischen Wirkstoffen (active pharmaceutical ingredients, API) und Tabletten sowie in Reinräumen zur Herstellung von Liquidaprodukten mit unzureichenden Containmentsystemen entstehen. In diesen Fällen ist es nicht möglich, die Ansammlung von Rückständen auf Oberflächen zu vermeiden.
Ordnungsgemäße Containmentsysteme von Reinräumen, etwa geschlossene Fertigungssysteme oder Systeme mit Abzugshauben, können jedoch dazu beitragen, die Bildung sichtbarer Rückstände zu verhindern oder zu verringern. Zudem gibt es zahlreiche Fertigungsprozesse, bei denen kaum Rückstände entstehen. Hier stellt sich die Frage, ob ein einstufiges Reinigungs- und Desinfektionsverfahren ausreichend wäre.
Die erzeugte Rückstandsmenge sollte jedoch nicht als einziger Parameter über das Reinigungs- und Desinfektionsprotokoll entscheiden. Auch der Ursprung und die Art der Rückstände müssen berücksichtigt werden. So ist besonders organisches Material, etwa verschüttetes Medium, für ein formuliertes Desinfektionsmittel schwieriger zu bewältigen als leichte Verschmutzungen durch Personalbewegungen, z. B. durch Gehen in Bereichen mit stark eingeschränktem Zutritt. Ganz offensichtlich müssen vor der Implementierung eines Reinigungs- und Desinfektionsverfahrens mehrere Faktoren in Betracht gezogen werden:

1. Interaktion von Rückständen
Falls von bestimmten Rückständen bekannt ist, dass sie die Wirksamkeit des Desinfektionsmittels nicht beeinträchtigen, ist ein Reinigungsschritt nicht erforderlich. Wenn jedoch erfahrungsgemäß eine Interaktion stattfindet, muss vor der Desinfektion ein separater Reinigungsschritt durchgeführt werden.

2. Rückstandsmenge
Wie bereits erwähnt, ist ein Reinigungsschritt vor der Desinfektion unbedingt nötig, wenn große Mengen sichtbaren Materials entfernt werden müssen. In manchen Fällen und in Abhängigkeit von der Zusammensetzung des Desinfektionsmittels kann jedoch auf einen separaten Reinigungsschritt vor der Desinfektion verzichtet werden (siehe nachfolgend Punkt 3). Beachten Sie, dass es keine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition von geringer („sauberer“ Reinraum) oder großer („schmutziger“ Reinraum) Rückstandsmenge gibt. Diese Kategorisierung sollte anhand von Beobachtungen im Feld vorgenommen werden.

3. Zusammensetzung des Desinfektionsmittels
Die Zusammensetzung des Desinfektionsmittels spielt bei der Definition eines Reinigungs- und Desinfektionsverfahrens eine zentrale Rolle. Manche tensidhaltigen Desinfektionsmittel sind erfahrungsgemäß in der Lage, in nur einem Schritt zu reinigen und zu desinfizieren. Außerdem trägt die mechanische Aufbringung derartiger Desinfektionsmittel (z.B. Abwischen, Wischen) dazu bei, Oberflächen sauber zu halten. Gleichzeitig wird der Desinfektionsprozess unter Beachtung der in In-vitro-Tests ermittelten feuchten Einwirkzeit durchgeführt.
Beachten Sie, dass bei einem In-vitro-Test von Oberfläche/Coupon die Desinfektion getrennt von der Reinigung betrachtet wird, wobei die chemische Abtötungskraft (Desinfektion) des Produkts im Mittelpunkt steht. Laut der US-Umweltschutzbehörde EPA „muss ein antimikrobielles Mittel, das als kombiniertes Reinigungs- und Desinfektionsmittel, als Reinigungsmittel/Aseptikum oder als wirksames Mittel bei organischen Verunreinigungen vorgesehen ist, mit den geeigneten Methoden auf seine Wirksamkeit getestet werden. Diese Methoden wurden um eine repräsentative organische Verunreinigung wie etwa 5%iges Blutserum ergänzt“ (3). Die EPA regt jedoch ebenfalls an, die Reinigungswirkung des Desinfektionsmittels unter den echten Bedingungen, in denen es zum Einsatz kommen wird, zu simulieren und zu bestätigen. (3)

4. Methode zur Aufbringung des Desinfektionsmittels
Stark verunreinigte oder „schmutzige“ Oberflächen von Reinräumen sollten gereinigt werden, wenn das Desinfektionsmittel ohne mechanische Einwirkung aufgebracht wird, etwa durch Sprühen oder Vaporisieren. Dies gilt auch, wenn das Desinfektionsmittel Tenside enthält.
Wie bereits erwähnt, unterstützt das mechanische Einwirken bei der Anwendung eines formulierten Desinfektionsmittels die Reinigung. Ein nicht tensidhaltiges Desinfektionsmittel, das etwa 5 % Bleichmittel und 3 % H2O2 enthält, würde jedoch in einen Graubereich fallen und eventuell auch mit mechanischem Einwirken nicht gleich effektiv reinigen. Auch weitere Faktoren sollten analysiert werden; so kann etwa das Material von Mopp oder Wischtüchern Einfluss darauf haben, ob Rückstände in annehmbarem Umfang entfernt werden.
Die zum Wischen oder Abwischen verwendete Menge Desinfektionsmittel kann sich auf die Bildung von Desinfektionsmittelrückständen auswirken. Daher hängt die Ablagerung von Rückständen auch davon ab, ob die Oberflächen mit Mopps oder Wischtüchern gereinigt und desinfiziert werden, die vollgesaugt und richtig nass sind, um den Bereich gründlich zu befeuchten.

