Strategie & Management

Kultiviertes Fleisch: Nachhaltigkeit ganzheitlich denken und umsetzen

Der Sustainable Business Value

07.12.2022 - Sustainable Business Value berücksichtigt Input und Output eines Produkts oder einer Dienstleistung, um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu berechnen.

Das Bewusstsein für mehr Nachhaltigkeit nimmt weiter Fahrt auf – gut so, denn das Thema geht uns alle an. Insbesondere die Nachhaltigkeitsbestrebungen von Unternehmen spielen spürbar für Konsumierende, Mitarbeitende, Investoren, Regierungen und andere Interessengruppen eine immer wichtigere Rolle. Nachhaltiges Handeln ist für den zukünftigen Geschäftserfolg eines Unternehmens unabdingbar und wird z. B. durch den EU Green Deal stark gefordert. Daraus resultieren große Chance für Unternehmen, indem Märkte für saubere und gesunde Technologien und Produkte geschaffen werden.

Auch bei Merck ist Nachhaltigkeit keine Option. Als globales Wissenschafts- und Technologieunternehmen ist Nachhaltigkeit ein essenzieller Bestandteil der Unternehmensstrategie. Ziel ist es, ökologische, soziale und geschäftliche Aspekte in Einklang zu bringen, um wirtschaftlich erfolgreich sein und durch Geschäftstätigkeit einen positiven Wertbeitrag für die Gesellschaft zu schaffen. Das Bestreben von Merck ist es, gesellschaftliche Folgekosten zu vermeiden.

Sustainable Business Value ermittelt Auswirkungen von Produkten auf die Gesellschaft

Um den Wertbeitrag zur Nachhaltigkeit zu ermitteln, wurde der Sustainable Business Value (SBV) entwickelt. Dieser Business-Value-Ansatz wurde zusammen mit der Boston Consulting Group auf Basis deren Total-Societal-­Impact-Konzepts (TSI) entwickelt. Die SBV-Methode ermöglicht es, die Auswirkungen von Produkten einheitlich zu bestimmen. Mit ihr werden sowohl positive als auch negative Auswirkungen der Aktivitäten errechnet.

Im Mittelpunkt solch einer Berechnung stehen drei Dimensionen (Umweltaspekte, Kundennutzen und der sozio-ökonomische Wert). Die Umweltdimension umfasst alle Emissionen, Ressourcen, Wassernutzung sowie die Auswirkungen von Abfall über verschiedene Recyclingwege.Während der Produktion von Gütern entstehen mögliche negative Auswirkungen auf die Umwelt, die durch Energie- und Ressourcen­effizienz kompensiert werden können. Die Dimension des Kundennutzens quantifiziert die (in der Regel positiven) Auswirkungen von Produkten auf Endverbraucher, wie z. B. mehr Gesundheit oder Sicherheit. Die sozio-ökonomische Dimension umfasst den Wert, der durch die eigene Beschäftigung im Unternehmen sowie durch die Zusammenarbeit und Beauftragung von Lieferanten für die Gesellschaft geschaffen wird. Dieser Wert beziffert sowohl den individuellen (via Netto-Einkommen) sowie gesellschaftlichen Wohlstand (via Steuern).

Der SBV fördert eine Bewertung, die sich vor allem aus der Betrachtung von Nutzen und Schaden für die Gesellschaft, die Kunden und die Umwelt ergibt. Dabei wird die komplette Wertschöpfungskette einschließlich ihrer Lieferanten und Konsumenten berücksichtigt. Die aus den errechneten Daten gewonnenen Erkenntnisse helfen uns, unsere Geschäfte nachhaltig und zukunftsfähig auszurichten (Grafik 1).

Nachhaltig ernähren – Entwicklung von kultiviertem Fleisch und Fisch

Ein Beispiel: Der Bedarf an Fleisch wächst mit der steigenden Weltbevölkerung. Dennoch stellt die damit verbundene Fleischproduktion eines der größten Probleme für eine nachhaltige und klimafreundliche Welternährung dar. So wird der Zucht von Nutztieren in nicht unerheblichem Anteil der von Menschen verursachten Treibhausgas-Emissionen zugeschrieben (ca. 14 %, The Food and Agriculture Organization of the United Nations). Das ist sogar noch etwas mehr, als auf den gesamten weltweiten Verkehrssektor entfällt. Es ist also höchste Zeit, über alternative Nahrungserzeugung nachzudenken.

