Logistik & Supply Chain

Die Produktbeobachtungspflicht des Chemiedistributeurs

Wenn fehlerfreie Produkte falsch verwendet werden...

28.06.2012 -

Der Skandal um gesundheitsgefährdende Brustimplantate zieht weite Kreise. Auch der deutsche Lieferant des insolventen Herstellers ist im Visier Geschädigter.

Der Vorwurf: Er habe Industrie-Silikon an ein Unternehmen geliefert, das Medizinprodukte herstellt. Die zweckentfremdete Verwendung des Silikons hätte sich aufdrängen müssen. Doch wie weit reicht die Haftung eines Distributeurs in der Chemie- und Pharmaindustrie für die falsche Verwendung eines fehlerfreien Produkts?

Für fehlerhafte Produkte haftet grundsätzlich der Hersteller. Nur in Ausnahmefällen kann den Vertriebshändler eine (Mit-)Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz treffen. Die Produkthaftung nach dem allgemeinen Deliktsrecht (§ 823 BGB) geht über das Produkthaftungsgesetz hinaus. Danach haftet im Schadenfall jeder, der an der Schaffung einer Gefahrenquelle beteiligt war, unabhängig davon, ob das Produkt fehlerhaft war oder nicht. Jeder, der mit dem Produkt auf dem Weg zum Verbraucher in Berührung kommt, ist verpflichtet, den Verbraucher vor Produktgefahren aus seinem Verantwortungsbereich zu schützen (sog. Verkehrssicherungspflichten).

Im Rahmen seines Verantwortungsbereiches muss der Vertriebshändler Sicherungsmaßnahmen nach den Produktschutzgesetzen ergreifen, die Warenbeschaffenheit prüfen und den Abnehmer angemessen beraten. Verkauft der Händler beispielsweise Chemikalien mit falscher Kennzeichnung, haftet er für Schäden, die infolgedessen bei der Verwendung entstehen. Er haftet ebenfalls, wenn er offensichtlich fehlerhafte oder untaugliche Produkte liefert.

Pflichten enden nicht mit der Lieferung

Die Sicherungspflichten des Vertriebshändlers enden nicht mit dem Inverkehrbringen des Produktes. Nach dem Inverkehrbringen bestehen sog. Produktbeobachtungspflichten. Sie sollen gewährleisten, dass auf potentielle oder akute Gefahren eines Produkts mit Sicherheitsmaßnahmen reagiert werden kann.

Welche Produktbeobachtungspflichten ein Vertriebshändler zu erfüllen hat, ist von seiner Nähe zum Produkt im Einzelfall abhängig. Die Beobachtungspflichten steigen je nachdem, ob er einfacher Händler, ausschließlicher Vertragshändler oder an der Produktherstellung beteiligt ist.
Dem einfachen Vertriebshändler obliegt nur eine passive Produktbeobachtungspflicht. Er kann grundsätzlich auf die Fehlerfreiheit des Produkts und seine ordnungsgemäße Anwendung vertrauen. Er muss lediglich Schadenmeldungen sammeln und an den Hersteller weiterleiten. Ein Vertragshändler ist darüber hinaus z. B. verpflichtet, den Hersteller gegebenenfalls bei Warnungen an Abnehmer oder bei der Organisation eines Rückrufs zu unterstützen.

Hat der Vertriebshändler eine Monopolstellung inne, können darüber hinaus aktive Produktbeobachtungspflichten entstehen. Er hat dann den Markt präventiv zu beobachten und zu analysieren, wie sich die von ihm gehandelten Produkte bewähren. Erkennt er mögliche Gefahren, muss er reagieren und z. B. die Instruktionen für das Produkt anpassen. Auch ein Vertriebshändler, der beispielsweise durch Mischungen zugleich (Teil-)Hersteller ist, muss das Produkt aktiv beobachten. Wird die Produktbeobachtungspflicht schuldhaft verletzt, haftet der Vertriebshändler für daraus resultierende Schäden unabhängig davon, ob ein tatsächlicher Produktfehler vorliegt.

Den genauen Umfang der Produktbeobachtungspflicht schreibt das Gesetz für bestimmte Produkte vor (z. B. Arzneimittelgesetz, Medizinproduktegesetz). Er ist zudem abhängig von der wirtschaftlichen Zumutbarkeit von Beobachtungsmaßnahmen, von der Gefährlichkeit des Produkts und dem Preis. Bei lange bewährten Massenprodukten ist keine strenge Beobachtung nötig. Die Beobachtungspflicht wird intensiver bei hochwertigen Produkten, Neuprodukten oder Produkten mit hohem Schädigungspotential.