5. Anwendungsumgebung
Wirksamkeitsstudien für Desinfektionsmittel werden meist bei Raumtemperatur durchgeführt. Bei Prozessen in Kühlräumen kann die erforderliche feuchte Einwirkzeit jedoch je nach Temperatur und Zielmikroorganismus bis zu 3 Mal länger dauern. In derartigen Fällen kann eine Reinigung vor der Desinfektion dazu beitragen, die Keimbelastung zu reduzieren, und eine kürzere Einwirkzeit des Desinfektionsmittels rechtfertigen. Kühlraumbereiche sind im Allgemeinen wenig frequentiert; daher kann die Reinigung und Desinfektion mit geringer Häufigkeit durchgeführt werden, falls dies wissenschaftlich zulässig ist.
Schlussendlich müssen auch andere Faktoren wie der Zustand des betreffenden Bereichs bewertet werden. Wenn bspw. der Boden beschädigt ist und es Stellen gibt, an denen verschüttete Produkte oder Desinfektionsmittel Pfützen bilden können, sind größere Rückstandsmengen zu erwarten.
Der Hersteller sollte die genannten Parameter analysieren und dann auf Grundlage dieser Bewertung eine wissenschaftliche Begründung für die Entscheidung erarbeiten, ob das Reinigungs- und Desinfektionsverfahren in einem oder in zwei Schritten durchgeführt werden muss.
Im Folgenden sind zwei Entscheidungsregeln abgebildet, mit deren Hilfe ein Hersteller ermitteln kann, ob ein ein- oder zweistufiges Reinigungs- und Desinfektionsverfahren erforderlich ist:
In manchen Fällen, etwa wenn es sich um neue Anlagen handelt oder nicht ausreichend historische Daten oder Beobachtungen vorliegen, kann ein einfacher Entscheidungsbaum helfen, die Entscheidung für ein Reinigungs- und Desinfektionsverfahren in einem oder in zwei Schritten zu treffen:
Aus Gründen der Vereinfachung wird die Risikoklassifizierung 1 (geringes Risiko), 2 (mittleres Risiko) und 3 (hohes Risiko) ­verwendet.
In diesem Fall ist die Risikoprioritätszahl (RPZ) gleich der Summe der Werte der einzelnen Parameter. Eine niedrige RPZ beträgt daher 5, eine mittlere RPZ liegt bei 8 und eine höhere RPZ entspricht 15. Beachten Sie, dass der Hersteller auf Grundlage von historischen Daten und Beobachtungen in der Lage sein sollte, den RPZ-Grenzwert selbst festzulegen. In diesem Beispiel liegt der Grenzwert bei 7:
RPZ-Wert höher als 7: Vor der Desinfektion kann ein separater Reinigungsschritt erforderlich sein.  Auch wenn die Formulierung des Desinfektionsmittels Tenside enthält, ist ein zweistufiges Reinigungs- und Desinfektionsverfahren wünschenswert.
RPZ-Wert zwischen 5 und 8 oder gleich 8: Ein separater Reinigungsschritt vor der Desinfektion ist nicht erforderlich. Falls jedoch die Zielumgebung beschädigte Bereiche aufweist, in denen sich verschüttete Produkte, Reinigungs- oder Desinfektionsmittel ansammeln können, oder wenn die Zielumgebung einen Kühlraum umfasst, kann in Abhängigkeit vom Mikroorganismus ein Reinigungsschritt vorteilhaft sein.
RPZ-Wert kleiner oder gleich 5: Ein separater Reinigungsschritt vor der Desinfektion ist nicht erforderlich. Daher ist ein einstufiges Reinigungs- und Desinfektionsverfahren akzeptabel.

Schlussbemerkung
Es sollten alle Faktoren ermittelt und berücksichtigt werden, die Einfluss auf die Wirksamkeit von Reinigung und Desinfektion haben. Eine Analyse dieser Faktoren in Kombination mit praktischer Beobachtung „im Feld“ ist erforderlich, um die verschiedenen Faktoren zu verstehen, die die Wirksamkeit des Reinigungs- und Desinfektionsprotokolls beeinträchtigen könnten. Außerdem müssen die „Sauberkeit“ der Oberflächen im Reinraum des Herstellers, die Aufbringungsmethode des Desinfektionsmittels, die Zusammensetzung des Desinfektionsmittels und die Umgebung, in der das Desinfektionsmittel zum Einsatz kommt, unbedingt sorgfältig beurteilt werden.

Literatur
William A. Rutala, David J. Weber and the Healthcare Infection Control Practices Advisory Committee, Guideline for Disinfection and Sterilization in Healthcare Facilities, 2008
HTA, Food Standards Agency, E. coli guidance update, access on September 24, 2018
Environmental Protection Agency, Pesticides: science and policy: efficacy data requirements supplemental recommendations, access on October 18,2018: https://archive.epa.gov/pesticides/oppad001/web/html/dis-02.html

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