Anlagenbau & Prozesstechnik

Deutscher Chemieanlagenbau boomt

22.11.2011 -

Deutscher Chemieanlagenbau boomt

Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau im VDMA (AGAB) haben im Zeitraum Juli 2006 bis Juni 2007 einen Auftragsrekord erzielt. Die Order lagen mit 31,3 Mrd. € um 19 % über dem bisherigen Höchstwert von 26,3 Mrd. € aus dem Jahr 2006 und um 78 % über dem Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre (1997 bis 2006: 17,6 Mrd. €). Auch im globalen Vergleich entwickelte sich der deutsche Großanlagenbau sehr erfolgreich. Die Branche konnte seit Anfang 2005 kontinuierlich Weltmarktanteile hinzugewinnen und gehört mit einer Quote von rund 20 % neben Unternehmen aus Westeuropa, den USA und Japan zur absoluten Weltspitze beim Bau industrieller Produktionsanlagen.

Im Berichtszeitraum war der Kraftwerksbau mit einem Anteil von 33 % an den Auftragseingängen das wichtigste Segment. Der Chemieanlagenbau lag mit einer Quote von 14 % auf Rang zwei. Von Juli 2006 bis Juni 2007 summierten sich die Buchungen auf 4,4 Mrd. €. Die Bestellungen lagen damit um 67 % über dem Vergleichswert des Vorjahres (2,7 Mrd. €). Dabei gingen allein im 1. Halbjahr 2007 mit 2,6 Mrd. € nahezu so viele Order in den deutschen Stammhäusern ein wie im Rekordjahr 2006.

Inlandsgeschäft leicht abgeschwächt

Nach Jahren der Investitionszurückhaltung hatte sich die Inlandsnachfrage nach Chemieanlagen in den Jahren 2005 und 2006 deutlich belebt. Diese Entwicklung setzte sich von Juli 2006 bis Juni 2007 nicht weiter fort. Die von den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft akquirierten Inlandsaufträge sanken leicht um 5 % auf 375 Mio. €. Ertüchtigungsvorhaben zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit bestehender Anlagen sowie vereinzelte Neubauprojekte in der Petrochemie waren die wesentlichen Auftragsschwerpunkte.

Der Höhepunkt des Biodieselbooms in Deutschland in Bezug auf den Anlagenbau ist mittlerweile überschritten. Angesichts bereits errichteter Kapazitäten, die eine jährliche Produktion von rund 4 Mio. t Biodiesel ermöglichen, gestiegener Steuern auf den alternativen Treibstoff sowie knapp werdender Anbauflächen für Raps ist im Inland lediglich mit vereinzelten Neubauten zu rechnen. Neue Anlagen zur Herstellung von Biodiesel und -ethanol werden mittelfristig vorwiegend in den USA, China und Brasilien entstehen.

Auslandsbestellungen boomen

Haupttreiber der Nachfrage nach Chemieanlagen war im Berichtszeitraum das Auslandsgeschäft. Die Exportquote erreichte einen Wert von 92 % und lag damit deutlich über dem Durchschnitt des gesamten Großanlagenbaus (79 %). Insgesamt stiegen die Auslandsorder auf den Rekordwert von 4,1 Mrd. €, das sind 78 % mehr als im Vergleichzeitraum des Vorjahres. Großaufträge kamen vor allem aus rohstoffreichen Regionen wie der Karibik, Nordafrika und dem Mittleren Osten.

Hier wurden im vergangenen Jahr umfangreiche Investitionen in Anlagen zur Veredelung von Erdgas und Erdöl getätigt. Darüber hinaus meldeten die AGAB-Firmen Aufträge auch aus Ländern mit einer traditionell starken chemischen Industrie bzw. mit hohen Verbrauchszuwächsen, wie etwa aus China, der Ukraine oder Polen.