 

Fleischproduktion stellt eines der größten Probleme
für eine nachhaltige und klimafreundliche Welternährung dar.



Neben veganen Produkten ist Cultured Meat oder kultiviertes Fleisch eine echte Alternative. Fleisch, kultiviert in Labor und Bioreaktor, ohne dafür Tiere halten und schlachten zu müssen: Mittels Biopsie werden aus dem Muskelgewebe von Tieren Stammzellen entnommen, die sich dann in Zellkultur immer wieder teilen und vermehren. Im nächsten Schritt differenzieren sie sich zu den gewünschten Muskel-, Fett- oder sonstigen Zellen. Über verschiedenste Technologien kann der entstandenen Biomasse eine feste Struktur gegeben werden, um so ein Steak, Fischfilet oder Ähnliches zu erhalten.

Vor wenigen Jahren war das noch eine ferne Utopie. Mit den ersten Produkten, die in Singapur bereits kommerziell verfügbar sind, wird das Ziel real. In 2030 – sagen Studien voraus – entfallen dann 10 % des Gesamtfleischmarktes auf Kulturfleisch, mit beeindruckenden Wachstumsraten von ca. jährlichen 40 % ab 2025 (AT Kearney). So wird der Clean-Meat-Burger bald eine Selbstverständlichkeit sein. Der Beitrag von Merck ist nicht der des kultivierten Fleisches produzierenden und an Konsumenten verkaufenden Players. Unser Fokus liegt in der Bereitstellung innovativer Technologien und Lösungen, die die skalierbare, ökonomische und sichere Produktion von kultiviertem Fleisch ermöglichen werden. Ein wichtiges Beispiel ist die Entwicklung nachhaltiger und effizienter Zellkulturmedien nichttierischen Ursprungs. Dies geht einher mit unserem Anspruch, Nachhaltigkeit noch stärker in unsere Geschäftsaktivitäten zu integrieren.

Deswegen haben wir unsere Cultured-Meat-Aktivitäten und ihre Auswirkungen mit der SBV-Methode überprüft. Auszüge davon und insbesondere die Auswirkungen auf Umwelt und Konsumenten werden im Folgenden beschrieben. Als Szenario wurde das Jahr 2030 angenommen, in dem bereits ein signifikanter Kulturfleisch-Markt, den wir mit Zellkulturen beliefern, etabliert ist.

Beim Umweltaspekt wurde besonders das Thema Treibhausgase berücksichtigt. Dabei wurden zum einen die eigenen Verbräuche als auch auf Basis von Life-Cycle-Assessment-Studien (CE Delft) die Gesamtverbräuche entlang der kompletten Wertschöpfungskette analysiert. Es ist ermutigend und beeindruckend zugleich, wie sich beim Umstieg auf den biotechnologischen Prozess die Generierung von Treibhausgasen reduzieren lässt. Dabei lässt sich vor allem Rindfleisch auf etwa 90 % seiner Greenhouse Gases (GHGs) reduzieren. Unter zusätzlicher Berücksichtigung von standardisierten Werten für z. B. definierte Schadenskosten von 1 t eines CO2 äquivalenten Gases (Annahme 1 t CO2eq entspricht 180 EUR, Bundesumweltamt) lassen sich daraus gesellschaftliche Folgekosten als monetäre Werte berechnen. Ähnliches lässt sich für Wasser und weitere Abfälle tun. Dabei haben wir sowohl die gesamte Wertschöpfungskette als auch den Teilbeitrag von Merck bestimmt. Eine Zusammenfassung über erhebliche Einsparpotenziale zeigt Grafik 2.

Den Produkt- oder Konsumentennutzen haben wir ebenfalls im Vergleich zum konventionellen Fleisch untersucht. Grundsätzlich trägt Fleisch dazu bei, den Protein- und Eisenbedarf von Menschen zu decken. Aber es lauern vielfältige Gefahren: Der zunehmende Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung führt zu Resistenzen, die dann auch bei Menschen befürchtet werden. Dieser Effekt ist allerdings noch schwer quantifizierbar. Quantifizierbar sind dagegen Zoonosen; das sind Infektionen, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden.

