Chemie & Life Sciences

Wertedenken für die Chemie

Die Verantwortung der Chemie als Teil der Gesellschaft

13.03.2017 -

Als Präsidentin der GDCh in den Jahren 2016 und 2017 darf ich mich über unerwartet viele Jubiläen freuen, darunter das 25-jährige Bestehen des CHEManager - herzlichen Glückwunsch, bitte weitermachen! Ganz besonders wichtig für die GDCh ist das 150-jährige Jubiläum der Gründung der ältesten ihrer Vorläuferorganisationen, der Deutschen Chemischen Gesellschaft.

Die Deutsche Chemische Gesellschaft wurde 1867 von August Wilhelm von Hofmann in Berlin ins Leben gerufen. Dieses Jubiläum feiert die GDCh mit zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen, darunter das große „ChemieFest“ vom 10. bis 15. September in Berlin. Ich selber, übrigens erst die zweite Frau im Präsidentenamt einer deutschen chemischen Gesellschaft, bin jünger als die GDCh, aber älter als der CHEManager und alt genug um das „Wertedenken für die Chemie“ als Motto meiner Präsidentinnenschaft zu wählen. Viele haben schon gefragt, was unter diesem Motto zu verstehen sei, und damit ist der eine Teil des „Wertedenkens“ schon richtig berührt: das Nachdenken.

Chemie muss dem Leben dienen!

Denken hilft wenn man zum Guten kommen will. Damit will ich die Bedeutung der Gefühle nicht in Abrede stellen. Aber wenn sich das Leben für die nächste Generation gut anfühlen soll, müssen wir heute entsprechend handeln. Uns Chemikerinnen und Chemikern kommt dabei eine besondere Verantwortung zu, weil unser Tun und Lassen die Erde in ihrer Substanz maßgeblich verändern kann.

Mit der umfänglichen Produktpalette, die chemische Forschung und chemische Industrie erzeugt, gehen oft genug unvorhergesehene Nebenwirkungen einher, wie die erheblichen Probleme, die wir mit Plastik und Mikroplastik in den Weltmeeren haben. Als Hermann Staudinger 1920 das Konzept der Polymerisation publizierte, ahnte er nicht, wie ambivalent das Thema „Plastik“ eines Tages den ganzen Globus betreffen würde. Allerdings kommen wir als Experimentatoren nicht ohne „Risiko und Nebenwirkungen“ aus, und es gibt keinen Arzt oder Apotheker, der uns die Fragestellung abnehmen könnte. Wir sind es selbst, die über die Marschrichtung entscheiden müssen. Denn Stillstand ist natürlich keine Option, wenn das Leben weiter gehen soll.

„Wertedenken in der Chemie“ ist in einer komplizierten Situation eine gute Anleitung für das nächste Experiment. Und es führt zu einem klaren Schluss: Chemie muss dem Leben dienen! Diese Chemie nenne ich die „lebendige Chemie“.

Die Würde des Menschseins

Eine beständig wachsende Weltbevölkerung, die gefährdete Balance des Klimas und der Natur, der wachsende Energiebedarf und die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung aller Menschen geben uns in der Chemie heute Aufgaben auf, die wir mit dem besten Spezialwissen alleine nicht bewältigen können. Nicht nur Interdisziplinarität ist jetzt gefragt, sondern auch eine ganz elementare Bewusstseinsschulung über die Würde des Menschseins: das ist der andere Teil des Wertedenkens.

Der Würde des Menschen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ durch die UN ein Versprechen gegeben, das zukünftig auf der ganzen Welt handlungsleitend sein sollte. Allerdings wurde schon bald deutlich, dass die gedankenlose Ausbeutung materieller Ressourcen unseres Planeten die formulierten Ideale in Gefahr bringen kann. Dies fordert bis zum heutigen Tage besonders uns in der Chemie zum Nachdenken darüber auf, welche Entwicklungen von nachhaltigem Wert für die Gesellschaft sind und welche nicht.

Die Chemie hat auf diesem Weg enorme Fortschritte gemacht und, z.B. in der Gesundheitsversorgung, große Erfolge zu verzeichnen. Aber weitere Probleme sind noch zu bewältigen. Aktuell steht die Agenda 2030 auf der Tagesordnung, deren Kernstück die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung darstellen. Bis 2030 soll entlang dieser Ziele die Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene erreicht sein. Ohne das Wissen und den Einsatz der Chemie - ich schreibe dies ganz ohne Arroganz - wird dies nicht zu erreichen sein.