Mittlerer Osten und Nordafrika: Wichtige Märkte für den Anlagenbau

Der Nahe und Mittlere Osten ist nach wie vor ein Schlüsselmarkt für den deutschen Chemieanlagenbau. Die Auftragseingänge stiegen im Berichtszeitraum deutlich von 354 Mio. € auf 896 Mio. €. Die bedeutendsten Käufer von Chemieanlagen aus Deutschland waren die Vereinigten Arabischen Emirate mit Auftragseingängen von 713 Mio. € und Saudi-Arabien mit 161 Mio. €. Mit Saudi-Arabien, dem Iran und Oman liegen drei der zehn bestellstärksten Kundenländer der vergangenen fünf Jahre in der Mittelostregion (s. Tab. 3).

Auch Länder Nordafrikas, darunter speziell Ägypten und Algerien, verfolgen das Ziel einer höheren lokalen Wertschöpfung, indem sie ihre Wirtschaftskraft durch Veredelung der lokalen Erdgas- und Erdölförderung zu hochwertigen Chemie- und Petrochemieprodukten stärken. So investiert die ägyptische Petrochemieindustrie bereits seit 2002 massiv in den Ausbau ihrer Kapazitäten.

Im Rahmen eines dreistufigen Masterplans sind von Regierungsseite bis 2022 Investitionen im Umfang von gut 10 Mrd. US-$ geplant. Experten gehen davon aus, dass dieses Volumen deutlich überschritten wird und erwarten Ausgaben von bis zu 20 Mrd. US-$. Der deutsche Chemieanlagenbau hat von diesen Vorhaben profitiert und im vergangenen Jahr Rekordbestellungen in Höhe von 1,2 Mrd. € (2006: 228 Mio. €) aus Ägypten akquirieren können.

Lateinamerika: Hohe Investitionen in Trinidad und Tobago

Im Zuge der wirtschaftlichen Erholung Lateinamerikas hat sich die dortige Investitionstätigkeit belebt, was sich positiv auf die Auftragssituation im Chemieanlagenbau ausgewirkt hat. Größtes Kundenland war im Berichtszeitraum Trinidad und Tobago. Die Bestellungen des Inselstaates in Höhe von 875 Mio. € sind überwiegend auf den Bau eines großen Petrochemiekomplexes zurückzuführen, in dem Ammoniak, Flüssigdünger und Melamin hergestellt werden können. Grundstoff für diese Produkte ist Erdgas, das vor der Küste Trinidad und Tobagos gefördert und in der Anlage weiterverarbeitet wird.

Mittelfristig ergeben sich auch in Mexiko und weiteren Staaten Mittelamerikas interessante Absatzchancen für den deutschen Chemieanlagenbau, da in diesen Ländern mehrere große Petrochemieprojekte sowie Raffinerieneubauten realisiert werden sollen. Darüber hinaus ist in Brasilien aufgrund des dortigen Biokraftstoff-Booms die Nachfrage nach entsprechenden Anlagen in den vergangenen Jahren stark angestiegen.

Wegen seines Ölreichtums ist auch Venezuela ein interessanter Markt für den Chemieanlagenbau. Derzeit belasten jedoch die verstärkte Staatskontrolle der Öl- und Energiewirtschaft den Rohstoffmarkt und damit das inländische Investitionsklima.

Asien: Großanlagenbau profitiert vom Ausbau der chemischen Industrie

Innerhalb Asiens ist China der wichtigste Absatzmarkt für den deutschen Großanlagenbau im Allgemeinen und für den Chemieanlagenbau im Besonderen. Im vergangenen Jahr gingen Aufträge für Chemieanlagen im Wert von 256 Mio. € (2006: 166 Mio. €) aus der Volksrepublik in Deutschland ein. Charakteristisch für das Chinageschäft sind die Forderung nach überdurchschnittlicher lokaler Wertschöpfung, ein außergewöhnlich harter Wettbewerb sowie der unbefriedigende Schutz geistiger Eigentumsrechte.