Zu ihrer Gruppe gehören die prominesten Verursacher, nämlich Salmonellen und Campylobacter-Bakterien, die sich eindeutig dem Verzehr von Fleisch zuzuordnen lassen. Wir haben uns deshalb auf diese häufigsten Infektionen beschränkt. Auch unter Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer haben wir Infektionszahlen aus den westlichen Industrieländern ermittelt: Es wird geschätzt, dass im Jahr 2030 in den USA und der EU etwa 12 Mio. Menschen bedingt durch Fleischkonsum an Campylobacter oder Salmonellen erkranken werden. Das ließe sich durch den sterilen biotechnologischen Prozess der Herstellung von kultiviertem Fleisch eindeutig vermeiden. Der Umstieg von konventionellem zu kultiviertem Fleisch bietet erkennbar Vorteile. Berücksichtigt man eine Umsteigerrate, die Merck auch durch seinen Marktanteil beeinflussen kann, so könnten 2030 fast 250.000 Verbraucher in den westlichen Industrieländern nicht mehr von Campylobacter oder Salmonellen betroffen sein. Geht man davon aus, dass mit solchen Infektionen üblicherweise gemittelt knapp fünf Krankheitstage einhergehen, so führt der Konsumwechsel zu einer gesünderen und somit produktiveren Bevölkerung. Dieser wirkt sich positiv auf das Bruttosozialprodukt pro Kopf aus.

Mit Kulturfleisch eine nachhaltige Lebensmittelzukunft schaffen

Mit der SBV-Methode können wir quantitativ beschreiben, dass kultiviertes Fleisch weniger Gesundheitsrisiken als konventionelles Fleisch birgt. Außerdem lässt sich die globale Erwärmung und zusätzlich auch der Landverbrauch erheblich reduzieren. Bei der konventionellen Fleischproduktion fallen außerdem erhebliche Mengen an Abfällen an, die entsorgt werden müssen. Perspektivisch lässt sich kultiviertes Fleisch mit besonderem zugeschnittenen Nährwertprofil herstellen, bspw. durch die Zugabe gesünderer Fette wie Omega-3-Fettsäuren, Vitaminen oder anderen Nährstoffen.

Berechnungen der Auswirkungen gewinnen an Bedeutung – erfordern aber Standardisierung

Mit der Implementierung der datenbasierten SBV-Methode steht Merck am Anfang. Der SBV gibt besonders Aufschluss darüber, wie gut die Produkte eines Unternehmens gesellschaftliche Bedürfnisse ansprechen und damit ihrem Zweck gerecht werden. Deswegen wollen wir diese neue Perspektive zukünftig in Business-Entscheidungen und -Ausrichtungen miteinbeziehen. Wichtig sind diese Argumente auch für die Aufrechterhaltung der „Social License to Operate“. Darüber hinaus ist insbesondere der internationale Finanzmarkt ein Treiber von Impact Measurement. So wollen nachhaltigkeitsorientierte Investoren einschätzen können, zu welchen positiven und negativen Auswirkungen Unternehmen mit ihren (zukünftigen) Aktivitäten beitragen. Mittelfristig werden hier einheitliche, standardisierte Lösungen notwendig. Der „Sustainable Business Value“ bietet sich dafür an.

Autoren: Thomas Eberle, Head of Strategic Projects Sustainability, Frederic Berkermann, Head of Commercial des Cultured Meat Programms, Merck KGaA, Darmstadt

ZUR PERSON

Thomas Eberle ist Head of Educational Partnerships and Strategic Projects Sustainability und damit verantwortlich für das Sustainable Business Value-Tool bei Merck. Als promovierter Chemiker kam er 1999 zum Unternehmen und war seitdem vor allem in Positionen in Forschung und Entwicklung sowie Business Development tätig, u. a. als Head of Nanomaterials, als Head of Global R&D Quantum Materials Chemistry and als Director R&D OLED Chemistry.

ZUR PERSON

Frederic Berkermann ist seit 2022 Head of Commercial des Cultured Meat Programms bei Merck, verantwortlich für die Geschäftsentwicklung dieses Zukunftsthemas. Der promovierte Chemiker begann seine Karriere 2011 im Inhouse Consulting bei Merck und hatte seitdem Managementpositionen in unterschiedlichen Marketing & Sales Bereichen inne. Als Co-Founder hat er Innovationsprojekte geleitet und deren Produkte zur Marktreife gebracht.

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