Im Zweifelsfall korrekte Verwendung prüfen

Zur Produktbeobachtungspflicht gehört in bestimmten Fällen auch die Pflicht des Vertriebshändlers zu prüfen, wie von ihm gelieferte Produkte verwendet werden.

Der einfache Vertriebshändler eines alltäglichen Produkts muss grundsätzlich weder prüfen noch sich danach erkundigen, wie der Abnehmer das gelieferte Produkt verwenden will. Er kann sich darauf beschränken, den Kunden auf die Herstellerangaben über Anwendungsbereiche und Produkteigenschaften hinzuweisen.

Wenn das Produkt bei einer Fehlanwendung erhebliches Schädigungspotential hat oder der Händler Anhaltspunkte für eine fehlerhafte, zweckentfremdete oder missbräuchliche Verwendung seines Produkts hat, muss er jedoch reagieren. Das kann z.B. der Fall sein, wenn der Kunde in einer untypischen Abnehmerbranche tätig ist oder bei anderen Abnehmern zweckentfremdete Verwendungen bekannt wurden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Vertriebshändler bei untypischen Abnehmerbranchen oder möglichen Fehlanwendungen Lieferbeziehungen erst gar nicht aufnehmen darf oder sofort abbrechen muss.

Stattdessen sollte er sich zunächst beim Abnehmer über die Verwendungsabsichten erkundigen. Um Haftungsrisiken vorzubeugen, kann er die beabsichtige Verwendung ausdrücklich in den Lieferverträgen fixieren. Darüber hinaus sollte er sich in regelmäßigen Abständen bei seinem Vertragspartner über mögliche Änderungen der Verwendung informieren. Im Zweifelsfall muss der Vertriebshändler einen untypischen Abnehmer zum Nachweis über die Verwendung auffordern. Es ist ratsam, all diese Maßnahmen zu dokumentieren, um die Erfüllung der Produktbeobachtungspflicht im Schadenfall nachweisen zu können.

Erst wenn darüber hinaus ernsthafte Zweifel an der Seriosität des Vertragspartners bzw. der Richtigkeit von Verwendungsangaben entstehen oder konkrete missbräuchliche Verwendungen offenbar werden, muss der Vertriebshändler weitere Schritte unternehmen. In einem solchen Fall kann er sich nicht auf Warnhinweise beschränken. Je nach Lage muss er die Produktverwendung vor Ort prüfen, zuständige Behörden über zweckentfremdete oder missbräuchliche Verwendungen informieren oder die Belieferung gänzlich einstellen.

Produkthaftungsrisiken versichern

Haftungsrisiken können in der Chemie- und Pharmaindustrie existenzbedrohende Folgen für die Unternehmen haben. Neben den aufgezeigten Produktbeobachtungsmaßnahmen können Vertriebshändler Haftungsrisiken über den Einkauf auf sie abgestimmter Versicherungen minimieren.
Das Produkthaftungsrisiko ist (nur) teilweise von der Betriebshaftpflichtversicherung gedeckt. Die konventionelle Betriebshaftpflicht deckt beispielsweise keine Schäden, die nach dem Inverkehrbringen eines Produktes bei Abnehmern oder Verbrauchern entstehen.

Daher sollte der Vertriebshändler zur Ergänzung eine Produkthaftpflichtversicherung nach dem Produkthaftpflicht-Modell abschließen. Das Produkthaftpflicht-Modell schließt (fakultativ) zusätzliche Haftpflichtrisiken in den Versicherungsschutz ein (z.B. Schäden nach dem Abschluss von Arbeiten oder Leistungen, Schäden aus Falschberatung im Vertrieb, Verbindungs-, Vermischungs- und Verarbeitungsschäden in mehrstufigen Verarbeitungsprozessen, entgangener Gewinn, Auslandsschäden). Es enthält darüber hinaus verschiedene Ausschlüsse aus dem Versicherungsschutz, die beachtet werden sollten (Gewährleistungsrisiken, Schäden aufgrund nicht ausreichend erprobter Produkte). Der Vertriebshändler sollte zusätzlich den Abschluss einer Rückrufkostenversicherung erwägen. Ein Rückruf kann im Einzelfall erhebliche Kosten verursachen, die vom Produkthaftpflicht-Modell nicht gedeckt sind.

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