Mit der weiter wachsenden Binnennachfrage wird China auch zukünftig Investitionen in allen Bereichen der Chemie und insbesondere der Petrochemie anziehen. Auf Grund der großen Kohlevorkommen besteht beispielsweise starkes Interesse, diese als Grundstoff für die Chemikalienproduktion zu nutzen. Deutsche Unternehmen konnten hier bereits erste Aufträge platzieren.

Die Volkswirtschaften Südost- und Ostasiens wachsen dynamisch, was in zahlreichen Ländern der Region den Aufbzw. Ausbau chemischer Industrien begünstigt. Neben China sind derzeit vor allem Thailand und Südkorea wichtige Märkte für den deutschen Chemieanlagenbau. Während in Thailand der Aufbau einer lokalen Biodieselindustrie betrieben wird, erfordert der Ausbau der südkoreanischen Stahlindustrie massive Investitionen in die Kokereikapazitäten des Landes.

Osteuropa und GUS: hoher Zuwachs – Industrieländer schwach

Die Bestellungen deutscher Chemieanlagen aus Osteuropa und der GUS haben von Juli 2006 bis Juni 2007 einen Wert von 274 Mio. € erreicht. Der beachtliche Auftragseingang aus Polen von 142 Mio. € (2006: 137 Mio. €) ist dabei überwiegend auf Investitionen der Mineralöl verarbeitenden Industrie zurückzuführen und durch die EU-Osterweiterung im Jahr 2004 begünstigt worden. Aber auch das Wachstum der russischen und ukrainischen Wirtschaft, speziell des Chemiesektors, hat sich 2006/07 durch mehrere Großaufträge für Elektrolyse- und PVC-Anlagen in den Auftragsbüchern niedergeschlagen.

Aus Westeuropa und Nordamerika gingen im vergangenen Jahr keine nennenswerten Bestellungen ein. Angesichts ausgelasteter Produktionskapazitäten in der europäischen Chemieindustrie ist jedoch ab 2008 wieder mit steigenden Buchungen zu rechnen – auch für komplett neue Fabriken. Nordamerika bietet trotz einer derzeit schwachen Wirtschaftsdynamik in einigen Bereichen interessante Perspektiven für den Chemieanlagenbau.

So ist beispielsweise der US-amerikanische Markt für Anlagen zur Verflüssigung von Kohle zukünftig als stabil wachsend einzuschätzen, da die Vereinigten Staaten im Zuge ihrer Autarkiebestrebungen verstärkt in diesen Anlagentyp investieren werden. In Kanada erfordert der Ausbau der Ölsandförderung umfangreiche Investitionen in Großanlagen. Dabei eröffnen sich dem deutschen Chemieanlagenbau ebenfalls interessante Auftragsperspektiven.

Weiterhin wachsende Anlagenkapazitäten

In den vergangenen Jahren sind die kundenseitigen Ansprüche an Größe und Effizienz von Chemieanlagen stetig gewachsen. Die durchschnittlichen Ausbringungsmengen von Anlagen zur Herstellung von Massengütern wie Methanol und Ammoniak ist in der vergangenen Dekade um den Faktor Drei bis Sechs gestiegen (s. Tab. 4).

Zwar sind damit die Grenzen der verfahrenstechnischen Beherrschbarkeit der Stoff- und Energieflüsse noch nicht erreicht, jedoch werden Bau, Transport und anschließende Handhabung der immer größeren und schwereren Ausrüstungsteile zunehmend schwierig. Zudem bedeuten die wachsenden Kapazitäten für den Anlagenbau eine höhere Störanfälligkeit dieser Projekte und gleichzeitig eine Konzentration des finanziellen Risikos.

Der Trend zu sogenannten Megaanlagen für die Massengüterherstellung ist derzeit ungebrochen. Die rasant wachsende weltweite Nachfrage nach den auf diesen Anlagen hergestellten Basischemikalien verhindert das Entstehen globaler Überkapazitäten. Außerdem ermöglichen Großanlagen ihren Eigentümern aufgrund der relativ niedrigen Investitionskosten je Ausbringungseinheit eine deutliche Verbesserung der Ertragssituation.