Widerstand gegen moralischen Niedergang

Aber auch die Chemie wird die Lösung der großen globalen Probleme nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Zu viele Parameter beeinflussen das komplizierte System. Oft ist das, was dem einen recht erscheint, dem anderen nur billig. Ein paar Gedanken: Werden wir an den Forschungsinstituten mit immer mehr Publikationen zum Fortschritt beitragen, mit immer mehr „Impact“, oder mit besserer Vermarktung unserer Ergebnisse? Wird die deutsche Wirtschaft mit „Industrie 4.0“ auf Dauer die Konkurrenz überflügeln? Werden uns „Big Data“ retten - oder eher gefährlich werden? Wer wird zukünftig, in den Zeiten von „alternative facts“ und „fake news“ noch sicher wissen, was richtig und was falsch ist? Und sage keiner, die Wissenschaft sei von solcher Ehrlosigkeit frei, vormals wegweisende Fakten in beliebige Fantasieauswüchse zu kompromittieren. Leider ist wissenschaftliche Ehrlosigkeit heute kein Einzelfall und es ist nötig, wissenschaftliche Zuschriften routinemäßig auf Plagiate, Täuschungen oder pure Fälschung zu überprüfen. Redakteure und Journalistinnen und die Verantwortlichen im wissenschaftlichen Publikationswesen haben hier eine Aufgabe.

Stéphane Hessel, der 2013 verstorbene und in Berlin geborene französische Diplomat, war nach dem zweiten Weltkrieg lebendiger Zeuge der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN. „Empört Euch!“ rief er uns in seinem 2010 veröffentlichten Essay zu, um uns zum Widerstand gegen moralischen Niedergang unter dem Deckmantel vermeintlichen Fortschritts aufzufordern. Ein „Wertedenker“ mit Beispielcharakter, der am 22. April wahrscheinlich beim „March for Science“ mitgehen würde. Auch der amerikanische Chemiker George M. Whitesides forderte in seinem 2015 in der Zeitschrift „Angewandte Chemie“ erschienen Aufsatz „Chemie neu erfinden“ zu fundamentalem Umdenken auf; und zwar in Industrie und an den Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen.

Aus Trennung muss Zusammenarbeit werden

Damit die Chemie ihren großen Aufgaben gerecht werden kann, muss die Trennung, die in unserem Land zwischen Wissenschaft und Wirtschaft herrscht, in eine Zusammenarbeit umgewandelt werden, die - vielleicht unter dem Motto „Wertedenken in der Chemie“ - chemisches Fachwissen und chemische Ethik in operative Maßnahmen umsetzt, die in eine gute Zukunft führen. Dabei sind alle Stärken der deutschen Chemie gefragt. Von den Akteuren in der chemischen Industrie, die gewohnt sind, globale Verantwortung in ihr Handeln einzubeziehen, können Hochschulchemiker viel lernen. Die chemische Industrie andererseits darf sich aber nicht von den Akteuren in der Wissenschaft verabschieden, die sich für Bildung und Ausbildung der nächsten ChemikerInnen-Generation engagieren. Die Gesellschaft schließlich muss erkennen, dass Chemie in Wissenschaft und Wirtschaft eine Grundlage gesellschaftlichen Wohlstandes ist.

Die Rolle der Chemie

Hat die GDCh mit alldem etwas zu tun? Und ob! Die GDCh ist eine Fachgesellschaft, die Chemie und ihrer Akteure in aller Breite in einer Verantwortungs- und Wertegemeinschaft zusammenbringt. Ich kann mir keine Vision der GDCh vorstellen, die weniger als Chemie in Wissenschaft und Wirtschaft umfasst. Und August Wilhelm von Hofmann, Präsident der Royal Society of Chemistry und der Deutschen Chemischen Gesellschaft, konnte es auch nicht. Nur gemeinsam können wir der Verantwortung, die Chemie heute trägt, gerecht werden. Im Jubiläumsjahr 2017 wird die GDCh zum Ausdruck bringen, dass sie mit Chemie in eine bessere Zukunft steuern will und zwar im Dialog mit Experten und der Zivilgesellschaft.

Das GDCh-Wissenschaftsforum Chemie (WiFo) in Berlin bringt zum Motto „Chemie bewegt“ fünf Nobelpreisträger auf die Bühne, in einem ganz neuen Format - „Experiment Zukunft – Wertedenken in der Chemie“ - diskutieren prominente Rednerpersönlichkeiten aus Industrie und Wissenschaft mit Zivilgesellschaft und Politik über die Rolle der Chemie im Kontext großer Zukunftsfragen, und ein Satellitensymposium „Das Undenkbare denken“ ist dem Thema der Exzellenzentwicklung gewidmet. Ich lade Sie ein, beim 150-Jahre-Jubiläum der deutschen Chemie mitzumachen, damit wir gemeinsam weiterdenken können!

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