Für den etablierten deutschen Chemieanlagenbau ist dieser Trend durchaus von Vorteil, da er eine Markteintrittsbarriere gegen Neueinsteiger darstellt. Anlagenbauer ohne entsprechende Referenzen für große Projekte scheiden aufgrund fehlenden Kundenvertrauenshäufig von Vornherein aus dem Bieterkreis aus.

Neue Einsatzstoffe in der chemischen Industrie

Über viele Jahrzehnte war Erdöl der dominierende Rohstoff in der chemischen Industrie. Steigende Ölpreise haben in den vergangenen Jahren jedoch die Suche nach Alternativen beschleunigt, wobei sich Erdgas, Kohle oder Biomasse als mögliche Substitute anbieten.

Kurzfristig wird neben Öl vor allem Erdgas eine bedeutende Rolle als Grundstoff in der chemischen Industrie spielen. In mittelfristiger Betrachtung sollte auch Kohle an Bedeutung gewinnen. In Ländern mit großen Kohlevorkommen wie z. B. China, den USA oder Australien werden schon heute Projekte zur Herstellung von Chemikalien oder Kraftstoffen direkt aus Kohle verfolgt oder sind zumindest in der Planung. Eine rasche Verbreitung kohlebasierter Verfahren wird allerdings durch hohe Investitionskosten sowie die Kohlendioxid-Problematik gebremst.

Bei anhaltend hohen Preisen für fossile Rohstoffe wird langfristig auch der Einsatz von Biomasse zunehmen. Nachwachsende Rohstoffe sollten in einem ersten Schritt für ausgewählte chemische Verbindungen mit verbesserten Konversionstechnologien wirtschaftlich attraktiv werden. Falls es zu einer weiteren signifikanten Verschiebung der Preisrelation der fossilen zu den nachwachsenden Rohstoffen kommen sollte, könnte deren Bedeutung auch für die Basischemikalien steigen.

Die AGAB-Firmen verfügen für alle genannten Einsatzstoffe über das notwendige Verfahrens-Know-how und werden somit vom zukünftigen Wachstum der chemischen Industrie profitieren – unabhängig davon, ob Öl, Gas, Kohle oder Biomasse die Basis der produzierten Güter bilden. Dabei setzen die Unternehmen der Arbeitsgemeinschaft Maßstäbe in der Energieeffizienz der Anlagen sowie im integrierten und nachsorgenden Umweltschutz. Sie leisten damit einen entscheidenden Beitrag zu einer möglichst umweltschonenden Industrialisierung in vielen Ländern der Welt.

Optimistischer Ausblick auf 2007 und 2008

Für 2007 rechnet die Branche mit hohen Auftragseingängen, die das gute Bestellniveau des Vorjahres (2,7 Mrd. €) deutlich übertreffen sollten. Angesichts der außergewöhnlich guten Branchenkonjunktur erscheint sogar das erstmalige Überschreiten der Vier- Milliarden-Euro-Marke als denkbar. Auch langfristig sind die Wachstumsaussichten für den Chemieanlagenbau hervorragend.

Gründe für diese positive Einschätzung sind der nach wie vor hohe Investitionsbedarf der rasant wachsenden Volkswirtschaften Chinas und Indiens, die anziehende europäische Chemiekonjunktur sowie die gut gefüllten Investitionsbudgets der Rohstoff besitzenden Länder am persischen Golf, in Nordafrika und in der GUS. Belastend könnten sich ein fortgesetzter Anstieg des Euro-Dollar-Kurses sowie politische Krisen in wichtigen Kundenländern des Mittleren Ostens auswirken.

Insgesamt überwiegen jedoch deutlich die positiven Aspekte. Die Branche erwartet daher 2008 eine Fortsetzung der insgesamt sehr erfreulichen Nachfrageentwicklung.